Kriegsklage im Sonett
Andreas Gryphius’ „Thränen des Vaterlandes / Anno 1636“
Von Thomas Borgstedt
1. Zur Deutungsgeschichte und ‚Ästhetizität’ eines berühmten Gedichts
WIr sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.[1]
Das Sonett Thränen des Vaterlandes / Anno 1636 ist heute das wahrscheinlich berühmteste deutsche Gedicht des 17. Jahrhunderts. Es ist fester Bestandteil des schulischen und universitären Kanons und das war es vor 1989 auch in der alten DDR. Man kann sich fragen, ob es inzwischen nicht sogar die Balladen Schillers an Prominenz übertrifft. Diese Prominenz hat auch damit zu tun, dass die Schilderungen des Dreißigjährigen Kriegs in Deutschland angesichts der Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts zu einem Wiedererkennen geführt haben, das den Text neu zum Sprechen brachte. Man kann Gryphius’ Trawrklage[2] heute nicht mehr lesen, ohne auch an die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs erinnert zu werden.
Diese Assoziation hat sich bereits bei den Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts eingestellt. So bezieht der deutsche Exilschriftsteller und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher die Gryphius-Vorlage schon zwei Jahre vor dem Krieg in einem Doppelsonett mit dem Titel Tränen des Vaterlandes Anno 1937 auf die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Im Jahr 1942 – kurz vor dem Wendepunkt des Kriegs im Osten – feiert der schlesische Germanist Herbert Cysarz das Gedicht von Gryphius als „eines der männlichsten Gedichte des 17. Jahrhunderts“.[3] Viel ist dabei vom „Schicksal“ die Rede. Unmittelbar spürt man, wie die von Gryphius geschilderten Kriegsgräuel schon hier mit der gegenwärtigen Kriegswirklichkeit assoziiert werden: „Tief und schwer geht der Atem des blutenden Deutschland,“[4] heißt es da in schwer erträglichem Pathos. Der Interpret hebt dabei vor allem die Standfestigkeit hervor: „ohne die leiseste Schwankung des lauteren Mannescharakters“.[5] Er versteht das Gedicht nicht als Antikriegs-, sondern als kämpferisches Durchhaltesonett.
Auch nach dem Krieg bleibt das Gedicht aktuell. Wenig verwunderlich wird nun – im Geist der Verdrängung der 50er-Jahre – zunehmend die religiöse Dimension des Sonetts hervorgehoben. Eine äußerst wirkungsvolle Deutung des Texts verfasst der Goethe-Herausgeber Erich Trunz bereits 1949, vier Jahre nach Kriegsende. Betont wird jetzt die endzeitlich-apokalyptische Bildlichkeit und die innere Freiheit des Christenmenschen.[6] So kann der Text als eine Art Gedicht der inneren Emigration erscheinen. Demgegenüber hebt der polnische Gryphius-Forscher Marian Szyrocki zehn Jahre später im Sinne der sozialistischen Realismusforderung den Wirklichkeitsgehalt des Gryphius-Gedichts hervor. Von einem „schauererregend realistischen Bild des Kriegsmordens“ ist hier die Rede.[7]
Gegen die derart identifikatorischen, auf den autobiographischen und realistischen Gehalt bezogenen und weltanschaulich geprägten Deutungen frühneuzeitlicher Texte richtete sich spätestens seit den 1960er-Jahren eine modernisierte, auf Verwissenschaftlichung und Historisierung abzielende germanistische Barockforschung. Bis heute wird dabei vor allem die rhetorische und regelgeleitete Gestaltung und die exemplarische Bedeutsamkeit ins Feld geführt. So argumentiert Wolfram Mauser 1976, das Gedicht sei „weit davon entfernt, das historische Ereignis in seiner Besonderheit festzuhalten“, vielmehr interessiere „der Krieg als Beispiel irdischer Geißel.“ Es gehe „um das Allgemeine und Grundsätzliche,“[8] um „das Gesamtschicksal des Menschen.“[9]
Eine solch ausschließlich rhetorische und traditionsgeschichtliche Fokussierung der barocken Dichtung tendiert dazu, ihren lebensweltlichen und existentiellen Hintergrund auszublenden. Sie übertreibt es mit der historischen Distanzierung und lässt das Gedicht nur noch als akademischen Gegenstand erscheinen.[10] Jüngere Deutungen des Texts versuchen deshalb inzwischen, neue Aussagen zu seiner spezifischen Ästhetizität zu machen. So will Theodor Verweyen die Pointe des Sonetts als eine poetische „Unbestimmtheitsstelle“ im Sinne der Rezeptionsästhetik von Wolfgang Iser und Rainer Warning verstehen.[11] Auf andere Weise erwägt Jürgen Landwehr die Anwendung des Begriffs des „Erhabenen“, um den ästhetisch-imaginären Aspekt des Gedichts zu erfassen.[12] Und in einer ausführlichen und komplexen Lektüre versucht Nicola Kaminski, eine „radikale Polyphonisierung“ und „polyperspektivische[] Dissoziation“ des lyrischen Ich plausibel zu machen.[13] Diese Ansätze deuten auf ein Erklärungsdefizit hinsichtlich der ästhetischen Dimension solcher Texte hin. Problematisch erscheint es allerdings, dass dabei auf Kategorien einer modernen nachromantischen Ästhetik zurückgegriffen wird, die im 17. Jahrhundert keine Rolle spielen konnten. Gibt es einen Ausweg zwischen den rhetorisch-traditionsgeschichtlichen Depotenzierungen und den ästhetisch-modernen Überzeichnungen eines derartigen frühneuzeitlichen Gedichts? Es gilt, ästhetische Qualität auf der Basis einer rhetorischen und imitatorischen Poetik zu beschreiben, ohne unpassende Anleihen bei auf die Moderne zugeschnittenen ästhetischen Konzepten zu machen.
2. Rhythmus und Emphase: zum ‚barocken Stil’ in der Lyrik
„WIr sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!“ Das Gedicht beginnt ganz unscheinbar, beinahe alltagssprachlich. Erst das Reimwort „verheeret“ benennt ein erhebliches Ausmaß der Zerstörung, und es benennt als wörtlich zu nehmende Metapher sogleich die Ursache des Kriegs: die Gewalt der Kriegsheere. Sehr typisch für Gryphius ist der lebendige Auftakt, der mit dem „Wir sind doch“ eine unmittelbare Einbeziehung des Lesers bewirkt. Verweyen hat darauf hingewiesen, dass als Sprecherinstanz des Gedichts hier das „Vaterland“ als Personifikation auftrete, dass es sich also um ein „Rollengedicht“ handele.[14] Trunz hatte noch gemeint, „der Dichter selbst“ stehe hier mitten im Kriegsgeschehen.[15] Kaminski sieht sogar „zwei einander ausschließende Autorschaftsansprüche“ formuliert.[16] Während Letzteres den Text überstrapaziert, unterschlägt die Vorstellung eines rhetorischen Rollen-Deutschlands die Wirkung, durch die sich mit dem „Wir“ der Leser unmittelbar angesprochen und einbezogen fühlt. Die „Personifikation“ des „verwüsteten Deutschlandes“ oder des „Vaterlandes“ steht als solche nur im Gedichttitel. Man kann sie als rhetorische Figur lesen. Das impliziert aber nicht, dass der Gedichttext selbst nicht aus einem kollektiven „Wir“ heraus gesprochen sein kann. In der unmittelbaren Ansprache dieses „Wir“ besteht hier aber gerade die Kraft der rhetorischen Rede.
Der erste Satz des Gedichts ist sprachlich schlicht und zugleich hyperbolisch. Der Sprecher unterbricht sich dabei selbst, um die eigene Aussage zu steigern: „ganz / ja mehr denn ganz“. Dies verleiht der Rede einen spontanen alltagssprachlichen Charakter und produziert rhetorisch eine Epipher. Die Steigerung des „ganz verheeret“[17] kündigt dabei bereits die Überbietungsfigur am Sonettschluss an, wo von noch Schlimmerem als dem Tod die Rede sein wird.[18] Die Selbstunterbrechung der Rede bewirkt aber auch, dass der Satz „Wir sind doch nunmehr ganz verheeret“ in das Metrum des deutschen Alexandriners eingepasst werden kann. Der Satz wird auf sechs Hebungen verlängert und die Unterbrechung mit der Interjektion „ja“ besetzt exakt die Mittelzäsur. Insofern fügt er sich nun unmittelbar in den Vers ein und macht ihn rhythmisch eingängig.
Diese rhythmische Eingängigkeit verweist auf ein typisches Merkmal des barocken Stils in Deutschland. Der verstorbene Romanist Ulrich Schulz-Buschhaus spricht bezogen darauf von einer Betonung der „Geometrie“ der Verse. Gemeint ist, dass die Perioden dabei möglichst genau mit der Ordnung der Verse übereinstimmen. Das Lesen wird so erleichtert und der streng symmetrische Bau des Alexandriners wird unterstrichen.
Eine solche stilistische Tendenz widerspricht deutlich dem klassizistischen Ideal der noblen sprezzatura in der italienischen Renaissance, das eine allzu offensichtliche rhetorische Versordnung gerade zu vermeiden suchte. Im hohen Stil der Renaissance – etwa bei Giovanni della Casa – wurde stattdessen gerade umgekehrt eine Erschwerung der Lektüre angestrebt, indem man mit Enjambements und gegenläufigen Vers- und Periodenführungen eine Komplizierung und Brechung des Rhythmus bezweckte.[19]
Schulz-Buschhaus hat diese Beobachtungen an Sonetten von Martin Opitz gemacht. Sie treffen auf die Verssprache von Andreas Gryphius noch in verstärktem Maße zu. So bestehen die Quartette des vorliegenden Sonetts größtenteils aus analog gebauten, parataktisch gereihten Nominalphrasen, die die Halbverse der Alexandriner ausfüllen. Sie beschleunigen den Sprechrhythmus und erzeugen eine hohe Eindringlichkeit:
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
In Anlehnung an Stilfiguren des lateinischen Manierismus bezeichnete Karl Otto Conrady solche Reihungen als „insistierende Nennung“.[20] Es fällt auf, dass die verwendeten Epitheta – frech, rasend, fett, donnernd – allesamt eine hohe Intensität beschreiben und zusätzliche rhetorische Lautstärke erzeugen. Es sind Mittel eines emphatischen Pathos. Als Dichter des Pathos galt Andreas Gryphius schon seinem eigenen Jahrhundert.[21] Alle verwendeten Merkmale – der erhöhte Rhythmus, die merkliche Geometrie, das emphatische Vokabular – dienen der Intensivierung der Wirkung. Diese steht hinter der barocken Stilbewegung insgesamt. Das Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzungen führt zu einer Entwertung klassischer Schönheitsideale und stellt den didaktischen Wirkungsaspekt ins Zentrum der Poetik. Dafür ist sowohl der visuelle Prunk des Jesuitenstils im Kirchenbau charakteristisch als auch die durchgängige Rhetorisierung der barocken Dichtung.
Im Fall von Gryphius kommt etwas Wesentliches hinzu. Seine Sprache ist vom lutherischen Predigtton durchdrungen. Bereits Paul Böckmann hat auf treffende Weise festgestellt, dass für Gryphius die Verbindung des humanistischen Formbewusstseins – also der Vorgaben von Martin Opitz – und der biblisch-lutherischen Predigttradition charakteristisch sei. Gryphius führt auf seine Weise das Erbe seines Vaters und seines Bruders fort, die beide als wortgewaltige Prediger galten, nur dass Andreas Gryphius das Predigen ins Feld der humanistischen Poesie verlegt. Von hier bezieht er die Gewalt seiner Sprache, mit der er die durchrhythmisierten, geometrisch eingängigen Verse füllt. Das Pathos und der Ernst seiner Gegenstände bewahren ihn dabei davor, in den Verdacht eines bloß spielerischen Manierismus zu geraten. Die Wucht seines Vokabulars – seine sprichwörtlichen ‚Zentnerworte’ – bilden das wirksame Gegengewicht zur Schlichtheit und Eingängigkeit der Verse.
Dennoch sind diese Verse nicht monoton. Trotz der intensiven Folge der rhythmisierten Nominalphrasen in den Quartetten entfaltet Gryphius in seinem Sonett eine differenzierte Abfolge von Tempowechseln, die eine kunstvolle Dynamik erzeugen. So folgt auf die schnell rhythmisierten Verse 2 und 3 eine längere Periode, die über die Mittelzäsur hinwegführt und trotz ihres aufzählenden Charakters eine Beruhigung bewirkt: „Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.“ Noch weiter wird die Schlussperiode im zweiten Quartett gespannt: „und wo wir hin nur schaun │Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.“ Die Verlangsamung im Rhythmus durch verstärkt hypotaktischen Satzbau mit leichtem Enjambement setzt sich in den Terzetten fort. Im Schlussterzett führt die Periode dann über drei ganze Verse hinweg, verlangsamt sich, beruhigt sich und bewirkt so eine stilistische Anhebung, die der sprachlich schlichten Aussage des Schlussverses nun allein durch ihre Sprachdynamik Gewicht verleiht. Der Dichter des Pathos ist auch ein Meister der sprachlichen Musikalität.
3. Kunstvolle Kriegsklage: Sammlungsstruktur und Imitatorik
Es fällt auf, dass das dieses Kriegsgedicht im Rahmen der Sonettdichtung von Gryphius einen Ausnahmefall bildet: Seine Sonettbücher versammeln in einer heilsgeschichtlichen Rahmenstruktur geistliche, christologische und Vanitas-Gedichte neben Gelegenheitsgedichten und einigen satirischen Beispielen. Sie enthalten jedoch sonst eigentlich keine politisch-zeitbezogenen Texte wie die Thränen des Vaterlandes und insbesondere keine von derart zeitgeschichtlich-politischer Brisanz.[22]
Dieses thematisch derart aus dem Rahmen fallende Sonett über den Krieg findet sich nicht, wie man vielleicht erwarten würde, unter den Vanitasgedichten.[23] Es steht vielmehr sehr viel weiter hinten bei den satirischen Texten, zwischen der Verspottung einer erotischen Verführerin und eines überstürzt Heiratenden.[24] Im Vergleich dazu haben sogar die beiden Sonette mit dem Titel Thränen in schwerer Kranckheit einen viel prominenteren Platz. Eines steht als neuntes Sonett zwischen den Vanitastexten, das andere am Schluss der Sammlung als Nr. 45 zwischen Gedichten der meditatio mortis und damit in einem wiederum verstärkt geistlichen Kontext.[25]
Der Rang des Gedichts war also für Gryphius vermutlich geringer als in unserer späteren Wahrnehmung. Man kann aus der Anordnung aber auch den Schluss ziehen, dass die Thränen des Vaterlandes mit den satirischen Gedichten als eher weltlich-kritisches und weniger als geistlich-transzendentes Motiv aufgefasst wurden. Das wiederum kann als ein wichtiger Hinweis für sein Verständnis gewertet werden.
Gestützt werden kann ein solches weltlich-kritisches Verständnis, indem nochmals näher auf die intertextuellen Bezüge zu den Trostgedichten in Widerwertigkeit deß Krieges des Martin Opitz eingegangen wird.[26] Dieser epische Langtext enthält gleiche Formulierungen, eine verwandte topische Ordnung von Kriegsschilderungen mit ähnlichen Einzelbildern, die Verwendung gleicher Reimwortpaare, mithin eine ziemlich weitgehende Vorlage für das inhaltliche und sprachliche Programm des vorliegenden Gedichts.
So findet sich Gryphius’ erster Reim auf „verheeret“ und „umgekehret“ genauso bei Opitz in der Schilderung von Kriegsverwüstungen:
[…] Die Mawren sind verheeret /
Die Kirchen hingelegt / die Häuser vmbgekehret. [I, v. 123-126][27]
Gryphius stellt einzelne Zuordnungen um und benennt seine Exempel im Singular statt im Plural: „die Kirch ist umgekehret“ heißt es bei ihm. Er führt diesen Reim erst ab der B-Fassung des Gedichts 1643 ein, scheut sich also nicht, die Opitz-Reminiszenzen später sogar noch zu verstärken. Auch der Reim von „Posaun“ auf „Carthaun“ steht in der Pluralform bereits bei Opitz:
Ach! ach! da hört man jetzt die grausamen Posaunen /
Den Donner vnd den Plitz der fewrigen Carthaunen / [I, v. 85-86]
Nicola Kaminski erkennt in solchen Anleihen mit Recht eine „unmittelbare Bezugnahme auf Kriegsrealität“, auf die „unmetaphysisch zeitgenössische Wirklichkeit des ‚verwüsteten Deutschlandes’“.[28]
Die Einschätzung der Trostgedichte ist in der Forschung durchaus umstritten.[29] Die Unklarheit betrifft bereits ihren Gattungscharakter. Es handelt sich um den Versuch zu einer Art Nationalepos, das als nichtfiktionales Epos ausgeführt ist. Formales Vorbild sind die Georgica des Vergil, der Aufbau folgt dagegen dem Gattungsmodell der consolatio. Traditionell wird bei konsolatorischen Texten eine Abfolge von Lob, Klage und Trost beachtet, von laudatio, lamentatio und consolatio.[30] Für Opitz ist es hier charakteristisch, dass er den breit ausgeführten Trostteil seines Gedichts konfessionell und kämpferisch auslegt, so dass aus dem Trostgedicht ein politisch-kämpferisches Widerstandsgedicht der reformierten Partei wird. Auch aus moderner Sicht beeindruckend ist aber der Klageteil, der eine ausführliche Schilderung der Leiden des Kriegs liefert, wie man sie bislang in deutscher Sprache so nicht gelesen hatte. Aus diesem Grund hat die Forschung auch die Trostgedichte bis heute gern als eine Art Antikriegsgedicht verstanden. Bei genauer Betrachtung sind sie dies als Ganzes aber gerade nicht.
Gryphius greift aus dem provokativen Kriegsepos von Opitz folglich nur die Klagepassagen heraus und formt sie zu einem einzelnen Sonett.[31] Die kurze Form des Sonetts und die Bearbeitung von Gryphius bewirken dabei eine Konzentration und Verdichtung der Motive, die auf eine deutliche Wirkungssteigerung hinauslaufen. Dies betrifft auch den Einsatz der Epitheta. So werden die „grausamen Posaunen“ (v.85) zur „rasende[n] Posaun“, aus dem „feiste[n] Menschen-Blut“ (v.80) und dem „scharfe[n] Schwert“ (v.96) wird bei Gryphius „Das vom Blutt fette Schwerdt“ oder aus Donner und „Plitz der feurigen Kartaunen“ (v.86) wird „die donnernde Carthaun“.[32]
Für die große Bedeutung der Vorlage bei der Entstehung des Sonetts spricht noch etwas anderes: Im Erstdruck der Lissaer Sonette von 1637 trug die erste Fassung des Sonetts noch den Titel Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes. Dies greift ziemlich genau den Sinn der Überschrift Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges bei Opitz auf. Gryphius’ erster Sonetttitel reformuliert gleichsam den Titel von Opitz unter Betonung der Klage. Trotz der dominant geistlichen Orientierung seiner Sonettbücher inkorporiert Gryphius also praktisch die Trostgedicht-Verse. Dies kann erklären, wie es zur Sonderstellung der Thränen des Vaterlandes innerhalb der Sonettdichtung von Gryphius kommt und weshalb diese zu den satirisch-kritischen Gedichten sortiert werden.
In der Forschung ist zudem seit langem festgestellt worden, dass die Schreckensdarstellungen bei Gryphius auf apokalyptische Bilder anspielen.[33] Dabei verbinden einzelne Vokabeln wie „Posaun“ (v.2), „Blutt“ und „Schwerdt“ (v.3), „Feuer / Pest / und Tod“ (v.8) die Kriegsschilderung lose mit der biblischen Apokalypse.[34] Auch spielt die Zeitangabe „Dreymal sind schon sechs Jahr“ auf die „Zahl des Tieres“ und damit die sogenannte Teufelszahl „666“ der Johannesapokalypse an.[35] Zugleich verweist diese Zeitangabe im Sonett aber auch auf Opitz und seine Datierung der Trostgedichte. Dort nämlich heißt es, die Sonne habe seit Kriegsbeginn „dreymal nun den weiten Kreiß der Erden“ gemessen (I, v. 50–52): drei Jahre Krieg sind es also bei Opitz (1618–1621), „dreymal […] sechs Jahr“ bei Gryphius (1618–1636). Das Sonett überblendet somit die historische mit der apokalyptischen Zeit. Bereits Cysarz sprach in diesem Sinn von einer „Jüngstentagslandschaft“ und Trunz sah die Bilder „eher visionär“ „zwischen Realismus und Apokalyptik“ angesiedelt.[36]
Der Hinweis auf die apokalyptischen Bilder diente in der Forschung gern einer Betonung der metaphysisch-geistlichen Dimension. Man muss diese heilsgeschichtliche Zeichnung jedoch stets zusammendenken mit dem Verweis auf die Vorlage von Opitz, durch die es sehr konkret die konfessionellen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges zitiert. Auch mithilfe der biblischen Verweise verzichtet das Sonett auf die politischen Zuspitzungen und Konfrontationen bei Opitz und hält sich ganz im Bereich der Lamentatio. Es handelt sich aber demnach nicht um ein bloß exemplarisches, aufs Allgemein-Menschliche und die universelle Vanitas zielendes Gedicht. Vielmehr macht gerade die Überkreuzung seine Spezifik aus: Die ungewöhnliche Übernahme und Verwandlung eines historisch-epischen Stoffs, seine Beschränkung auf die Motivik der Kriegsklage und deren heilsgeschichtlich-apokalyptische Überzeichnung sind verantwortlich für seine Wirkung. Über eine bloße Erfüllung von imitatorischen und rhetorischen Regeln sowie denen der Gattung geht dies weit hinaus.
4. Eine Topik des Mordens und die Rhetorik der Empörung
Auffällig in dem Gedicht von Gryphius ist das mächtige hyperbolische Bild des Schreckens im ersten Terzett. Die Vorstellung der über die 18 Kriegsjahre hinweg von Leichen verstopften Flüsse bietet ein beklemmendes Bild, das zugleich unwahrscheinlich und übertrieben wirkt. Man wundert sich deshalb kaum, dass es sich ebenfalls um ein topisches Bild handelt, dessen Tradition sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. So findet es sich auch in den Trostgedichten des Martin Opitz, allerdings nicht im Zusammenhang der bisher zitierten Klagepassagen.[37] Das Vorbild steht vielmehr im dritten Buch der Trostgedichte, wo es um die Hugenottenverfolgung und um den Fluss Rhone geht. Zuerst findet man das Bild des leichenverstopften Flusses in der Ilias, wenn der personifizierte Flussgott Skamandros klagt: „Voll sind mir von Toten bereits die schönen Gewässer; │ Kaum auch kann ich annoch ins heilige Meer mich ergießen, │ Eingeengt von Toten“ (Ilias 21,218ff.).[38] Man findet das Bild besonders eindrucksvoll auch in den Pharsalia des Lukan, wo vom Terror unter Marius und Sulla berichtet wird.[39] Weitere Belege bieten Silius, Statius und sogar die Africa des Petrarca.[40] Auch mit diesem Bild kompiliert Gryphius folglich eindrucksvolle Topoi des Kriegsleids aus ganz unterschiedlichen Kontexten.
Es handelt sich bei der Darstellung im ersten Terzett also nicht nur um eine realistische Schilderung von Kriegsfolgen. Vielmehr wird ein wirkungsmächtiges Bild der literarischen Tradition zitiert, das nicht zuletzt auch in den Trostgedichten aufgegriffen ist. Es stellt eine hyperbolische Übertreibung des kriegerischen Mordens dar, das durch den Vergleich mit dem Flusslauf auf die Naturwidrigkeit des Kriegsgeschehens hindeutet. Gleiches gilt übrigens bereits für die auf die soziale Welt bezogenen Bilder in den Quartetten: für die Umkehrung der Kirche, das Rathaus in Trümmern, die zerschlagenen „Starken“ und geschändeten „Jungfern“. Entfaltet werden Bilder einer verkehrten Welt.
Die Schilderungen der Kriegssituation sind also Teil einer Rhetorik der Empörung. Es wird nicht bloß Wirklichkeit dargestellt, sondern es wird deren Naturwidrigkeit ausgestellt. Diese Naturwidrigkeit wird durch die apokalyptischen Anspielungen zusätzlich heilsgeschichtlich überformt. Insgesamt dient dies jedoch weniger einer eschatologischen als vielmehr der zeitgeschichtlich-kritischen Akzentuierung des Geschehens.
5. Der „Seelen Schatz“: historische Konkretion und poetische Universalität
Im letzten Terzett seines Sonetts verlangsamt Gryphius den Rhythmus, wodurch er eine größere Gravität erreicht, die er zu einer Überbietungspointe nutzt:
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.
Das Sonett kommt hier – nach einhelliger Meinung der Forschung – auf die im ersten Vers angekündigte Überbietungsbehauptung zurück und erläutert das „mehr denn gantz verheeret!“ Indem es dabei auf den „Seelen Schatz“ verweist, thematisiert es nun etwas Innerliches und Geistliches, eine religiöse Qualität. Der Inhalt und die Dynamik des Gedichts nehmen damit eine für Gryphius ganz typische Wendung. Man denke etwa an das bekannte Sonett Es ist alles Eitel, das auf dem Vers „Noch will was Ewig ist kein einig Mensch betrachten!“ schließt. Auch hier läuft die rhythmische Antithetik der Vanitasschilderungen in einen schlichten, in seiner Dynamik verlangsamten, gravitätischen Satz aus, der auf die christliche Glaubenswahrheit verweist. Ähnlich sind die Thränen des Vaterlandes gestaltet. Doch was ist hier mit dem „Seelen Schatz“ genau gemeint?
Die Verse sind nicht wirklich rätselhaft. Sie haben dennoch zu sehr unterschiedlichen Auslegungen Anlass gegeben. Die nächstliegende Bedeutung würde besagen, dass das ‚Abzwingen’ des Seelenschatzes den Zwang zum Konfessionswechsel meint, der im Zusammenhang der Gegenreformation ausgeübt wurde. Dies erscheint auch autobiographisch sinnvoll. Im Jahr 1628 wurden in Gryphius‘ Heimatstadt Glogau die lutherischen Prediger und Lehrer vertrieben und die Bevölkerung unter Einsatz militärischer Mittel zur Konversion zum Katholizismus gezwungen.[41] Gryphius entstammt einer Pfarrerfamilie. Seine verbliebenen Familienmitglieder und er selbst flohen ins Exil. Dies lag bei Abfassung des Gedichts gerade einmal acht Jahre zurück.
Gleichwohl wurde immer wieder eine zweite, allgemeinere Deutung stark gemacht. Nicht zufällig ist es 1949 Erich Trunz, der den Schluss als „volle Wendung ins Geistliche, ins Innerliche, Religiöse“ wertet. Er möchte dabei nicht bei der naheliegenden Bezugnahme auf den gegenreformatorisch ausgeübten Zwang zur Konversion stehen bleiben, sondern meint, „daß die Menschen durch die Not der Zeit den Glauben verloren haben oder im Glauben schwach geworden sind“.[42] Auch Mauser schließt sich dem an und sieht „das Gesamtschicksal des Menschen […] angesprochen“.[43] Verweyen spricht sogar von „transzendente[r] Obdachlosigkeit“[44] und von Zimmermann vom „Glaubensverlust der Zeitgenossen“.[45]
Diese seit langem vertretene Einschätzung stellt nun allerdings eine Verharmlosung der konkreten historischen Zusammenhänge dar. Schon semantisch passt der passivische ‚Glaubensverlust’ und die ‚Glaubensschwäche’ nicht zur Rede vom aktiven ‚Abzwingen’ dieses Glaubens. Dieses ‚Abzwingen’ spricht sehr unverhohlen und kaum verschlüsselt von einem gegen die innere Glaubensüberzeugung gerichteten Zwang.
Dennoch erschien es nicht immer ganz klar, ob man diesen Zwang des Glaubens unmittelbar auf die autobiographische Erfahrung von Gryphius im Rahmen der Rekatholisierungsmaßnahmen in Schlesien beziehen darf. Nicola Kaminski hat in diesem Zusammenhang auf die ursprüngliche Fassung der Verse in der Lissaer Ausgabe der Sonette hingewiesen. Diese stützt die These eines anderen, ebenfalls sehr konkreten historischen Bezugs und kompliziert die Deutung zusätzlich. Dort heißt es:
Jch schweige noch von dehm / was stärcker als der Todt /
(Du Straßburg weist es wohl) der grimmen Hungersnoth /
Vnd daß der Seelen-Schatz gar vielen abgezwungen. (v. 12–14)
Der konkrete historische Bezug des Hinweises auf Straßburg ist bisher nicht genau geklärt worden. Kaminski hat sogar bezweifelt, dass es einen solchen wirklich gegeben habe und geht von einem Druckfehler aus.[46] Eine solche Schlussfolgerung erscheint jedoch als zu weitreichend. Eine entsprechende Hungersnot müsste für das Jahr 1636 oder kurz zuvor nachgewiesen werden.[47] Nun war die Kriegssituation im Anschluss an die schwedische Niederlage in der Schlacht bei Nördlingen in ganz Süddeutschland für die protestantische Partei prekär geworden. Eine Stadtgeschichte Straßburgs aus dem 18. Jahrhundert formuliert: „Die Kaiserliche Armee überschwemmte nun ganz Oberteutschland“.[48] Die Schweden übergaben weite Teile des Elsaßan Frankreich. Im Gefolge des Prager Friedens im Mai 1635 stellte sich der Stadt die Bündnisfrage zwischen der kaiserlich-sächsischen und der französisch-schwedischen Partei: „was war nicht in diesem Falle für das ganze Protestantische Straßburg zu fürchten, dem seine Religion mehr als alles andere am Herzen lag?“[49]
Insbesondere die Rede von der Hungersnot ist nicht ohne historischen Bezug. Generell war die Verpflegungslage in diesen Jahren in Süddeutschland äußerst problematisch. Das Theatrum Europaeum berichtet von zahlreichen entsprechenden Vorfällen. So haben französische Truppen im Juli 1635 in Colmar die Ernte zu verderben versucht und den Straßburgern „500. stück Vieh vor der Pforten weggetrieben“.[50] Im Herbst zwang die Not im Oberelsaß die Lothringischen Armeen zum Abzug.[51] Im Winter bezogen wiederum Kaiserliche Truppen im Elsaß ihr Lager und verteilten sich „in das gantze Land / Ober- und Unter-Elsaß“.[52] Pointiert verkündet eine Marginalie des Theatrum Europaeum zum Beginn des Jahres 1636: „Grosse Hungersnoth in gantz Teutschland / bevorab im Elsaß“, woran sich eine längere, detaillierte Schilderung über Vorfälle von Kannibalismus im oberelsässischen Ruffach anschließt.[53] Straßburg war unterdessen von Flüchtlingen überfüllt und erließ eine Verordnung, wonach Fremde ohne ausreichende Lebensmittelvorräte die Stadt zu verlassen hatten.[54] Am Beginn des Jahres 1636 herrschte also sehr wohl eine „grimme Hungersnoth“ im Elsaß. Auf sie lässt sich der Vers bei Gryphius beziehen. Der letzte Vers dagegen verweist unüberhörbar auf die zwangsweise Rekatholisierungspolitik in Gryphius‘ Heimat Schlesien in den Jahren zuvor.
Die Perspektive auf die historische Situation im Jahr 1636 vermag darüber hinaus auch zu erklären, warum Gryphius die Verse in der Version von 1643 in eine unspezifischere Variante änderte. Man hat dafür bislang meist innerpoetische Gründe benannt. Eine einfache Antwort könnte allerdings lauten, dass sich die Situation Straßburgs inzwischen gewandelt hatte und die Verse sechs Jahre später keine unmittelbare Signifikanz mehr besaßen. Durch das Streichen des Verweises auf Straßburg ist der Text nun allgemeiner referentialisierbar. Zugleich hält das Einfügen der Jahresangabe „Anno 1636“ im Titel die historische Referenz für die Nachwelt fest. Der Gedichttext stellt nun eine allgemeiner gefasste Aussage dar, die das Kriegsgeschehen insgesamt benennen kann.
Die Aussage der Schlussverse ist folglich keineswegs verrätselt. Sie beschränkt sich zwar auf eine knappe Andeutung – das ‚Abzwingen des Seelen Schatzes’ – doch dürfte deren Bedeutung jedem Zeitgenossen sofort klar gewesen sein. Insofern erscheint es unnötig, bezüglich der Pointe des Sonetts von einer ‚Unbestimmtheitsstelle’ zu sprechen, wie dies Theodor Verweyen getan hat, oder aus der wenig zweideutigen Benennung des Konversionszwangs eine „polyperspektivische Ich-Dissoziation“ abzuleiten, wie es Nicola Kaminski vorschlägt. In beiden Fällen soll der klaren rhetorischen Stoßrichtung des Gedichts eine semantische Uneindeutigkeit abgewonnen werden, um es ästhetisch aufzuwerten. Eine solche Aufwertung hat es aber gar nicht nötig. Gerade in der Vormoderne bemisst sich ästhetischer Wert nicht am Maßstab semantischer Vieldeutigkeit. Man wird dem ästhetischen Wert des Gedichts von Gryphius nicht gerecht, wenn man ihm eine Vieldeutigkeit zuzuschreiben versucht, die es nicht besitzt.
Aussagekräftiger erscheint die Beobachtung, dass es sich um ein in hohem Maße imitatorisches Gedicht handelt. Der unübersehbare – aber weithin unterschätzte – Verweis auf den Prätext der Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges verleiht dem Sonett einen poetisch weitreichenden Resonanzboden. Mit dem kämpferischen Klag- und Trostepos von Opitz holt Gryphius einen hochaktuellen und hochpolitischen, konfessionell ausgesprochen engagierten Text in seine geistlich ausgerichtete Sonett-Sammlung hinein. Er erweitert damit das Spektrum seiner poetischen Kompetenz über die geistlichen, die Vanitas-, die Kasual-, die Liebes- und die satirischen Sonette hinaus um die Nachahmung eines prominenten zeitkritischen Texts, der aus einem gänzlich sonettfremden Gattungskontext stammt.[55]
Gryphius ordnet das Gedicht unter den satirischen Sonetten ein, was es zusätzlich als einen weltlich-kritischen Text markiert. Zugleich verwandelt er die epische Vorlage von Opitz erheblich. Das kurze Gedicht beschränkt sich auf den Klageteil. Die gelehrten und kämpferischen Trostdiskurse von Opitz fallen weg. Gryphius hat offenbar die Kraft der Opitzschen Verse über die Leiden des Kriegs wahrgenommen. Er hat sie isoliert und gebündelt, verdichtet und intensiviert. In der Pointe vermeidet er – hat man den Text von Opitz im Ohr – jeden scharfen oder aggressiven Ton. Der Sonettschluss wirkt vielmehr leise und zurückgenommen, aber umso deutlicher akzentuiert. Mit dem Verweis auf den Glaubenszwang benennt er dabei den konfessionellen Hintergrund dieses Kriegs. Durch die Konzentration auf die Klage und die alleinige Herausstellung der Leiden hat Gryphius sein Gedicht – trotz des ganz konkreten zeitgeschichtlichen Bezugs – in seiner semantischen Aussagefähigkeit universalisiert. Damit hat er den Resonanzraum geschaffen, der es Lesern ganz anderer Epochen erlaubt hat, sich in dem Gedicht wiederzuerkennen. In einem solchen Wiedererkennen liegt nicht nur eine fehlgehende Lektüre, es deckt ein semantisches Angebot des Texts selbst auf. Dieses basiert jedoch nicht auf seiner Vieldeutigkeit, sondern auf seiner Universalität und sprachlich-emotionalen Kraft.
Die emotionale Kraft ist das Werk einer Rhetorik, die sich nicht in einer bloßen Anwendung des rhetorischen Regelwerks erschöpft. Sie ist auch das Werk einer imitatorischen Poetik. Dabei darf man sich imitatio nicht als ein unkreatives Plagiieren vorstellen. Das Imitieren des hochambitionierten, auf den deutschen Krieg der Gegenwart gerichteten Nationalepos des Martin Opitz ist im Kontext einer eher geistlichen Sonettsammlung ebenso unerwartet wie originell. Damit verbunden ist ein radikaler Gattungssprung – und eine radikale Reduktion des Textumfangs. Dabei erscheint es nicht unplausibel, dass dieser Bezug auf die Trostgedichte sogar die entscheidende inventorische Idee der Thränen des Vaterlandes darstellt.
Die sonettistische Konzentration auf die menschlichen Leiden des Kriegs selbst ist eine poetische Leistung, die keiner Aufwertung durch moderne ästhetische Konzepte bedarf. Daran hat auch die Dignität des Gegenstands – der Leiden des Kriegs – ihren Anteil. Die Intensität der barocken Rhetorik und die Kraft der Sprache können in diesem Gedicht gerade auch deshalb eine so fraglose Wirkung entfalten, weil ihnen das Gewicht ihres Gegenstands entspricht.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag erscheint zum 400. Geburtstag von Andreas Gryphius in der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping. Er übernimmt mit geringfügigen Änderungen und freundlicher Genehmigung des Verfassers den Aufsatz von Thomas Borgstedt: Andreas Gryphius‘ „Thränen des Vaterlandes / Anno 1636“. Epos-Imitatio und Kriegsklage im Sonett. In: La Poésie d‘Andreas Gryphius. Études réunies et publiées par Marie-Thérèse Mourey. Nancy: CEGIL 2012 (Collection „Le texte et l‘idée“), S. 19–34.
Anmerkungen
[1] Andreas Gryphius: Gedichte. Hrsg. von Thomas Borgstedt. Stuttgart 2012, S. 23.
[2] Der ursprüngliche Titel des Sonetts lautete „Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes“, erschienen 1637 in den Lissaer Sonetten; Text in: A. Gryphius: Sonette. Hrsg. von Marian Szyrocki (Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 1), Tübingen 1963, S. 19.
[3] Herbert Cysarz: Drei barocke Meister. In: Heinz Otto Burger (Hg.): Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte. Halle/Saale 1942, S. 72–88, hier: S. 72.
[4] Cysarz (Anm. 3), S. 74.
[5] Cysarz (Anm. 3), S. 77.
[6] Erich Trunz: Fünf Sonette des Andreas Gryphius. Versuch einer Auslegung. In: Fritz Martini (Hg.): Vom Geist der Dichtung. Gedächtnisschrift für Robert Petsch. Hamburg 1949, S. 180–205.
[7] Marian Szyrocki: Der junge Gryphius. Berlin (DDR) 1959, S. 104.
[8] Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ‚Sonette’ des Andreas Gryphius. München 1976, alles: S. 148.
[9] Ebd., S. 149.
[10] Durchgängig traditionsgeschichtlich argumentiert zuletzt noch Christian von Zimmermann: Andreas Gryphius’ „Threnen des Vatterlandes/ Anno 1636“. Überlegungen zu den rhetorischen Grundlagen frühneuzeitlicher Dichtung. In: Daphnis 28 (1999) H. 2, S. 227–244.
[11] Theodor Verweyen: ‚Thränen des Vaterlandes / Anno 1636’ von Andreas Gryphius – rhetorische Grundlagen, poetische Strukturen, Literarizität. In: Wolfgang Düsing (Hg.): Traditionen der Lyrik. Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Tübingen 1997, S. 31–45, hier: S. 45.
[12] Jürgen Landwehr: Ein poetisch inszenierter „Weltuntergang mit Zuschauer“: Andreas Gryphius’ „Threnen des Vatterlandes/Anno 1636“. In: Andreas Böhn (Hg.): Lyrik im historischen Kontext. Festschrift für Reiner Wild. Würzburg 2009, S. 20–30.
[13] Nicola Kaminski: EX BELLO ARS oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg 2004, S. 273–317, hier: S. 316.
[14] Verweyen (Anm. 11), S. 40; auch: Landwehr (Anm. 12), S. 21.
[15] Trunz (Anm. 6), S. 187.
[16] Kaminski (Anm. 13), S. 277.
[17] Man hat diese Steigerung des Maximalen als „paradox“ bezeichnet; Knut Kiesant: Andreas Gryphius: ‚Threnen des Vatterlandes, Anno 1636’. In: Werkinterpretationen zur deutschen Literatur von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Hartmann. Berlin (DDR) 1986, S. 34–41, S. 37, Landwehr (Anm. 12), S. 22. Cysarz (Anm. 3) spricht von einem „Oxymoron“, S. 74, kritisch dazu: von Zimmermann (Anm. 10), S. 235 Anm. 19.
[18] Zu dieser Ankündigungsstruktur: von Zimmermann (Anm. 10), S. 235, Landwehr (Anm. 12), S. 22.
[19] Ulrich Schulz-Buschhaus: Emphase und Geometrie. Notizen zu Opitz’ Sonettistik im Kontext des europäischen ‚Petrarkismus’. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002, S. 68–82, hier bes. S. 77; vgl. auch: Ders.: Giovanni della Casa und die Erschwerung des petrarkistischen Sonetts. In: Poetica 23 (1991) 68–94.
[20] Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962, S. 129.
[21] Vgl. etwa Benjamin Neukirch: Vorrede. In: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster theil. Nach einem Druck vom Jahre 1695 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hrsg. von A.G. de Capua und E.A. Philippson. Tübingen 1961, S. 6–22, hier: S. 12.
[22] Vgl. dazu auch Jean Schillinger: Andreas Gryphius et la guerre de Trente Ans. In: La Poésie d‘Andreas Gryphius. Études réunies et publiées par Marie-Thérèse Mourey. Nancy: CEGIL 2012 (Collection Le texte et l‘idée), S. 61–77.
[23] Unabhängig davon meint Mauser verallgemeinernd: „Der Schrecken des Krieges ist ein Beispiel menschlich-irdischer Vergänglichkeit; das Gesetz der Vanitas gilt in allen Lebensbereichen“; Mauser (Anm. 8), S. 149.
[24] Nr. 26 in den Lissaer Sonetten (Sonette [Anm. 2], S. 19), Nr. 27 in den späteren Ausgaben (Gedichte [Anm. 1], S. 23), zwischen „An Lucinden“ und „An Poetum“.
[25] Kaminski (Anm. 13) vergleicht die beiden Klage-Sonette im Blick auf einen angenommenen „Konkurrenzkampf um die Autorschaft“, bei dem „Deutschland“ als „Sieger“ hervorgehen soll, S. 277.
[26] Vgl. für eine umfassende Zusammenstellung der Übernahmen: Günther Weydt: Sonettkunst des Barock. Zum Problem der Umarbeitung bei Andreas Gryphius. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 9 (1965) 1–32, hier: 15–19.
[27] Martin Opitz: Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges (1621). In: Ders: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1968, Bd. I, S. 187–266 (Buch I, v. 123–126).
[28] Kaminski (Anm. 13), S. 283–293, hier: S. 285.
[29] Marian Szyrocki: Martin Opitz. München 1974; Klaus Garber: Martin Opitz. In: Harald Steinhagen (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Berlin 1984, S. 116–184, bes. S. 149; Barbara Becker-Cantarino: Daniel Heinsius’ De contemptu mortis und Opitz’ Trostgedichte. In: B. Becker-Cantarino (Hg.): Opitz und seine Welt: Festschrift für George Schultz-Behrend zum 12. Februar 1988. Amsterdam 1990, S. 37–56; Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Herne 1991, S. 47; Jean Charue: Les ‚Trost-Gedichte’ d’Opitz. In: Le texte et l’idée 10 (1995) 45–61; Jean-Daniel Krebs: Martin Opitz, ‚TrostGedicht in Widerwertigkeit Deß Krieges’ (Bücher I und II). Von der national-politischen Trauerarbeit zum Ideal des Neustoizismus. In: Littérature & civilisation au capes et à l‘agrégation d‘allemand (Session 1996). Études rassemblées par Eugène Faucher. Nancy 1996 (= Bibliothèque des Nouveaux cahiers d‘allemand), S. 1–14; Andreas Solbach: Rhetorik des Trostes: Opitz’ „Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges“ (1621/33). In: Borgstedt/Schmitz (Anm. 19), S. 222–235; Achim Aurnhammer: Martin Opitz’ Trost-Getichte: ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus. In: Barbara Neymeyr (Hg.): Stoicism in European Philosophy, Literature, Art, and Politics / Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Berlin, New York 2008, S. 711–730.
[30] Rudolf Kassel: Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur. München 1958, S. 40.
[31] Verweyen hat dies regelpoetisch fundieren wollen, indem er es auf die antike Gattung der Threnodie bezieht. Damit ist eine spezifische antike Form der Totenklage bezeichnet, bei der der Klagegestus nicht abgemildert oder aufgelöst wird; vgl. Verweyen (Anm. 11), S. 41–43; ferner von Zimmermann (Anm. 10), S. 235 sowie zuvor bereits Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytreus, Andreas Gryphius). In: Udo Benzenhöfer (Hg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992, S. 1–29.
[32] Vgl. für den genauen Vergleich Weydt (Anm. 26), S. 15–19; zur Formelhaftigkeit des ‚vom Blut fett’ Gerhard Fricke: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock. Darmstadt 1967, S. 201 Anm. 8.
[33] Trunz (Anm. 6), S. 187 und 191. Cysarz (Anm. 3), S. 76; Weydt (Anm. 26), S. 19; auch: Szyrocki: Der junge Gryphius (Anm. 7), S. 103; Kiesant (Anm. 17), S. 37.
[34] Offb. 6 und 8; im Einzelnen: Landwehr (Anm. 12), S. 24f.
[35] Offb. 13,18. Kaminski sieht in der Nennung der Teufelszahl einen verschlüsselten Verweis auf einen antikatholischen Subtext des Gedichts; Kaminski (Anm. 13), S. 276f.
[36] Trunz (Anm. 6), S. 187 und S. 191.
[37] Eine ähnliche Stelle hat Weydt nachgewiesen in einem Gedicht aus den Teutschen Poemata unter Bezug auf die spanische Besetzung der Pfalz mit dem Titel „Ein Gebet, daß Gott die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treiben. 1620“. Kaminski hält eher diese Stelle für die Vorlage des Gryphius-Sonetts, vgl. Weydt (Anm. 26), S. 16 Anm. 34, Kaminski (Anm. 13), S. 285f. Anm. 61, das Gedicht: Martin Opitz: Teutsche Poemata. Hg. von Georg Witkowski. Halle/S. 1967, S. 148f. [Nr. 146.].
[38] Hinweise dazu bei Cysarz (Anm. 3), S. 76, Kaminski (Anm. 13), S. 285 Anm. 60.
[39] Luc. II,210–220. Für diese und die folgenden Belege danke ich Claudia Wiener (München).
[40] Sil. 1,39ff; 6,12f; 6,706ff; 10,320f; Petrarca: Africa 3,473f.
[41] Vgl. Jörg Deventer: Konfrontation statt Frieden. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien im 17. Jahrhundert. In: Klaus Garber (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005, Bd. I, S. 265–283, hier: S. 278f.
[42] Beide Zitate: Trunz (Anm. 6), S. 189.
[43] Mauser (Anm. 8), S. 149.
[44] Verweyen (Anm. 11), S. 40.
[45] von Zimmermann (Anm. 10), S. 240.
[46] Laut Kaminski findet sich in den Quellen kein Beleg für eine Hungersnot in Straßburg, auf die hier Bezug genommen sein könnte. Sie schlägt deshalb vor, dass es sich bei „Straßburg“ um einen Druckfehler handele, und dass hier eigentlich „Augsburg“ stehen solle; Kaminski (Anm. 13), S. 287, das gesamte Argument: S. 287–293.
[47] Ältere Kommentare verweisen auf das Jahr 1622, was offenbar in die Irre führt; vgl. Christian Wagenknecht (Hg.): Gedichte 1600–1700. München 1969 (Epochen der deutschen Lyrik. 4), S. 81; Ulrich Maché, Volker Meid (Hg.): Gedichte des Barock. Stuttgart 1980, S. 330; dazu: Kaminski (Anm. 13), S. 286 Anm. 64.
[48] Johann Friese: Neue Vaterländische Geschichte der Stadt Straßburg und des ehemaligen Elsaßes. Von den ältesten Zeiten bis auf das Jahr 1791. Dritter Band. Straßburg 1792, S. 130.
[49] Ebd., S. 132f.
[50] THEATRI EUROPAEI CONTINUATIO III. Das ist: Historischer Chronicken Dritter Theil / […] Durch HENRICUM ORAEUM […], Frankfurt a.M. 1670, S. 510.
[51] „Auf keinem Dorff oder Flecken umb Colmar und der Orthen war mehr zu bekommen / dergleichen über Menschen gedencken nicht mehr geschehen zu seyn / berichtet wird“; THEATRI EUROPAEI CONTINUATIO III (Anm. 50), S. 532. Zur weiteren Not und zum Hunger der Lothringer: ebd., S. 548.
[52] THEATRI EUROPAEI CONTINUATIO III (Anm. 50), S. 583; zum Rückzug in die Winterquartiere heißt es, es herrschte „grosse Hungersnoth / sonderlich auff seyten der Kayserischen“, und: „Herr General Gallas ist eine Zeitlang in den Oberquartiren geblieben / und sich umb Elsaßzabern und deren Orthen auffgehalten / und daselbsten Collmar, Schlettstatt / Benfelden ziemlicher massen plocquirt gehalten“ (ebd., S. 595), so dass „die Kayserischen darbey unsäglichen Mangel litten / und allerley abscheuliche Speise zugeniessen gedrungen worden“, heißt es über den Januar 1636 (ebd., S. 609).
[53] THEATRI EUROPAEI CONTINUATIO III (Anm. 50), S. 617f.
[54] THEATRI EUROPAEI CONTINUATIO III (Anm. 50), S. 640; zum Problem der Verpflegung Auswärtiger „in so nahrungslosen Zeiten“ auch Friese (Anm. 48), S. 129f.
[55] Für diese ‚handwerkliche‘ Vorführung des Autors Gryphius, der seine dichterischen Fähigkeiten möglichst breit zu demonstrieren sucht, vgl. Andreas Solbach: Gryphius und die Liebe. Der poeta als amator und dux in den Eugenien-Sonetten. In: La Poésie d‘Andreas Gryphius. Études réunies et publiées par Marie-Thérèse Mourey. Nancy: CEGIL 2012 (Collection „Le texte et l‘idée“), S. 35–46, hier: S. 36.