Mehr als ein philosophischer Affekt?

Nicola Gess sichtet und ordnet interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen „Staunen“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der griechischen Philosophie der Antike markiert der vordergründig beiläufig auftretende Affekt des Staunens den Beginn eines vertieften Nachdenkens über Mensch und Welt. Das Staunen erscheint zugleich als Widerfahrnis, bedingt durch eine Berührung, eine Begegnung, eine unerwartete, aber nicht unerforschliche Begebenheit oder Erfahrung. Die in Basel lehrende Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess hat, wie der Untertitel dieses Bandes anzeigt, eine Poetik im Sinne. Sie möchte das Phänomen auf vielen Ebenen aufspüren, Nuancierungen wie Schattierungen wahrnehmen und zumindest vorläufig ordnen. Die Autorin berücksichtigt das philosophische Nachdenken, das vornehmlich ästhetischer wie erkenntnistheoretischer Art ist, vermeidet aber jede Verklärung der Antike. Zugleich scheut sie sich nicht, die Reflexion ästhetischer Theorien mit dem Sprachgebrauch des Begriffs „Staunen“ in der Postmoderne zu verknüpfen: „Viele Unterhaltungskünste, von der Zaubershow bis zum Blockbuster und seinen Spezialeffekten, haben sich der Produktion von Staunen verschrieben, und auch in der gegenwärtigen Theater- und Kunstszene spielt das Bestreben, den Zuschauer zum Staunen zu bringen, eine wichtige Rolle.“

Hier handelt es sich um eine einschneidende, folgenreiche Akzentverschiebung, denn die Herstellung von Ereignissen, die den anonymen Zuschauer an sich zum Staunen anregen sollen, führt zu der – unbeantwortet bleibenden – Frage, ob der später genannte Bereich solcher künstlich generierter Phänomene in der heutigen Kultur dem philosophischen Affekt überhaupt noch verwandt ist. Gess referiert die Ansicht, dass in der „heutigen Gesellschaft“ nunmehr „ästhetische Strategien der Regulierung von Aufmerksamkeit“ sehr bedeutsam seien, auch „dies- und jenseits der Kunstsphäre“. Dies trage zu einem „Wohlgefühl des Rezipienten“ bei:

Die verheißungsvolle Norm dieser Sozialität könnte dann lauten: Staune, indem du dich durch neue ästhetische/ästhetisierte Objekte überraschen lässt und auf diese Weise dein ästhetisches Erleben beförderst, und sorge auch für das Staunen deines Publikums, indem du überraschende ästhetische Objekt produzierst und so selbst zum bewundert Kreativsubjekt […] avancierst. Oder in den Netzjargon übersetzt: Steigere deinen Wert auf dem Markt der Singularitäten, indem du für möglichst viele WOW! und OMG! unter deinen Posts sorgst.

Die Autorin versucht hier einen bestimmten Sprachgebrauch der Gegenwart aufzunehmen. Sie vermag auch Kommunikationsrituale, die in den neuen sozialen Medien stattfinden, anschaulich vorzustellen. Der Diskurs über das Staunen scheint sich somit mehr als nur graduell verändert zu haben.Das Verständnis des Begriffs scheint sich von der antiken Erkenntnistheorie über die Ästhetik der Aufklärungszeit bis hinein in die Postmoderne gewandelt zu haben. Es wird so deutlich, dass die ursprüngliche philosophische Bestimmung nahezu verlorengegangen ist. Der Affekt löst einen Erkenntnisprozess aus, gegenwärtig verbindet sich das Staunen mit dem Begriff „Wohlgefühl“ oder verstärkt auch das „Gefühl der Verunsicherung“. Das Staunen werde „nicht nur als anthropologische Konstante bzw. Teil der emotionalen Grundausstattung jedes Menschen verstanden, sondern darüber hinaus als eine ästhetische Praxis kultiviert, erlernt und bewusst abgerufen“.

Es ist naheliegend und notwendig, dass Gess zugleich an das „subversive Potenzial“ des Staunens erinnert, das über jede „Mainstream-Erwartung“ hinausreicht, mit der das Staunen auf den „WOW-Effekt oder auf eine Esoterik der Wiederverzauberung reduziert wird“. Der zunächst primär wichtige Bereich der „wissenschaftlichen Neugier“ – die Autorin sagt, dass der Naturforscher „gewissermaßen von Natur aus“ darüber verfüge – sei bereits im 18. Jahrhundert durch ein „Gegennarrativ“ ergänzt worden:

Vom Affekt des Forschers ist es zum Affekt des Lernenden geworden, und es wird nicht mehr durch die Dinge selbst, sondern durch deren geschickte Präsentation ausgelöst, die den Lernenden auf die epistemischen Objekte allererst aufmerksam macht. Darum geht es hier auch nicht mehr um die Verwunderung als natürlichen Impuls, sondern um die Verwunderung als Effekt einer (literarischen) Wissensrhetorik, die zwar auch selbst erstaunlich ist (und insofern nach wie vor auch auf eine Bewunderung des Dichters zielt), aber vor allem naturwissenschaftliche und moralische Wahrheiten so präsentiert, dass sie die Verwunderung und infolgedessen auch die explorierende Neugier und anhaltende Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erwecken und zu kultivieren vermögen.

Gess versteht das Staunen als eine „ästhetische Emotion“, hervorgerufen durch „Phänomene, die die Grenzen des Gewöhnlichen in Richtung des Unerwarteten, des Außergewöhnlichen oder Unmöglichen überschreiten“. Kennzeichnend sei die „Dissonanz von sinnlicher Wahrnehmung und rationaler Einsicht“. Nun mag aber das „erstaunliche Phänomen“ zwar erstaunlich, also den Teilhabend ins Staunen versetzend, und trotzdem aber erwartet sein: Wer in die Alpen reist, sieht dort sehr hohe Berge. Dazu zählt ein schlicht überwältigender Eindruck, etwa die Ansicht des Hochgebirges, der den Betrachter sprachlos macht, von innen her ergreift. Er verharrt und schaut hin, fasziniert von der Anschauung des Erhabenen. Den Begriff des Erhabenen selbst berücksichtigt die Autorin zwar, jedoch bleibt fraglich, ob auch diese Anschauung wirklich einen „Möglichkeitsraum“ eröffnet. Gess schreibt:

Immer aber ist Staunen verbunden mit der Eröffnung eines Möglichkeitsraums, den dann die Imagination des Staunenden ausgestaltet: Staunen fungiert dann als Motor der Einbildungskraft, deren Tätigkeit sich ihrerseits als entscheidend für die Intensität der Illusion oder sogar Immersion in die andere Welt erweist und so das Staunen noch perpetuiert.

Im Gegensatz dazu scheint, gerade in Hinsicht auf die Wirkung, die das unmittelbare Erlebnis des Erhabenen besitzen kann, das Staunen nicht in unmittelbare Tätigkeit, sondern gerade in die Stille hineinzuführen. So wird nicht die „Einbildungskraft“ beflügelt, sondern die Phänomene selbst bereichern die Wahrnehmung. Der Betrachter ist nicht zu neuer Bewegung veranlasst, vielmehr verharrt er im Stadium der Anschauung – so wie ein Museumsgast etwa sich von einem Kunstwerk förmlich nicht lösen kann. Die Bewunderung, das Staunen möglicherweise als „ästhetische Emotion“, führt dann dazu, im Augenblick zu verweilen, nicht „Möglichkeitsräume“ zu entdecken, sondern Raum und Zeit zu vergessen.

Gess entfaltet eine ausgesprochen reichhaltige Landkarte des Staunens, die mit zahlreichen Beispielen aus der Kunst-, Literatur-, Philosophie- und Kulturgeschichte versehen ist. Sie zeigt einen facettenreichen, weiträumigen Begriff und zugehörige Gestaltungen. Besondere Beachtung verdient auch ihre Auseinandersetzung mit Ernst Bloch. Das „imaginative Staunen“ des Philosophen versteht sie als „emanzipatives Konzept“, das aus den „Grenzen des Bestehenden“ hinausführt. Es sei als „anti-hierarchisch“ und ein „Aufbegehren gegen die Domestizierung“ des „imaginativen Vermögens“ durch einen pragmatischen, technischen Verstand anzusehen. Der Widerstand gegen die Vorherrschaft solcher Denkmuster kann aber zugleich dialektisch zu einer „Re-Etablierung von Herrschaft“ führen, zu einer neuen Ideologie.

Das ausgesprochen empfehlenswerte Buch ist vergleichsweise knapp gefasst, gleicht aber einem Quell an Anregungen über den Begriff des Staunens, die bedacht, erwogen und weiter ausgeführt werden können. Indem Gess das Staunen vorwiegend als beflügelndes Moment oder als „Motor“ begreift, der in Bewegung versetzt, bleibt sie den Denkmodellen der antiken Philosophie durchaus treu. Fortschritte, auch in der Erkenntnis, mögen sich ergeben. Vielleicht ist es aber nicht weniger bedeutsam, dankbar für den Affekt des Staunens zu sein und schlicht bewundern zu dürfen, ob es sich um das Erhabene in der Natur, das Schöne in der Kunst oder die aufrichtige Freude am leisen Charme, der sich in zwischenmenschlichen Begegnungen ergibt, handeln mag. Ein staunender Mensch darf auch erfrischend unproduktiv sein und bleiben, mögen sich auch seine eifrigen, tüchtigen Zeitgenossen darüber verwundern.

Titelbild

Nicola Gess: Staunen. Eine Poetik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
175 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835333116

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch