Umgang mit Tieren

Jürgen Körner plädiert gegen die egozentrische Indienstnahme von Tieren wie gegen den völligen Verzicht auf ihre Verwendung

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer häufiger gibt es Meldungen, die das Wohl von Tieren betreffen. Tierschützer fordern, staatliche Videoüberwachung in Schlachthöfen einzurichten, das Kastrieren von Ferkeln ohne Betäubung oder das Schreddern männlicher Küken zu unterlassen. Sie klagen – allerdings nicht immer erfolgreich – angemessene Haltungsbedingungen ein. So etwa entschied das Oberverwaltungsgericht Lüneburg kürzlich, der Schimpanse Robby dürfe in der Familie des Zirkusdirektors Köhler bleiben, in der er seit 1975 lebt. Zwar werde er nicht artgerecht gehalten und leide unter Verhaltensstörungen. Aber – so die richterliche Begründung – es sei nicht verhältnismäßig, „ihn seinen Nächsten zu entreißen“ und in eine Einrichtung zur Resozialisierung verhaltensauffälliger Schimpansen zu schicken. Berichte dieser Art zeigen die Aktualität des vorliegenden Buches. Körner klärt relevante Konzepte der Mensch-Tier-Beziehung. Er beschreibt deren Wandel vom frühen Mittelalter bis heute als Korrelat von Veränderungen der materiellen Lebensbedingungen und als Analogon der kindlichen Entwicklung. Er beschreibt Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Mensch und Tier und wirbt schließlich für seinen Entwurf einer altruistisch-ästhetischen Tierethik.

Grundlegend für die Konzeption des Autors ist die Unterscheidung zwischen Affektansteckung und Empathie. Affektansteckung ist eine den Menschen wie den Tieren angeborene Form gefühlsmäßiger Kommunikation. Sie ist nur innerartlich wirksam, wiewohl Tiere individuell lernen können, die Affektausdrücke anderer Tiere zu nutzen. Empathie ist eine erworbene Fähigkeit, die kognitive Kompetenzen voraussetzt – die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, ein reflexives Ich-Bewusstsein. Kinder verfügen darüber erst ab 4 Jahren. Empathie ist egozentrisch: ‚Ich fühle mich ein‘ heißt ‚Was würde ich an der Stelle des anderen fühlen‘? Im Umgang mit Menschen ist diese Subjektivität durch Einwände korrigierbar, im Verhältnis zu Tieren hingegen unaufhebbar. Dieser Sachverhalt ist wichtig für die Frage nach dem Umgang mit Tieren. Dabei geht es Körner nicht nur um deren materielle Verwendung, etwa als Fleischproduzenten, sondern auch um ihre Nutzung in der Tierliebe. Heimtiere werden nämlich (auch) für die Bewältigung zentraler Grundängste verwendet: die Angst nicht gesehen oder verlassen zu werden, unwirksam oder schuldig zu sein. Da kann ein Tier gute Dienste leisten. So etwa sucht der Hund Nähe und ist treu, lässt sich dressieren und ist nicht nachtragend. Auch das Konzept der Artgerechtigkeit der Tierhaltung problematisiert Körner. Seit Jahrtausenden leben Menschen mit Tieren zusammen. Durch Zucht und Selektion, in neuester Zeit auch durch Genmanipulation, wurde versucht, Tiere an die für Menschen nützlichen Haltungsbedingungen anzupassen. Was kann nach dieser langen gemeinsamen Geschichte artgerechte Haltung noch bedeuten? Abolitionisten haben eine klare – allerdings kaum konsensfähige – Antwort: Sie fordern Rückzüchtungen und – soweit dies nicht möglich ist – Zuchtrassen aussterben zu lassen.

Körners historischer Rückblick über die Mensch-Tier-Beziehung beginnt im frühen Mittelalter und bezieht sich auf die bäuerliche Bevölkerung, die 90% ausmachte. Die Menschen litten Not und Nahrungsmangel. Sie lebten in räumlicher Nähe mit Nutztieren, für deren Überleben sie sorgten. Der Umgang mit ihnen – wie aber auch mit Menschen – war eher roh und gefühllos, zuweilen auch, etwa bei Volksbelustigungen, sadistisch. Die kategoriale Grenze zwischen Mensch und Tier schien noch durchlässig – der Mensch fühlte sich dem Tier wesensverwandt. Im Hochmittelalter ermöglichten effektivere Techniken der Naturbeherrschung und höhere Ernteerträge dann Arbeitsteilung und damit Individualisierung. Erst jetzt – so der Autor unter Rückgriff auf geschichtsphilosophische und kunsthistorische Analysen sowie kindliche Entwicklungsverläufe – entfalteten sich Reflexivität und Selbstbewusstsein.

Im Mittelalter wurden Tiere für angerichteten Schaden bestraft, meist getötet. Anfänglich ging es darum, frevelhafte Untaten zu tilgen und durch die Beseitigung des Täters ungeschehen zu machen. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden förmliche Prozesse durchgeführt. Dabei wurde den Tieren Absicht, Willensfreiheit und moralisches Urteilsvermögen unterstellt.

Unter dem Einfluss kirchlicher Lehren, welche die Sonderstellung des Menschen betonten, begannen die Menschen sich vom Tier zu distanzieren. Um ihre moralische Überlegenheit nicht zu gefährden, suchten sie das ‚Animalische‘ in sich zu unterdrücken. Sexuelle Erregung etwa galt bei Kirchenvätern als tierisch. Mit der Aufklärung schien die menschliche Überlegenheit dann dank Vernunft und Urteilsvermögen unstrittig; die Angst, auf tierisches Niveau zurückzufallen, schwand. Aus dieser sicheren Entfernung konnten die Menschen sich dem Tier wieder neugierig zuwenden und es achten, was als ‚Pflicht gegen sich selbst‘ galt. Genuines Einfühlungsvermögen erwachte erst in der Romantik. Der Mensch suchte die nun empfundene Trennung von der Natur mit empathischen Entwürfen zu überwinden. Tierquälerei wurde bestraft und 1838 der erste Tierschutzverein in Deutschland gegründet.

In seiner Behandlung der Mensch-Tier-Differenz distanziert Körner sich sowohl von der tradierten Vorstellung der menschlichen Höherwertigkeit wie auch von der neuen tierrechtlichen Gleichstellungsbehauptung. Er kontrastiert eine je spezifische Überlegenheit auf beiden Seiten. Der Mensch ist überlegen im Blick auf sein Denk- und Sprachvermögen (Tiere haben Kommunikationssysteme ohne Syntax, Grammatik und Zeitformen). Er verfügt über Intentionalität (Tiere sind in ihrer Mittelwahl biologisch weitgehend festgelegt) und moralisches Urteilsvermögen (Tiere kennen kein ‚gut‘ und ‚böse‘). Tiere hingegen sind deutlich überlegen, was ihre Sinnesleistungen, ihr Orientierungsvermögen (und mögliche andere uns – noch? –  nicht erkennbare Fähigkeiten) anlangt. Bienen etwa riechen dreidimensional. Bei der Wahl einer neuen Behausung werden Kundschafter ausgesandt, die anhand mehrerer Kriterien Bericht erstatten, worauf der Schwarm eine Mehrheitsmeinung bildet. Wandertiere orientieren sich an Feldlinien des Erdmagnetfelds, an der Polarisation des Lichts, am Sonnenstand, am Stand der Sterne, auch an Wegmarken.

Die Frage nach Unterschieden ist relevant für das ethische Anliegen: Warum sollen wir Tiere achten? Körner diskutiert unterschiedliche Ansätze und trägt Einwände vor. Metaphysische Begründungen verweisen auf Gottes Schöpfung (aber diese Überlegung ist nur Gläubigen zugänglich) oder eine inhärente Würde (aber Würde ist ein normatives Konzept und schwerlich allen Tieren – etwa auch Zecken – zuzuschreiben). Empirische Begründungen beziehen sich auf nachweisbare Eigenschaften: Weil Tiere leidensfähig sind, Absichten und Ziele verfolgen, stehen ihnen Rechte zu (doch welche Eigenschaften sind relevant? Auch können nur Menschen einander Rechte zuschreiben). Anthropozentrische Begründungen betonen die Nützlichkeit der Tiere (dabei bleibt allerdings offen, wie wir nicht nützliche Tiere behandeln), natürliches Mitleiden (zu berücksichtigen sei jedoch, dass Mitleid selektiv und korrumpierbar ist) oder eine tugendethische Selbstverpflichtung (die jedoch im Detail erst auszugestalten wäre). Körner selbst schlägt eine   altruistische Maxime vor. Sie gebietet, auf die Verwendung des andern im eigenen Interesse zu verzichten – ihn zu lieben wie er für sich ist, nicht wie er für mich sein soll. Wir achten Tiere nicht – wie Tierrechtler argumentieren – weil sie uns ähnlich sind. Das wäre wahrer Speziesismus. Die altruistische Haltung erfordert Selbstbegrenzung, ohne allerdings genaue Regeln festzulegen. Sicherlich müssten Haltungsbedingungen verbessert werden. Töten der Tiere könnte jedoch – solange es schmerzlos geschieht – zulässig bleiben. Unterstützend ist die ästhetische Erfahrung – die Freude an der Vielfalt, Andersartigkeit, Fremdheit von Tieren. Abschließend zieht Körner das Konzept der Alterität heran: Wir achten in den Tieren das Fremde, das uns den Spiegel vorhält. ‚Uns‘ gäbe es nicht ohne den ‚andern‘ – Alterität und Identität bedingen sich gegenseitig.

Körner führt historische, entwicklungspsychologische, psychoanalytische, biologische und philosophische Perspektiven zusammen. Er vertritt eine ausgewogene Position. So argumentiert er sowohl gegen die egozentrische Indienstnahme von Heimtieren und die bedenkenlose Verwertung von Nutztieren in der industriellen Massentierhaltung wie auch gegen die Forderung, auf die Verwendung von Tieren vollständig zu verzichten. Er plädiert für eine schrittweise Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und schlägt vor, detailliertere Regelungen kollektiven Verständigungsprozessen zu überlassen.

Körners Hinweis, das Konzept menschlicher Höherwertigkeit sei aus der kirchlichen Unterdrückung des Animalischen in uns erwachsen, eröffnet interessante Folgefragen. Vielleicht lassen sich vor diesem Hintergrund die Forderungen von Tierrechtlern nicht nur als Korrelat der schrittweisen Ausweitung des Gleichheitsprinzips der französischen Revolution verstehen. Die Gleichheitsvorstellungen könnten auch Folge der Liberalisierung von Sexualität und der Fokussierung auf den Körper sein, die sich in den letzten Jahrzehnten im Alltagsleben und in der Wissenschaft durchgesetzt haben. Nicht ganz überzeugend scheint mir Körners Entwurf einer Tierethik. Er fundiert sie in Altruismus und versteht darunter die angemessene Berücksichtigung der Interessen anderer und die Achtung ihres intrinsischen Werts. Diese beiden Forderungen sind jedoch deckungsgleich mit Moral überhaupt. Und dem Rekurs auf Alterität haftet eine implizite Abwertung des Anderen an. Zwar sucht er dies durch die Behauptung abzumildern, Identität bedürfe der Entgegensetzung zu einem Anderen: „Wir sind stolz auf unsere Handlungsfreiheit und unser moralisches Urteilsvermögen und übersehen dabei, dass wir uns dessen doch nur gewahr werden, indem wir uns vom Animalischen (auch in uns selbst) abgesetzt haben“. Auch wenn man die Annahme eines Bedingungsverhältnisses von Identität und Alterität teilte, so gäbe es doch auch andere Kontrastfolien, etwa historisch oder entwicklungspsychologisch frühere Entwicklungsstufen. Aber ohnedies fundieren Menschen ihre Identität vielleicht weniger in Abgrenzungen als vielmehr in Bindungen – an Personen, an Werte, an Überzeugungen. Doch ungeachtet solch kleiner Anmerkungen ist festzuhalten: Körner hat ein gut lesbares, hoch interessantes und wichtiges Buch zu brisanten Debatten vorgelegt, dessen Lektüre empfohlen sei.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jürgen Körner: Gutes Tier – böser Mensch? Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017.
223 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783525462751

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