Kein Happy End

Michael Haneke nimmt Abschied von Schrecken und Utopie der Form

Von Andreas P SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas P Schmid

Wieder einmal führt uns Michael Haneke die Brüchigkeit der vornehmen Fassade einer großbürgerlichen Familie vor. Der suizidale Greis Georges Laurent und seine Tochter, die kühle Bauunternehmerin Anne Laurent, leben auf einem noblen Anwesen in Calais. Bald kommt auch der treulose Sohn und notorische Fremdgänger, Thomas Laurent, der als Arzt in Südfrankreich praktiziert, dazu. Es ist ein Familientreffen ohne feierlichen Anlass: Die eher kindlich denn jugendlich wirkende Eve, Thomas’ Tochter aus erster Ehe, hat ihrer depressiven Mutter mit Schlaftabletten das Leben genommen und soll nun bei den Verwandten untergebracht werden. Gleichzeitig muss sich Anne juristisch gegen die Familie eines Arbeiters wehren, der bei einem Bauunfall verunglückt ist. Zu allem Überfluss begehrt auch noch ihr Sohn Pierre gegen die Autorität der Mutter auf, anstatt sich auf die ihm zugedachte Position des Firmenchefs vorzubereiten. Ein Happy End erwartet man bei dieser Konstellation nicht – schon gar nicht, wenn Michael Haneke Regie führt. Das versteht sich von selbst.

Und ja, es ist ein ‚typischer Haneke‘, jedenfalls was die Figuren und die Sujets betrifft. Kennt man das beeindruckende Œuvre des österreichischen Regisseurs, dürfte vieles bekannt vorkommen. Da ist das großbürgerliche Setting aus Caché, der finstere Witz aus Funny Games, der filmende Teenager aus Benny’s Video, die sadomasochistisch veranlagte Musikerin aus La Pianiste, die existentielle Leere der Familie in Der Siebente Kontinent, die Form des Fragmentarischen ähnlich Code innconu,und sogar die Figuren aus Amour. Vielleicht ist der Titel seiner jüngsten Regiearbeit ja nicht nur ein Vorbote des Schwarzhumorigen und der bitteren Ironie, die das Publikum da erwarten. Vielleicht zieht Haneke auch einen Schlussstrich unter eine Schaffensperiode, die er in Happy End noch einmal Revue passieren lässt. Denn in mancherlei Hinsicht ist er eben doch nicht so typisch.

Wie bisher nur in Code inconnu und Das weiße Band fehlt hier der Schockmoment, die plötzlich einsetzende Dissonanz, das abrupte Kippen ins schonungslos Gewalttätige, das Hanekes Kinowerk vom ersten Film an gekennzeichnet hat. Die Bolzenschüsse in Benny’s Video, der Amoklauf in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls, der Hieb mit dem Golfschläger in Funny Games, der Gewehrschuss in Le Temps du loup, der Kehlenschnitt in Caché – immer bricht die Gewalt in das Alltägliche ein und überschreitet es doch nicht. Mit diesem unversöhnlichen Realismus gibt Haneke der fiktiven Gewalt das Schreckliche, das schwer Erträgliche zurück, das sie vor allem im Genrefilm verloren hat, oder das sie noch nie hatte. Diese Einbrüche sind nur die Signatur eines Programms der Reduktion und Aussparung, das Haneke in seinem Essay Schrecken und Utopie der Form von Robert Bressons Meisterwerk Au hasard Balthazar ableitet. Erst der Verzicht auf emotionale Identifikationsangebote, auf simple Sozio- oder Psychologisierungen, auf ganzheitliche Figurenkonzeptionen, auf das Außergewöhnliche und schließlich auf das Glück führe für ihn „zur Aktivierung des Betrachters“; erst durch diese Auslassungen könne ein Film den Zuschauer ernst nehmen. Auf eine bloße Umsetzung dieses Programms lässt sich Hanekes Schaffen freilich nicht reduzieren, ebenso wenig kopiert er sein Vorbild Bresson, zwischen dessen ‚transcendental style‘ und der Ästhetik beispielsweise eines Funny Games doch ein gewaltiger Unterschied besteht. Als Leitfaden nimmt Haneke diesen Realismusbegriff allerdings immer wieder auf, verhandelt ihn neu und wirft ihn, wo nötig, aber immer nur punktuell, über Bord. Auch in Happy End findet sich dieses Formenvokabular wieder, womöglich sogar deutlicher als im Vorgänger Amour. Fragmentarisch erzählt er vom alltäglichen Leben; freudlos sind diese Fragmente dem Inhalt nach und formal nicht mundgerecht serviert; einfache Antworten vermeidet er ebenso wie die Konzeption in sich abgeschlossener Figuren. Und doch bleibt sich Haneke mit diesem Film selbst nicht treu. Denn der sonst so unbequeme Realismus verfällt hier in eine unangenehme Nonchalance.

Aktuelle und wichtige Themen wollen da diskutiert werden. Und in der Tat adressiert Haneke zwei große Fragen der Zeit: Das Digitale mit seinen vielfältigen Gefahren einerseits, die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ andererseits – wenig überraschend, hat man diese Themen doch schon lange im Voraus bekannt gegeben. Tatsächlich werden sie aber bloß nebensächlich abgehandelt und müssen einer Erzählung vom Ende der Familie Platz machen. Das gilt ebenfalls für die vielen weiteren Probleme, wie etwa Adoleszenz, Sterbehilfe, und soziale Ungleichheit. Man könnte darin nun die Raffinesse des Films vermuten, wenn er damit vorführen würde, wie den nur noch mit sich selbst beschäftigten Familienmitgliedern die dringenden Fragen der Gegenwart entgehen. Einige Filmkritiker erkannten sogar eine Entlarvung der Kulturlosigkeit im spätkapitalistischen Europa. Doch in diesem vermeintlich entlarvenden Gestus gefällt der Film sich zu gut. Die spannenden Fragen werden nicht mit der Narration verwoben, sondern völlig gleichgültig eingereiht und in ihren Dienst gestellt. Besonders gilt das für die Themen ‚aus der Werbung‘ – Digitales und Migration.

Bereits in seinem zweiten Kinofilm, Benny’s Video,konfrontiert uns Haneke mit dem Medium des Amateurvideos. Dort sehen wir, wie Teenager Benny ein Mädchen kennenlernt, ihr das selbstgedrehte Video einer Schweineschlachtung zeigt, und sie dann mit dem Werkzeug aus der Aufnahme, einem Bolzenschussgerät, tötet. Wenn das namenlose Mädchen nach dem ersten Schuss kraftlos zu Boden fällt, gibt sie den Blick auf den Fernseher frei, der nun das Live-Bild der Kamera überträgt. Zwei quälend lange Minuten sehen wir nur den flackernden Fernsehbildschirm und hören, wie Benny erneut schießt. Das Moment der Gewalt findet hier im peripheren Bereich des Bildes statt und brennt sich umso mehr ein. Wo in Benny’s Video also das Medium auf die Relation von gefilmter und realer Gewalt hin befragt, und die Gewalt des Filmens und des Gefilmtwerdens selbst performativ durchgespielt wird, teilt uns Happy End nur die triviale Einsicht mit, dass die integrierte Smartphonekamera jede Gelegenheit in HD festhalten kann. Zwar tötet Eve erst ihren Hamster und dann ihre Mutter, und das in der Optik einer Video-Streaming-App mit Chatfunktion. Auch hängen Gewalt und Video zunächst zusammen. Im Unterschied zu Bennys Mord jedoch, der den Betrachter in seiner Rohheit und gleichzeitig seiner Spontanität nachhaltig erschüttert, kommt das psychologisch motivierte Sterbenlassen Eves erst belustigend, dann nebensächlich, in jedem Fall ohne Gewicht daher. Einmal ist es Neugier, was wohl mit dem Hamster passiert, einmal ist es der Hass auf die depressive Mutter. Benny hingegen gibt uns Rätsel auf. Wie damit umgehen, dass ein Jugendlicher völlig unangekündigt und spontan die zuvor gefilmte Tierschlachtung an einem Menschen wiederholt? Dieser Mord liegt schwer im Magen und lässt uns unruhig werden, jener zieht fast unbemerkt vorüber. So bleibt der Link von Video und Gewalt beliebig und unbedeutend, ganz im Gegensatz zur gelungenen Montage in Benny’s Video.

Neben dem Smartphone stellt uns Haneke das Internet vor. Er findet darin einen öffentlichen Raum, in dem man (scheinbar) heimlich privat sein kann. So pflegt Thomas Laurent über einen Messenger erotischen Kontakt zu einer Musikerin, während sich seine Frau um das Baby kümmern muss. Der Seitensprung, nur einen Browsertab entfernt. Realiter findet die sexuelle Transgression allerdings nicht statt. Die sadomasochistischen Fantasien bleiben auf digitalen Schriftverkehr beschränkt. Was hierin anklingt, ist die Vermutung, dass durch die medialen Bedingungen des Chatrooms Hemmschwellen abgebaut und ganz andere Formen der Intimität überhaupt erst hergestellt werden. Entscheidend ist, dass sich Kommunikation beliebig verzögern lässt – ein Spiel des Wartens und Erwartens – und sie um non-verbale Anteile bereinigt auf die Schrift reduziert ist – ein Spiel des Deutens und Bedeutens. Doch klingen diese Überlegungen nur an, was per se nicht verkehrt ist, denn ein Film muss keine umfassende Abhandlung sein, nicht abschließend ein Problem ausdiskutieren; im Gegenteil liegt gerade in der Andeutung eine große Kunst, die im Film Früchte trägt. Hier kann man noch einmal an Hanekes Vorbild, Robert Bresson, erinnern. Wenig wird in Au hasard Balthazar ausgesprochen und doch hallt vieles lange nach. Ganz anders verhält es sich in Happy End: Das Thema Cybersex dient letztendlich nur einer Pointe in einer müden Vater-Tochter-Szene, die auf noch einen Riss in der Fassade der ohnehin längst nicht mehr heilen Familienidylle hinausläuft. Was auch immer angedeutet werden soll, es verliert sich in dieser ebenso unaufgeregten wie unaufregenden Situation – vielleicht eine light-Variante der Haneke’schen Schrecksekunde. Die im Essay verlangte Unbestimmtheit des Gesichts, diese „unbewegliche, ausdruckslose Ikone der Melancholie“, greift in dieser Szene wohl am deutlichsten auf die Narration über und friert sie als nicht nur ausdruckslose, sondern als völlig gleichgültige Ikonographie ein.

In derselben zugleich abgeklärten und indifferenten Haltung möchte uns Happy End etwas über Flüchtlinge erzählen. Und auch dieser Diskurs steht nicht für sich, sondern wird in die dominante Erzählung der Familienkrise eingeschrieben und ihr unterworfen. Tatsächlich treten die Flüchtlinge nur an zwei Stellen des Films auf. Zuerst begegnen sie Georges auf der Straße. Er scheint sie zu fragen, ob sie ihm beim Suizid helfen könnten und bietet seine Armbanduhr als Gegenleistung. Offenbar lehnen die schwarzen Männer ab. Was genau gesprochen wird, hört das Publikum nicht. Vielleicht verstehen sie sich auch gar nicht. Die Szene ist von der gegenüberliegenden Straßenseite gefilmt, der Verkehrslärm übertönt das Gespräch. In einem Interview erklärt Haneke, er könne nicht allzu tiefgehend vom Milieu der Flüchtlinge erzählen, denn schließlich habe er nie unter ihnen gelebt. Seine Erzählung beschränke sich also auf das ihm Bekannte. Dürfen die Schwarzen deshalb nicht sprechen? Was im Interview nach einer selbstkritisch-ethnologischen Reflexion klingt, wird im Film selbst problematisch. Ein Vergleich macht das deutlich: Auch im großartigen Code inconnu zeigen einige Fragmente das Leben im migrantischen Milieu. Gleich zu Beginn sehen wir einen jungen Franzosen, Jean, der eine Pariser Boulangerie mit einem Brötchen verlässt und die Papiertüte frech der rumänischen Bettlerin Maria in den Schoß wirft. Amadou, Sohn afrikanischer Einwanderer, stellt Jean darauf zur Rede und versucht ihn zu einer Entschuldigung zu zwingen. Die Situation eskaliert in Handgreiflichkeiten und endet mit der Festnahme Amadous. Maria wird später nach Rumänien abgeschoben. Wie der Titel ankündigt, verhandelt Code inconnu: Récit incomplet de divers voyages in fragmentarischer Form, wie Codierung und Decodierung in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen scheitern können. Gerade die Sprache wird als störungsanfälliger Code konzipiert. Figuren verstehen einander nicht, weil sie verschiedene Sprachen sprechen, weil sie nicht sprechen können, oder obwohl sie dieselbe Sprache sprechen. Maria tritt in einer kommunikationsreichen Szene auf. Wir verfolgen den Streit von Amadou und Jean, dann stoßen noch der aufgebrachte Bäcker und weitere Passanten dazu, zuletzt versucht die Polizei das Durcheinander im klärenden Gespräch aufzulösen. Nur Maria spricht nicht. Das hat sie mit den namenlosen Männern in Happy End gemein. Den Unterschied machen der Kontext und das filmische Verfahren: Maria wird zuerst zum Streitobjekt der beiden jungen Männer, von denen Amadou für sie, die sich nicht wehren kann, zu sprechen versucht. Dann wird dieser Versuch von den Polizisten unterbunden, die in Maria nicht das Opfer, sondern eine Täterin – schuldig des illegalen Grenzübertritts – erkennen. Amadous solidarisches Eintreten wird als gewalttätig interpretiert, auch er wird zum Täter gemacht. In diesen spannenden Verschiebungen verschränkt der Film gleich mehrere Formen von Rassismus miteinander. Dass es nicht um diese Szene, sondern um Szenen wie diese geht, mithin um ihre Alltäglichkeit, macht uns das Fragmentarische bewusst: Vorher und nachher sehen wir ganz andere Bilder, Orte und Figuren. So geht die Szene nicht in einer kontinuierlichen Erzählung mit bestimmtem Ziel unter, sondern steht exponiert und exemplarisch für sich. Georges braucht die Flüchtlinge nur für einen weiteren Suizidversuch. Narrativ erfüllen sie damit dieselbe Funktion wie der Friseur, den Georges bittet, eine Pistole zu besorgen. Aus seiner ethnologischen Selbstkritik zieht Haneke die falschen Konsequenzen. Er übersieht, dass durch den Gestus des Zurücktretens vom Fremden dieses in seiner Fremdheit eingeschlossen wird. Nicht nur die Familie, auch der Film möchte mit den Flüchtlingen lieber nichts zu tun haben. Wo vorher noch ein Code – wenngleich ein unbekannter – die Begegnung ermöglicht hat, bleibt nur noch eine Verriegelung ohne jeden Zugangsschlüssel. Die Schlussszene im Strandrestaurant ändert daran nichts, sondern beweist noch einmal, dass die Flüchtlinge ausschließlich dem Voranbringen einer Narration dienen – sowohl für die Figuren als auch für den Film selbst.

Die Abkehr von der gravitas der Bilder hätte eine Chance sein können. Stattdessen macht sie nur deutlich, dass gerade diese gravitas eine Kernkompetenz und -qualität des Werks Hanekes ausmacht, die man nur ungern gegen eine schwarzhumorige Gleichgültigkeit ausgetauscht wissen möchte. Sicherlich wollte sich Haneke durch diesen auffälligen Bruch von seinem bisherigen Werk absetzen, etwas Neues probieren, ohne damit aber alle Kontinuitäten zu verwerfen. Nur leider funktioniert das, was bisher so wunderbar funktioniert hat, unter dem neuen Vorzeichen nicht mehr. Das meisterliche periphere Erzählen früherer Filme ersetzt ein abgeklärter, altkluger Modus der beiläufigen Erwähnung. Statt gleichzeitig für sich zu stehen und in eine zusehends eskalierende Handlung eingebunden zu sein, bleiben die Fragmente hier entweder zusammenhangslos oder sind allzu zielführend. Der irreführende Titel Happy End lässtnoch einmal an den programmatischen Bresson-Essay denken, der mit dem rätselhaften Satz schließt: „In der Aussparung des gezeigten Glücks bekommt das Wünschen Flügel, und für die glückhafte Sekunde der Betrachtung ist der Schmerz in seiner Ikone gebannt.“ Mochte das für die früheren Haneke-Filme zutreffen, entspricht Happy End eher der ungenauen englischen Übersetzung: „By leaving out the portrayal of happiness, wishing grows wings, and for the happy moments of viewing, pain, through its depiction, is made bearable.“ Ja, auch diesmal entfällt „the portrayal of happiness“, doch steht anstelle der Ikone nun eine ‚depiction‘, anstatt des Gebannt-seins nun eine ‚bearability‘. So nimmt Haneke Abschied von Schrecken und Utopie der Form. Für sein Werk wäre das kein glückliches Ende.

Happy End
Frankreich/Deutschland/Österreich 2017
Regie & Drehbuch: Michael Haneke
Darsteller: Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Mathieu Kassovitz
ab 29.03.2018 auf DVD

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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