Es gibt keinen Geschlechtsverkehr, sogar

Die „Junggesellenmaschinen“ des Surrealisten Michel Carrouges erstmals in deutscher Übersetzung

Von Elena StinglRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Stingl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ledige Männer im heiratsfähigen Alter werden erst mit Beginn des Industriezeitalters als Junggesellen bezeichnet. Zuvor nannte man so die jüngsten Mitarbeiter eines Handwerksbetriebes sowie ihre Kollegen auf der Walz, die Wandergesellen. Im angelsächsischen Kontext hießen „bachelor“ einst die unerfahrensten, ärmlichsten Ritter, die unter der Flagge überlegener Standesgenossen mitgaloppierten, sowie bis heute die Akademiker*innen erster Stufe. Im 19. Jahrhundert wurde der Junggeselle mancherorts mit einer Steuer auf Ehelosigkeit sanktioniert. Sein Leben ohne Familienbindung war mit einer anrüchigen Aura belegt und die Reproduktionsweigerung als Gefährdung für Nation oder ‚Rassenerhalt‘ verpönt. Im Laufe vor allem des vergangenen Jahrhunderts erhielt sein Ansehen neuen Glanz. Finanziell wohl situierte Männer entdeckten im Stand der Ehelosigkeit die Verheißung eines ungebundenen Lebens im Kontrast zur verstaubten, kleinbürgerlichen Moral. In Männerbünden oder exklusiven Sportvereinen frönte man dem maskulinen Gebaren jenseits häuslicher Verpflichtungen. Heute mehr denn je genießt der Junggeselle das Prestige der Ungezwungenheit: Vom Dandy über den Beatnik, den Playboy bis zum Tinder-Single insistiert der Geist der Wanderlust.

Für den Surrealisten Michel Carrouges, Verfasser der einflussreichen und seinerzeit umstrittenen Studie Les machines célibataires (1954), die beim Berliner Verlag zero sharp nun erstmals in deutscher Übersetzung von Maximilian Gilleßen erscheint, geht die Faszination des zölibatären Themas von einer imaginären Kunstfigur aus: der Junggesellenmaschine. Auf diese Wortneuschöpfung stößt Carrouges im Frühwerk Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar (1912) der Dada-Ikone Marcel Duchamp. Es handelt sich um vorbereitende Notizen zu der über drei Meter großen Glasinstallation Großes Glas von 1915, auf deren unteren Tafel eine sonderbare Maschine abgebildet ist. „Eros-Matrizen“ stoßen, so Duchamp, ein Gas aus, das aufgrund eines komplizierten Mechanismus in die „Region der Verspritzung“ „hinausgeschleudert“ wird. Darüber, auf der oberen Tafel, hängt das „Skelett“ einer „weiblichen Gehängten“. Den unteren Bereich samt seiner eigenartigen Vorrichtung nennt Duchamp „Junggesellenapparat“ oder „-maschine“. Carrouges will in Motivik und Aufbau des Großen Glases eine verborgene Korrespondenz mit einer nicht minder grotesken Maschine in Franz Kafkas In der Strafkolonie (1914-1919) entdecken, einer Folterbank, auf der Verurteilte von einer messerscharfen Egge gewissermaßen zu Tode tätowiert werden. Unter dem Schleier ihrer Werke verberge sich eine erotische Realität, die Carrouges sich als Motor der Junggesellenmaschinen vorstellt. Diese Realität – er spricht von einem Mythos – bringt er schließlich mit weiteren Erzähltexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Zusammenhang, darunter Edgar Allan Poes Die Grube und das Pendel (1843), Auguste de Villiers de L’Isle-Adams Die Eva der Zukunft (1886), Alfred Jarrys Supermann (1902), Raymond Roussels Locus Solus (1914) und Guillaume Apollinaires Mondkönig (1916). In allen Texten oder Kunstwerken, in denen sich der zölibatäre Mythos nachweisen lasse, käme eine Erotik zum Tragen, die nicht auf die Vereinigung der Geschlechter abzielt, sondern, im Gegenteil, auf die Irritation heterosexueller Symbiose-Phantasien. Der weibliche Körper spielt dabei eine marginale Rolle. Es geht um männliche, selbstbezügliche Lust.

Diese „Masturbation zu zweit“, wie im Nachwort des Übersetzers zu lesen ist, deutet auf eine Dimension der Junggesellenmaschine hin, die Carrouges, trotz seiner expliziten Anleihen bei der Psychoanalyse, höchstens angedeutet hat: Sie lesen sich wie ein langes Vorwort zu Jacques Lacans rätselhaftem Diktum „Il n’y a pas de rapport sexuel“ („Es gibt keinen Geschlechtsverkehr“). In der Literatur der letzten circa 150 Jahre, diesen Eindruck legt die Lektüre von Die Junggesellenmaschinen nahe, wird höchste Lusterfahrung längst schon als ein ‚locus solus‘ verhandelt. Ihr „Drama“ sei Carrouges eigenen Worten zufolge also „nicht das eines Wesens, das vollkommen alleine lebt, sondern eines Geschöpfs, das sich einem Wesen des anderen Geschlechts unendlich annähert, ohne es wirklich erreichen zu können. Es geht […] um […] den Konflikt zwischen zwei erotischen Leidenschaften, die sich gegenüberstehen und einander steigern, ohne zum Punkt der Vereinigung zu kommen.“

Die Maschinen, die in den von Carrouges besprochenen Texten auftauchen, sind keine außerhalb der Fiktion existierenden Geräte. Es sind komplexe imaginäre Apparate mit absurden, oft grausamen Mechanismen: Eggen, Rammen, Riesendiamanten, seelenlose Androide in Särgen, alptraumhafte Inquisitionskäfige. Für eine praktische Anwendung im herkömmlichen Sinne taugen sie nicht. Mit der Figur des Junggesellen als ‚Schädling‘ der Gesellschaft haben diese Maschinen gemeinsam, dass sie sich dem bürgerlichen Auftrag zur Produktivität beziehungsweise Reproduktion verweigern. Es sind insofern kaputte Maschinen und sie gehorchen, so das Fazit im Nachwort, der Logik der Störung und Unterbrechung. Sie sabotieren gezielt die herrschende Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft, dass Familiengründung und Fortpflanzung natürlich seien, Alleinleben und Verzicht auf Reproduktion hingegen pathologisch. In diesem subversiven Charakter besteht wohl auch der besondere Reiz der künstlerischen Junggesellenmaschinen für die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts: Sie befreien sich von der Last der Geschichte, vom Althergebrachten und dem Weiterreichen eines Erbes, indem sie sich der prokreativen Sexualität und Familienbindung lossagen.

Dem zölibatären Traditionsbruch korreliert folglich auch Carrouges’ eigenes Vorgehen. Die Entstehungsgeschichte der Texte, die er untersucht, ihre Werkgenealogien oder biografisches Wissen über die Schriftsteller*innen werden nicht erwähnt. Es kommt ihm vielmehr auf „unbewusste Strukturen“ an, die sich aus der Motivanalyse ergeben. Insofern untergräbt es seine Lektüre auch nicht, dass Duchamp nach Erhalt eines Exemplars von Les machines célibataires in einem Brief an den Autor einräumt, dass er Kafkas In der Strafkolonie während der Entstehung von Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar und dem Großen Glas nicht kannte und den Schlussfolgerungen, zu denen Carrouges gekommen ist, nicht zustimmen könne. Im Gegenteil bestärkt es Carrouges darin, für eine zweite Auflage des Buches 1976 seine Methode noch einmal zu präzisieren: Die Strukturen, die er nachweise, werden nicht auf der Ebene objektiver Geschichte oder subjektiven Bewusstseins begründet, sondern auf einer „infra-historischen oder infra-subjektiven Ebene, im Bereich der ‚submentalen‘ Objektivität“.

Was Carrouges kühnen, anekdotischen, unbeirrbaren Studien bisweilen an historischer Bodenhaftung abgeht, ergänzen die zahlreichen Anmerkungen des Übersetzers, das Nachwort und die ausführliche Dokumentation der Geschichte des Mythos Junggesellenmaschine in den Verzeichnissen der deutschen Ausgabe. Abbildungen, Illustrationen und Skizzen, die über das Buch verteilt zwischen den oft sehr abstrakten Analysen auftauchen, erleichtern die Vorstellung der komplizierten Maschinen und verdeutlichen den Materialreichtum, aus dem Carrouges schöpft. Die Ausgabe bei zero sharp entdeckt nicht nur einen modernen Mythos neu und stellt dem hierzulande berühmteren Mythologen Roland Barthes einen weniger diskutierten Gesprächspartner zur Seite (die Mythen des Alltags erschienen in Frankreich drei Jahre nach Die Junggesellenmaschinen). Das Buch kann gerade auch mit heutiger Popkultur in Zusammenhang gebracht werden. Ließe sich der Vergnügungspark Westworld der gleichnamigen amerikanischen TV-Serie (seit 2016) als zölibatäre Sci-Fi-Phantasie des 21. Jahrhunderts lesen? Hier kommen vor allem männliche (sehr reiche) Gäste auf ihre Kosten, denn mit den ‚hosts‘ der Parks lässt sich treiben, was man will; sie sehen nur aus wie Menschen, als formvollendete Androide werden sie über Nacht einfach wieder zusammengeflickt. Sind die holografischen Sextoys in Denis Villeneuves Neuauflage Bladerunner 2049 (2017) oder die hyperintelligenten Dating-Siris in Spike Jonzes Her (2013) Junggesellenmaschinen 2.0? Verweben Erfolgsromane wie Virginie Despentes Subutex-Trilogie (2015–2017) den „zölibatären Faden“ zu einer feministischen Version des Stoffes? Es ließen sich weitere Beispiele finden. Der Mythos Junggesellenmaschine lebt trotz aller Reproduktionsweigerung fort.

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Michel Carrouges: Die Junggesellenmaschinen.
Übersetzt aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Maximilian Gilleßen.
zero sharp, Berlin 2019.
272 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783945421093

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