Theater mit Hakenkreuzen

Der „Fall Konstanz“ als Beispiel für Skandalgeschichten und Erinnerungskultur

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Am 18. April 2018 führte eine Inszenierung von George Taboris „Mein Kampf“ am Theater Konstanz zu einer Meldung in der New York Times: „Get In Free if You’ll Wear a Swastika: A German Theater’s Provocation“ (Autor: Christopher F. Schuetze). Innerhalb weniger Tage hatte der Streit über die geplante Aufführung den Weg von der regionalen in die internationale Presse gefunden. So rasch und heftig er entflammt war, so schnell war er verklungen. Nach der Premiere erschienen etwas mehr Kritiken als es für ein Stadttheater erwartbar wäre: Etwa 30 Journalist*innen aus dem In- und Ausland nahmen an der Premiere teil. Doch weder sorgten die weiteren Aufführungen für Schlagzeilen noch die begleitenden Gespräche, die anlässlich der Aufregung ab Mai ad hoc ins Programm aufgenommen worden waren. Alles also ‚viel Lärm um nichts’? Nein. Die kurze, aber heftige Debatte über die Konstanzer Inszenierung ist ein Theaterskandal, der nun, nachdem die letzte Vorführung vorbei ist, eine genauere Betrachtung verdient.

Wie fast immer in Literatur- oder Theaterskandalen lassen sich exemplarisch verschiedene Antworten auf die Frage ‚Was darf Kunst?ʻ besichtigen, die auch diesmal zur grundsätzlicheren Frage ‚Was vermag Kunst?’ führt, hier das politische Theater. Zum anderen ist der Fall Konstanz interessant, weil das skandalisierte Objekt ungewöhnlich ist. Es ging nämlich nicht im eigentlichen Sinne um eine Inszenierung: weder um die Stückewahl, also Taboris Theatertext, in dem ein zur Zeit der Uraufführung 1987 selbst noch als äußerst provokativ empfundendes Szenario über die Entwicklung des jungen Adolf Hitler entworfen wird, noch um die Regiearbeit von Serdar Somuncu und ihr Ergebnis. Das Für und Wider seines zeitgenössisch-aktualisierenden Zugriffs auf Taboris Text, der laut Rezensionen u.a. Theresa May und Donald Trump hinzufügte, wurde erst nach der Premiere erörtert. Ebensowenig hat ein irgendwie im Vorfeld bekannt gewordenes Inszenierungsdetail für Irritationen gesorgt.

Gestritten wurde über eine außergewöhnliche Aktion im Vorfeld der Inszenierung: Wer eine Karte für „Mein Kampf“ erwerben wollte, wurde auf der Homepage des Theaters darüber informiert, dass dem Kauf eine Entscheidung vorausgehe. Das Publikum solle sich verpflichten, während des Theaterbesuchs entweder ein Hakenkreuz oder einen Davidstern zu tragen. Diese Entscheidung wurde mit unterschiedlichen Preisen für den Kartenkauf verknüpft: Davidstern tragen bedeutete, für die Karte zu zahlen, Hakenkreuz tragen hieß, umsonst ins Theater zu kommen. Die Premiere war für den 20. April geplant. Das Theater kündigte somit auf seiner Homepage an, dass es am Geburtstag Adolf Hitlers ein Davidsterne oder/und Hakenkreuze tragendes Publikum im Theater zu sehen erwarte.

Das Zurschaustellen des Hakenkreuzes, eines verfassungswidrigen Symbols, nicht auf der Bühne, sondern im Publikum? Hakenkreuz und Davidstern an Hitlers Geburtstag? Einem Tag, an dem sich jedes Jahr die rechtsextreme Szene trifft und stolz verbotene Nazisymbole direkt oder mäßig abgewandelt präsentiert – wie auch dieses Jahr wieder im sächsischen Ostritz? Dass eine solche Ankündigung als provokativ empfunden und nicht nur ein paar kritische Kommentare, sondern heftige Reaktionen hervorrufen würde, war vorhersehbar. Diese Art der Aufmerksamkeit zu wecken, war offenbar als Bestandteil der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit einkalkuliert. Die Ankündigung war jedoch mehr als nur eine PR-Strategie, da ihr vom Theater Bedeutung für den Abend des Theaterbesuchs selbst zugesprochen wurde: Indem die Zuschauer*innen vorab eine Entscheidung treffen sollten, wie sie am Abend der Aufführung in Erscheinung treten möchten, wurde der Kartenkauf zu einer gedanklichen Vorbereitung und Einstimmung, ja zu einer Frage der Einstellung zum Besuch von „Mein Kampf“ erklärt. Dem Kartenkauf wurde also der Charakter eines politischen Events zugesprochen, das sich unmittelbar mit der Inszenierung verknüpfte, und das Publikumsverhalten sollte als Teil der Aufführung begriffen werden. Diese Verbindung ist das zentrale Argument dafür, dass es sich um einen Theaterskandal handelt und nicht nur um einen PR-Skandal. In Konstanz ging es ganz konkret um den Raum des Theaters: Eine einzelne Inszenierung wird als Beitrag zu einer politischen Debatte beworben und das Theater proklamiert auf diese Weise, dass es sich als politisches Theater, d.h. als einen Ort der Aushandlung gesellschaftspolitischer Probleme wie Antisemitismus und Rassismus versteht.

Was sind Skandale und wie beschreibt man Skandalkommunikation?

Es geht also ums Theater und nicht ‚nur’ um PR: Aber in welcher Weise ist die Debatte über die Konstanzer Inszenierung ein Fall für eine Skandal-Geschichte und damit mehr als nur eine von vielen Debatten über das politische Theater der Gegenwart?

Der Begriff Skandal steht manchmal selbst im Verdacht, diskreditierendes Potential zu haben und also eine Form von Skandalisierung zu sein. Deshalb kann man zunächst feststellen: Skandale sind nicht nur häufig, sie sind auch nichts an sich Schlechtes oder Verwerfliches. Eine Art Kurzbeschreibung lautet: Skandalkommunikationen lassen sich als Kristallisationspunkte für strittige, gesellschaftlich als relevant angesehene Fragen begreifen. Zweifelsohne gibt es neuere Tendenzen in Skandalkommnikationen, die man grundsätzlich kritikwürdig finden kann, beispielsweise wenn Privatpersonen betroffen sind, deren Verhalten zum kurzfristigen Amüsement öffentlich skandalisiert wird. Solche Formen des vor allem im Internet verbreiteten Voyeurismus sind hier jedoch nicht gemeint (vgl. dazu z.B. Bernhard Pörksen und Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Köln 2012).

Was macht einen Skandal aus? Skandale finden in der Öffentlichkeit statt und funktionieren nach einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dass jemand sagt: ‚Ich finde diese Aktion skandalös’, bedeutet noch nicht, dass es sich um einen Skandal handelt. Eine einzelne Meinung und Empfindung ist nicht entscheidend. Erst, wenn eine solche Äußerung Wirkung entfaltet und sich auf diese Weise eine Skandalkommunikation in den Massenmedien entwickelt, handelt es sich um einen Skandal. In den Anschlusskommunikationen an eine Skandalisierung finden sich typischerweise Pro- und Contra-Standpunkte, in denen der Vorwurf mit Gründen bestätigt oder bestritten wird. Diese Argumente, die Dynamik, Frequenz und Charakter des Streits sind Gegenstand der Skandalforschung.

Dies klingt sehr formal, daher muss man betonen, dass Skandale immer Interpretationsleistungen sind. Skandal-Analysen widmen sich den unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen, die innerhalb einer Debatte vorgenommen werden. Grundlage der Analyse bilden die Standpunkte, die in der massenmedialen Berichterstattung vermittelt werden, d.h. in Artikeln, Kommentaren, Berichten über Pressekonferenzen etc. direkt zitiert oder indirekt präsentiert werden. Zu beschreiben sind Verlauf, Akteur*innen und Argumentationsmuster, Wirkungsabsichten und Wirkungsmodi. Diese Aspekte greifen de facto ineinander, da kommunikative Prozesse immer dynamisch sind und Bedeutungszuweisungen daher mehrfach neu in einer Art Reiz-Reaktions-Zusammenhang ausgehandelt und neu bestimmt werden. Dies alles zusammen bildet die Skandalkommunikation.

Wie verhält sich dies nun im Fall Konstanz? Hier wurde die Hakenkreuz-Davidstern-Kostümierungsidee skandalisiert, und es wurde über die Erklärungen des Theaters zu ihrer Maßnahme gestritten. Damit wurden unterschiedliche Bedeutungen der Aktion öffentlich verhandelt. Die emotional aufgeladenen Pro- und Contra-Standpunkte nahmen quantitativ innerhalb eines kurzen Zeitraums stark zu, so dass eine hohe mediale Aufmerksamkeit für das Thema und die darin verhandelten Standpunkte vorhanden war. Dies qualifiziert den Streit als Skandal.

Inhaltlich betrachtet, konzentrierte sich die Auseinandersetzung wesentlich auf zwei Symbole, die auf verschiedene Weise mit der NS-Geschichte verbunden sind: historisch unmittelbar das Hakenkreuz, dessen öffentliches Zeigen verboten ist, indirekt der Davidstern, der ein religiöses Symbol für das Judentum ist und zugleich (nicht nur, aber insbesondere im Zusammenhang mit der Thematisierung der NS-Geschichte) an die Opfer des Holocaust erinnert. Im Zentrum stand die Frage, ob diese Aktion die Grenzen des Zumutbaren und des Erlaubten sowohl in einem juristischen als auch in einem moralischen Sinn überschritten habe. Den Kontext des Skandals bilden deshalb die Vergangenheits-‚Bewältigung’ und Vorstellungen vom politischen Theater der Gegenwart, das zu diesem Diskurs einen Beitrag zu leisten versucht.

Der Fall Konstanz reiht sich damit ein in eine Geschichte der Skandale in der Bundesrepublik, deren zentrale mobilisierende Momente die NS-Vergangenheit und die Shoah und, mit zunehmendem zeitlichem Abstand und fortschreitender juristischer und politischer Aufarbeitung, der Umgang mit dem Erbe der NS-Geschichte in der Erinnerungskultur waren. Dass darin neben politischen Skandalen insbesondere Literatur- und Theaterskandale einen bedeutenden Raum einnehmen, ist nicht überraschend: Schließlich stellt das Feld der Kultur seit jeher einen zentralen Schauplatz gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse dar: Künstler*innen wiesen mit ihren Werken auf die Leugnung, Tabuisierung und fehlende Aufarbeitung der NS-Zeit hin – man denke etwa an Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ oder Peter Weiss „Die Ermittlung“ – oder befragten ab den 1980er Jahren kritisch etablierte Erinnerungsnarrative oder Darstellungsformen. Öffentlich gestritten wurde bzw. wird jeweils über die Gültigkeit von Normen bzw. über Normkonflikte etwa in Täter-Opfer-Beziehungen oder über Begriffe wie Schuld vs. Schande und über kollektive, meist nationale Identitäten. Ob ein Skandal produktive Effekte für die diskursive Selbstverständigung hat, lässt sich oft erst im Nachhinein bestimmen. Skandale, die zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung verhärtete Fronten erst herstellen oder vertiefen, können im Rückblick als wichtige Schritte zu einer reflexiv-kritischen Selbstvergewisserung der Gesellschaft über die nationale Erinnerungskultur betrachtet werden. Diese Bewertung kann sich allerdings auch wieder ändern, und dies macht bewusst, dass die Skandalisierung bestimmter ästhetischer Mittel oder Themen vom Resonanzraum abhängt, in dem sie stattfindet. Dies ist ein Grund dafür, weshalb die Forschung (siehe die Literaturhinweise unten!) dazu tendiert, Skandale weniger als problematisch-nerviges denn als ein für die demokratische Auseinandersetzung wichtiges Moment öffentlicher Kommunikation anzusehen.

Mit dem Schlagwort der Interpretationsleistung sollte deutlich geworden sein, dass die Bezeichnung einer Debatte als Skandalkommunikation keine negative Wertung darstellt. Dies ist übrigens eine der entscheidenden Veränderungen innerhalb der Skandalforschung: Einige ältere Beiträge zur Skandalforschung gingen davon aus, dass die/der Untersuchende bewerten muss, ob tatsächlich ein Normbruch vorlag. Daher unterschied sie zwischen berechtigten und unberechtigten Skandalisierungen. Heute betont man dagegen, dass es nicht notwendig einen Normbruch gegeben haben muss, um von einem Skandal sprechen zu können. Es hängt also nicht von den Ansichten der Beobachter*innen ab, ob etwas ‚wirklich skandalös’ war – aus eigener Sicht und vor dem Hintergrund eigener Normvorstellungen. Die Analyse soll vielmehr nachzeichnen, wie ein Skandal als soziale Interaktion funktioniert: Eine Rede oder ein Theaterstück – in diesem Fall zusätzlich die Idee für das Marketing dieses Theaterstücks – wird öffentlich als skandalös verhandelt, ein Normbruch behauptet. Ob es diesen Normbruch gegeben hat, kann selbst Teil des diskursiven Aushandlungsprozesses sein. Skandale sind eben soziale Konstruktionen. Wie immer gilt auch hier: Wir machen die Welt. Daher nennt man diese Ansätze auch konstruktivistische oder interaktionistische Skandalforschung. Ihre Aufgabe ist es, ein ‚doing scandal’ zu beschreiben.

Daraus folgt nun umgekehrt nicht, dass Beobachter*innen keinen qualifizierenden, bewertenden Standpunkt einnehmen könnten: Es bedeutet aber, dass ich als Wissenschaftler*in die Ereignisse in Konstanz auch dann als Skandal beschreiben würde, wenn ich persönlich der Meinung wäre, dass es gar keinen Normbruch gab – denn es fand eine Skandalkommunikation statt.

Die schon genannten Rollen der Akeur*innen in einer Skandalkommunikation bilden eine Trias: Skandalisierer*innen, Skandalisierte und das Publikum als interessierte Dritte. Außerdem finden sich typische Elemente: Es gibt ein Verhalten, das als skandalös erachtet wird, es gibt jemanden, der einen Normbruch ‚aufdeckt’ bzw. öffentlich benennt, es wird öffentlich eine bestimmte Bewertung eines Verhaltens vorgenommen, der Normbruch wird geächtet, gerechtfertigt oder zeitigt sonstige konkrete Folgen. In einer konstruktivistischen Perspektive sind diese Komponenten nicht als zeitliche Reihenfolge zu denken, d.h. es gibt kein festes Strukturschema von Tat, Aufdeckung der Tat, öffentliche Erregung. Denn wenn kein Normbruch ‚objektiv’ vorliegen muss, kann er auch nicht als erstes Glied in einer Handlungskette gedacht werden, wo ihn noch die alte Skandalforschung positioniert hatte. Unabhängig davon ist zu beachten, dass sich auch einzelne Elemente stark unterscheiden können, das betrifft insbesondere etwaige Konsequenzen in Bezug auf politische und künstlerische Skandale. In diesem Fall beendete das Theater die skandalisierte Aktion und verzichtete auf die Umsetzung.

Skandale haben also einige typische Elemente und Aspekte, aber jeweils heterogene Anlässe und Eigendynamiken, die im Einzelfall zu betrachten sind. Der erste Blick gilt nun der Dynamik, Frequenz, Dauer und den Akteur*innen im Fall Konstanz. Anschließend werde ich, da hier nicht der Raum ist, die Stimmen im Einzelnen zu beschreiben, im zweiten Schritt summarisch zu meiner Analyse übergehen. Diese Interpretation geht auch auf meine eigene Position im Verlauf des Skandals ein.

Auf Provokation folgt Reaktion

Am 10. April berichtete die Schwäbische Zeitung online unter dem Titel „Mit Hakenkreuz und Davidstern ins Theater“ von der Ankündigung des Theaters und veröffentlichte einen kritischen Kommentar der Redakteurin Barbara Miller „Warum ich nicht ins Theater gehe“. Am 12.4. erschien im Südkurier bereits der erste Artikel, der mit der Überschrift „Proteste gegen die Aufführung“ die Kritiker*innen und ihre Standpunkte ins Zentrum rückte. Die Proteste wurden dabei als massiv charakterisiert. Zu den Kritiker*innen, die in diesen und nachfolgenden Artikeln als Akteur*innen genannt wurden, gehörten Privatpersonen u.a. aus der Jüdischen Kultusgemeinde, die Deutsch-Israelische Gesellschaft in der Bodensee-Region und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die das Theater Konstanz in einem offenen Brief kritisierten, sowie der Freundeskreis des Theaters und der Bürgermeister, die sich öffentlich distanzierten. Die Einwände dieser Personen und Institutionen richteten sich im Wesentlichen gegen das Zurschaustellen nationalsozialistischer Symbolik und deren Instrumentalisierung für eine PR-Aktion. Dies wurde als Verunglimpfung der Opfer des Holocaust bewertet. Berichtet wurde zu einem frühen Zeitpunkt auch, dass bei der Staatsanwaltschaft Anzeigen gegen die Verwendung des Hakenkreuz-Symbols erstattet worden waren.

Der bewusst provozierende Umgang mit den Symbolen Hakenkreuz und Davidstern wurde als Normbruch etikettiert und innerhalb der Skandalkommunikation von den Kritiker*innen als auslösendes Moment des Skandalgeschehens benannt. Die contra-Argumente veränderten sich in den folgenden Tagen nicht wesentlich. Neu hinzu kamen Bewertungen der Reaktionen seitens des Theaters. Die Argumente, die vom Regisseur Serdar Somuncu und dem Intendanten Christoph Nix für das Theater vorgebracht wurden, veränderten sich dagegen deutlich. Dies ist erwartbar, insofern ja am Ende ein Wechsel der Position stattfand. Überraschend ist allerdings, dass die Veränderungen wichtige Details der eigenen Aktion und deren legitimierende Begründungen betreffen.

Die Verlautbarungen des Theaters changierten bis zum Tag der Premiere zwischen Erklärungen der erhofften theatralen Wirkung, Rechtfertigungen der eigenen politischen Motivation und Funktion eines politischen Theaters – ‚Theater muss provozieren’ –, schlichter Abwehr und Delegitimation von geäußerter Kritik bis hin zur Beschimpfungen von Kritiker*innen (in der Pressekonferenz am 17.4.), die die Aktion angeblich absichtlich missverstünden und fehldeuteten. Dies wurde begleitet von schrittweisen Zugeständnissen an die Kritik und der Versicherung, dass man nicht die Absicht gehabt habe, Gefühle zu verletzen. Zwischen dem Intendanten Christoph Nix und dem Regisseur Serdar Somuncu schien es dafür zwischenzeitlich eine Art Arbeitsteilung zu geben – Nix stärker beschwichtigend bis vorsichtig entschuldigend, Somuncu kämpferisch-verteidigend-beharrend.

Für Dynamik und Verlauf dieses Falles war die Art und Weise, wie das Theater Konstanz mit Kritik umging, von ganz entscheidender Bedeutung. Wenn eine Institution Reaktionen provozierten will, um Aufmerksamkeit zu wecken, muss den Mitgliedern dieser Institution bewusst sein, dass sich weder die Menge noch die Art der Reaktionen genau vorhersagen oder gar distinkt einhegen lassen. Die Kommunikation des Theaters Konstanz wirkte jedoch, als sei sie genau darauf nicht vorbereitet. Sie reagierte vielstimmig und unentschieden. Der späte Zeitpunkt, zu dem das Theater Kritik als relevant und letztlich als berechtigt anerkannte, trug zur Emotionalisierung des Streits bei und sorgte dafür, dass sich die Beiträge zu dieser Debatte innerhalb kürzester Frist vervielfachten.

Wie lässt sich diese ungeschickte Art der Reaktion erklären? Es könnte damit zu tun haben, dass die Streitfrage offenbar schon eine ganze Weile existierte, aber auf den regionalen Raum begrenzt geblieben war. Nur deshalb konnten schon in den ersten Presseberichten bereits mehrere Kritiker*innen genannt werden. Die sich dann ab dem 12. April entwickelnde Dynamik war vom Theater dagegen offenbar nicht vorhergesehen worden. Um einen kleinen Eindruck zu vermitteln: 10.4. Schwäbische Zeitung, 12.4. Südkurier, 13.4. tachles, Südkurier, Stuttgarter Nachrichten und Stuttgarter Zeitung, Süddeutsche Zeitung, 14.4. Bayerischer Rundfunk und Deutschlandfunk, 17.4. SWR aktuell und SWR2 Kommentar, Video der Pressekonferenz, Spiegelonline, 18.4. Süddeutsche Zeitung, Deutschlandfunk und 3sat Kulturzeit. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war auch die internationale Presse aufmerksam geworden, und zugleich ergaben sich durch die Ausweitung auf Radio und Fernsehen quantitative und qualitative Veränderungen.

Das Konstanzer Theater fand innerhalb dieser Dynamik zu keinem klaren Krisenbewältigungs-Modus. Das erste Zugeständnis bestand darin, dass sich diejenigen, die eine Karte kaufen, entscheiden durften, ob sie einen Davidstern tragen möchten. Die Freikarten-Hakenkreuz-Aktion sollte jedoch weiterhin verpflichtend sein. Dass damit ausgerechnet der provokativste und am meisten öffentlich kritisierte Bestandteil der Aktion unverändert blieb, deutet darauf hin, dass überhaupt keine Exit-Strategie vorbereitet worden sein könnte. Erst am Tag der Premiere erklärte das Theater, dass auf die gesamte Aktion verzichtet werde. Das mediale Echo auf diese Erklärung fiel fast einhellig positiv aus.

Mehrdeutigkeit und Kampf um Deutungshoheit

Wer Taboris Drama über Hitler auf den Spielplan setzt, signalisiert, dass sich Zuschauer*innen mit Erinnerungskultur und dem Umgang mit der NS-Geschichte befassen sollen. Trotzdem muss auch hierfür erst einmal Aufmerksamkeit geschaffen werden. Dies ist mit Provokationen effektvoll zu bewerkstelligen, und von politischem Theater wird ein gewisses provokatives Potential auch erwartet. Die Wahl des Stückes von Tabori macht das nur noch naheliegender: Schließlich ist George Tabori selbst dafür berühmt, dass er Erwartungshaltungen und Darstellungstraditionen durchkreuzte und in aufklärerischer Absicht provozierte, um das Publikum mit sich selbst zu konfrontieren. Theater darf also nicht nur selbstverständlich provozieren, es soll, ja es muss sogar. Doch mit welchen Mitteln geschieht dies? Welches Ziel sollte in Konstanz damit erreicht werden, dass sich das Publikum für eines der beiden Symbole entscheiden und es in der Inszenierung tragen sollte? Im Folgenden benenne und bewerte ich die vorgetragenen Standpunkte und Begründungen.

Die wichtigte, vielfach wiederholte Begründung des Theater Konstanz für diese Aktion lautete: Man habe mit der Verknüpfung von Preisgestaltung und Symbolen die Korrumpierbarkeit von Menschen zeigen und zum Nachdenken über Verführbarkeit anregen wollen.

Die Kritik konzentrierte sich auf den Umgang mit dem Hakenkreuz-Symbol, der als grenzüberschreitend und normverletzend etikettiert wurde. Darüber hinaus wurde auch die Kombination von Davidstern und Hakenkreuz für das Publikum verurteilt. Auf Ersteres war das Theater vorbereitet: Man habe vorab rechtlich prüfen lassen, ob die Verwendung des Hakenkreuzes im Raum des Theaters rechtlich zulässig sei. Am 18.4. wurde dies gerichtlich bestätigt.

In der Debatte wog die Frage, ob die Verwendung des Hakenkreuzes moralisch legitim sei, schon vor dieser Entscheidung schwerer als die Frage, ob sie legal sei. (Beiseite gesprochen: Ich wüsste trotzdem immer noch gerne, wie das Gericht zu dieser Auffassung kam. Ein im Zuschauerraum passiv sitzendes Publikum als Mitwirkende an der Inszenierung zu begreifen, obwohl dieses Publikum in keiner Weise in das Bühnengeschehen involviert ist – davon war seitens des Theaters nämlich nie die Rede –, scheint mir eher gewagt.) Das zentrale Argument der Kritiker*innen war: Aus Respekt vor den Opfern des Holocaust und deren Angehörigen verbiete es sich, das Hakenkreuz bzw. beide Symbole in dieser Weise zu verwenden. Diese moralisch-ethische Kritik wird an einer einfachen Frage eindringlich deutlich: Wie soll sich ein jüdischer Mensch fühlen, wenn er in einem Theater sitzt, umgeben von einer Mischung aus Hakenkreuzen und Davidsternen? Die Gefühle der jüdischen Bürger*innen waren im Vorfeld offensichtlich überhaupt nicht im Blick gewesen. Um so verheerender wirkte es, dass Somuncu, konfrontiert mit der Kritik, darauf beharrte, dass der Davidstern als ein Zeichen für die Solidarität mit Israel und den Opfern des Holocaust verstanden werden müsse. Der Brisanz des Hakenkreuzes dagegen war sich das Theater sehr bewusst, wie die rechtliche Vorab-Klärung zeigt. Gleichwohl wurde hier deutlich defensiver argumentiert als in Bezug auf den Davidstern: So beteuerten Regisseur und Intendant, sie seien davon ausgegangen, dass sich niemand tatsächlich eine Hakenkreuz-Freikarte holen würde. Es sei lediglich um einen Denkanstoß gegangen. Allerdings wäre die Idee, dem Publikum vorführen zu können, wie korrumpierbar Menschen heutzutage sind, gescheitert, wenn wirklich niemand eine Hakenkreuz-Freikarte besorgt hätte.

Dem Versuch des Theaters, auf der Eindeutigkeit seiner Zuschreibungen zu bestehen, wurde von Kritiker*innen vehement widersprochen. Weder lässt sich das Zeichen Hakenkreuz auf die Bedeutung Korruption festlegen, noch umgekehrt der Davidstern zum Symbol von Solidarität erklären. Dass Menschen die Gelegenheit einfach nutzen könnten, um umsonst ins Theater zu kommen, wäre eine Deutung (wer hätte sie auch zwingen können, das Hakenkreuz dann tatsächlich zu tragen?), eine andere, dass die Aktion als eine Einladung zum straffreien Tragen eines Hakenkreuzes gelesen wird (Mutig ist, wer ein Hakenkreuz trägt – sonst bräuchte es ja keine Belohnung durch eine Freikarte?). Welches Publikum wollte das Theater also an diesem Abend ins Theater locken? Das Theater Konstanz musste sich fragen lassen, ob es über die öffentliche Wirkung dieser Aktion überhaupt nachgedacht hatte: Selbst wenn das Theater darauf bestand, dass letztlich nur Davidsterne hätten getragen werden sollen: Wäre das für jüdische Besucher*innen akzeptabler? Sie wären konfrontiert mit Nachfahren von Täter*innen, die sich einen Davidstern anheften. Damit stand die Frage im Raum, ob es nicht genau entgegengesetzt zur proklamierten Deutung des Theaters sogar problematischer sein könnte, wenn nichtjüdische Deutsche statt eines Hakenkreuzes den Davidstern annehmen und sich nur, weil sie ihre Karte bezahlen, mit den Opfern solidarisch erklären, also auf die ‚richtige Seite’ der Geschichte schlagen. Umgekehrt stellte sich die Frage: Könnte das Angebot einer Freikarte nicht auch als eine Einladung wirken, geradezu als eine Lizenz zum straffreien Tragen eines Hakenkreuzes an einem Tag, an dem zeitgleich Rechtsradikale und Neonazis den Geburtstag des ‚Führers’ feiern? Tatsächlich erschien es nicht unwahrscheinlich, dass sich Rechtsradikale zum Hakenkreuz-Tragen verabreden könnten.

Die Einwände machen deutlich, dass es dem Theater in keiner Weise gelang, eine eindeutige und abgeschlossene Bedeutung seiner Aktion zu vermitteln. Während sich in Kommentaren überwiegend kritische Stimmen zu Wort meldeten, gab die Presse-Berichterstattung Einblicke in kontroverse Positionen und berichtete über Veränderungen des Konzepts seitens des Theaters. Auch in der um Ausgewogenheit bemühten Berichterstattung wurde deutlich, dass die Aktion vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im Allgemeinen und speziell mit Blick auf das gewählte Datum durchaus unterschiedliche Interpretationen zuließ.

Die Kritikpunkte betrafen durchgängig eben die Kernthemen, die das Theater selbst ins Spiel gebracht hatte: moralische Verantwortung im Umgang mit Geschichte und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Dass sich hier keine Veränderungen und Erweiterungen auf grundsätzliche Standpunkte der Vergangenheits-‚Bewältigung’ ergaben, wie dies für Skandale durchaus typisch ist, dürfte vor allem dem kurzen Zeitraum geschuldet sein. Konstitutiv für die Dynamik des Skandals war zweifelsohne das Beharrungsvermögen, das insbesondere Somuncu in der Verteidigung der Aktion zeigte. Er versuchte, die Eindeutigkeit der eigenen Aktion zu behaupten, die Deutungshoheit zu behalten und auf diese Weise Kritik für illegitim zu erklären. Auf der Basis dieser Haltung konnten auch Entschuldigungen, die durchaus geäußert wurden, nicht die erwünschte Resonanz finden. Christoph Nix bedauerte etwa, dass er nicht besser kommuniziert habe, dass die Inszenierung „gegen Rassismus, Rechtsradikalismus und den neuerdings wieder erstarkenden Antisemitismus ein Zeichen setzen“ wolle. Wie sich dieses Ziel in den Rahmen der Symbol-Verwendung einordnen sollte, machte die Entschuldigung allerdings nicht klar. Ebenso wenig leisteten dies die in der Presse kursierenden Veränderungsvorschläge. So zitiert der „Stern“ am 18.4.2018 („Theater führt ‚Mein Kampf’ auf und verspricht Hakenkreuz-Trägern Freikarten“) Somuncus Vermutung, dass man möglicherweise keine Hakenkreuze verwenden werde: „Wie genau die bei den Aufführungen verwendeten Symbole – sowohl Hakenkreuz als auch Davidstern – aussehen sollen, gibt das Theater derzeit ohnehin noch nicht preis. ‚Das werde erst noch entschieden’, sagte Somuncu vage. ‚Wir sind noch im aktiven Prozess der Inszenierung – es kann auch sein, dass wir am Ende die Zuschauer dazu aufrufen werden, sich eine Mickey Maus anzuheften.’“

Damit nicht genug an verstörenden und eigenartigen Erklärungen. Intendant Nix wies die Idee der Davidsterne Somuncu zu: „Er bezieht sich darauf, auf Aktionen, an denen er beteiligt war im Konzentrationslager Buchenwald, wo die Personen, die mitgehen auf diesen Märschen, im Gedenken auch sich den Davidstern an das Revers heften als ein Ausdruck von Verbundenheit. Das hat nicht er erfunden, sondern er hat es im Grunde genommen aus einem eigenen Erlebnis hierher transportiert.“ (Deutschlandfunk: „Ich hoffe, die ganze Geschichte deeskaliert“, Nix im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske, Deutschlandfunk vom 18.4.) Damit widersprach er einem Bericht in „Der Spiegel“, der Intendant habe das gesamte Konzept, also Symbole und Aufführungsdatum, entschieden. Ersteres korrigierte „Der Spiegel“ zwar, gleichwohl blieb es dabei, dass sich Somuncu von der Wahl des Datums distanzierte: Er hätte davon abgeraten, weil „dieser Tag eine Symbolwirkung hat. Das Datum ist provokant, aber wir werden sehen. Ich hoffe, dass nichts Schlimmes passiert, vorbereitet sind wir auf jeden Fall.“ (Spiegel online: „Mein Kampf in Konstanz“, 17.4.2018) Angesichts einer derart inkonsistenten und teilweise widersprüchlichen Argumentation nimmt es nicht wunder, dass sich das Theater mit seinen Deutungen nicht durchsetzen konnte. Es schien, als werde sehenden Auges ein „Tabu-Bruch“ (so auch O-Ton Nix, Deutschlandfunk, 18.4.) begangen und als wolle man diesen mit aufklärerischen Intentionen rechtfertigen.

Sollten Nix und Somuncu sich am Ende nur dem öffentlichen Druck gebeugt haben, um Schaden vom Theater abzuwenden, und wirklich nicht verstanden haben, warum man mit der Hakenkreuz-Aktion am Geburtstag des ‚Führers‘ kein Zeichen gegen Antisemitismus setzen kann, haben sie wirklich viel aufzuarbeiten im Umgang mit der NS-Vergangenheit und ihren Symbolen in Deutschland.

Es war jedenfalls konsequent, dass allein die Rücknahme des gesamten Konzepts die erwünschte Beruhigung brachte und einen dauerhaften Image-Schaden vom Theater Konstanz abwendete. Den meisten Rezensent*innen der Premiere war die Erleichterung darüber anzuhören, dass es keinen Eklat gab. Zu meinem Erstaunen überwog dabei die Dankbarkeit gegenüber dem Theater, das am Abend ‚nur’ Konfetti regnen ließ. Die vielen Akteur*innen, die von Beginn an die geplante Aktion verurteilt hatten, wurden kaum noch einmal in der Berichterstattung erwähnt.

Perspektivwechsel, auch in eigener Sache

Will man sich vorstellen, wie das Theater diese Zeit erlebte, spielen nicht nur Frequenz und Tenor der Berichterstattung in Zeitungen, Radio und Fernsehen eine Rolle, die ich bislang für die Beschreibung der Skandalkommunikation genutzt habe. Zum vollständigen Bild gehören ebenso zahllose private Anfragen und Kommentare auf unterschiedlichsten kommunikativen Wegen. Einen Eindruck davon vermittelt ebenfalls die Presseberichterstattung, die über die Kommunikation in den Sozialen Medien berichtete. Auf diese Weise fanden zwei meiner Tweets Eingang in Online-Berichte (zu diesem Zeitpunkt war die Schar der Kritiker*innen auf Twitter offenbar noch relativ übersichtlich). Nachdem ich am 12. April zunächst ein Interview mit Somuncu gelesen hatte und anschließend auf die Artikel in der Schwäbischen Zeitung online online, im Südkurier sowie auf den Eintrag auf der Homepage des Theaters Konstanz stieß, war meine erste Reaktion: Empörung. Meine zweite, mich dazu zu Wort zu melden: Mit NS-Geschichte in der deutschsprachigen Literatur beschäftige ich mich seit Langem in Forschung und in der Lehre. Ich schrieb auf Twitter:

Insgesamt verfasste ich, wenn ich richtig gezählt habe, 26 Tweets, von denen ich einige direkt an das Theater Konstanz schickte. Ich kommentierte die Ankündigung und die Entwicklung der Debatte, d.h. vor allem Reaktionen des Theaters, schrieb aber auch allgemein über Tabori oder erklärte, warum ich mich innerhalb weniger Tage so häufig zu Konstanz äußerte. Die PR-Aktion des Konstanzer Theaters war für mich Teil des gesellschaftlichen Problemfeldes Vergangenheits-‚Bewältigung’, das innerhalb weniger Wochen besonders dramatisch und vielgestaltig sichtbar wurde: Es reichte von der Echo-Ehrung für antisemitische Rap-Musik bis zu einer vom MDR Sachsen angesetzten Diskussion über ‚politische Korrektheit’, deren Teaser das N-Wort enthielt.

Nun ging es allerdings auch Somuncu und dem Theater Konstanz bei der Idee, Taboris Stück zu aktualisieren, um genau diese Frage: Wie steht es um das politische Klima? Wie verbreitet sind und als wie ‚normal’ gelten rassistische Äußerungen? Offensichtlich wollte sich das Standtheater im lokalen Raum zu größeren gesellschaftlichen Diskursen klar positionieren. Eben das aber wirft die Frage auf: Wie kann man, wenn man über solche Fragen nachdenkt, auf die Kostümierungsidee mit Hakenkreuz und Davidstern verfallen?

Die Antwort auf diese Frage dürfte im Umgang mit und in der Präsenz von Geschichte als Teil der Unterhaltungskultur zu finden sein. Wer die Frage ‚Was vermag Kunst?’ stellt, meint das politische Theater der Gegenwart im Allgemeinen. Das ist aber zu abstrakt gedacht. Eben dieses Theater steht in einem Konkurrenzdruck der Aufmerksamkeit. Somuncu war mit Lesungen von Hitlers „Mein Kampf“ in Deutschland erfolgreich getourt. Die Inszenierung am Theater Konstanz sollte zweifelsohne ähnlich Aufsehen erregend und erfolgreich werden. Der Name des Dramatikers Tabori oder das Thema „Drittes Reich“ und Hitler an sich scheinen Somuncu und dem Theater Konstanz dafür nicht genügt zu haben.

Dass die Art und Weise, wie Aufmerksamkeit erzeugt werden sollte, moralisch verfehlt war, bedeutet nicht, dass die Überlegung, nach Mitteln zur Erzeugung von Aufmerksamkeit zu suchen, falsch gewesen wäre. Theaterliebhaber*innen kennen Tabori zwar, doch wenn man mit Studierenden der Germanistik ein Seminar über Darstellungstraditionen des Holocaust im deutschsprachigen Theater macht, muss man mittlerweile erklären, warum man dabei nicht auf ihn verzichten kann: George Tabori war Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre einer der bedeutendsten Regisseure und viel gespielter Autor auf deutschen Bühnen und zählt damit, obwohl er fast alle Texte auf englisch schrieb, selbstverständlich zur deutschen Theater- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der Spielmacher Tabori gehört notwendig dazu, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, welche Geschichten das Theater von der Shoah und über das „Dritte Reich“ erzählt(e) und wie dies rezipiert wurde. Seit Taboris „Kannibalen“ das Publikum verstörte, hat sich die Erinnerungskultur stark gewandelt. Taboris Perspektive auf die Entwicklung Hitlers trifft deshalb heutzutage auf einen vollständig anderen Resonanzraum als zur Zeit der Uraufführung des Stücks. Hitler-Darstellungen auf der Bühne und in Spielfilmen haben ihr provokatives Potential seit der Jahrtausendwende nahezu vollständig verloren. Dies wurde spätestens 2004 in den gelassenen und anerkennenden Reaktionen auf Bruno Ganz’ schauspielerische Leistung in „Der Untergang“ (Regie: Oliver Hirschbiegel) deutlich. In der Nachkriegszeit hatte man Auftritte einer Hitler-Figur in Filmen über den Nationalsozialismus möglichst ganz vermieden, da eine solche ‚Vermenschlichung’ Hitlers im Verdacht stand, den Holocaust zu relativieren. Dies hätte das Publikum zweifelsohne noch zu sehr an nationalsozialistische Propaganda-Bilder und -Filme erinnert, die beispielsweise den ‚Führer’ mit seinem Schäferhund Blondi beim Morgenspaziergang zeigten.

Mittlerweile scheint eine genau gegensätzliche Position konsensfähig. Sie wendet sich dezidiert gegen jede Dämonisierung und plädiert für eine menschliche Perspektive, da diese allererst den Zugang zur Schuldfrage eröffne. In diesem Sinne hat auch Karl Ove Knausgård in seinem jüngsten Werk „Kämpfen“ formuliert: „Es ist die Wahl, die uns zu Menschen macht. Das allein gibt dem Begriff Schuld einen Sinn.“ Wer alles, was Hitler tat, bereits in seinen jungen Jahren angelegt sehe, pathologisiere Hitler und verstelle den Weg zum Verständnis seiner Entwicklung. Ob es hilfreich ist, sich so intensiv, wie Knausgård es tut, in die Jugendjahre Hitlers zu vertiefen, ist eine andere Frage. Das Beispiel veranschaulicht jedoch, wie stark sich die Perspektiven auf den ‚Führer’ verändert und vervielfältigt haben. Zwischen kontrafaktischen Geschichten über ‚was geschehen wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte’ bis hin zur ‚Wiederkehr’ des ‚Führers’ in „Er ist wieder da“ muss sich ein Regisseur genau überlegen, wie er für ein Stück über Hitler Aufmerksamkeit schafft. Meine Kritik an Somuncus Idee zielt deshalb auch nicht darauf, dass er versuchte, „Mein Kampf“ als einen kontroversen Beitrag zur Erinnerungskultur und politischen Kommunikation der Gegenwart zu machen. Es geht um die äußerst zweifelhaften Mittel, die eingesetzt wurden, um politisches Theater zu machen, und um die Art und Weise, wie mit kritischen Einsprüchen gegen das Konzept umgegangen wurde. Gerade Letzteres lässt es schwer vorstellbar erscheinen, dass im Vorfeld ernsthaft ein worst case-Szenario durchgespielt worden sein könnte. Tatsächlich hätte dieses Konzept nie mehr als ein Gedankenspiel bleiben können, hätte man jemals im Vorfeld ernsthaft Gegenargumente durchgespielt. Ein Puzzleteil eines solchen Szenarios wäre es gewesen, sich zu fragen, für wen man spielt, d.h. ob man sich Juden als Publikum im eigenen Theater vorstellt und wünscht.

In der Berichterstattung über die Premiere war zu hören, dass in Konstanz „Porzellan zerschlagen“ worden sei (ZDF heute journal vom 20.4.). Ob und welche Langzeitfolgen dieser Streit für das Theater Konstanz haben wird, ist nach der vorläufig letzten Vorführung weiterhin offen. Das Theater hat zwischenzeitlich signalisiert, dass es sich bemühen möchte, dieses Ereignis noch weiter aufzuarbeiten. Das ist, wie ich finde, ein gutes Zeichen.

Ein letztes Wort in einer anderen eigenen Sache: Auch in aktuellen Debatten finden sich immer wieder Stimmen, die dazu raten, Äußerungen und Aktionen, die man nicht gut findet, einfach zu ignorieren. Es sei falsch, darauf zu reagieren, da, wer sich aufrege, die Aufmerksamkeitsökonomie des Skandalisierens bediene. Ignorieren ist jedoch nie eine Alternative. Schweigen sendet stets eine eindeutige Botschaft (man kann eben nicht nicht kommunizieren); in diesem Fall: dass ein Hakenkreuz am Geburtstag des ‚Führers‘ eben irgend so ein Marketing-Gag sei, wie ihn Theater nun einmal machten, und dieser Umgang mit dem Erbe der NS-Geschichte und mit den Gefühlen jüdischer Bürger*innen in Ordnung sein könnte. Auch das nächste Mal heißt es also fragen ‚Wie steht es um unsere Erinnerungskultur?’ und den Finger in die Wunde legen!

Literaturhinweise

Instruktive Hinweise zur literarischen und politischen Skandalgeschichtsschreibung und zum Unterschied zwischen alter und neuer Skandalforschung enthalten z.B.:

Stefan Neuhaus und Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007.

Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt a.M. u.a. 2009.

Andreas Gelz, Dietmar Hüser und Sabine Ruß (Hg.): Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression. Berlin 2014, hier insb. die Aufsätze von Ingeborg Villinger zu medienerzeugten Skandalen und Michael Dellwing zum ‚doing scandal’.