Was bleibet aber…

Hölderlins Erinnerung – Erinnerung an Hölderlin

Von Ulrich GaierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Gaier

In einer streng pietistischen Umgebung aufgewachsen und in den Klosterschulen der württembergischen Landeskirche erzogen, musste sich der 1770 geborene Friedrich Hölderlin zunächst als Sünder fühlen:

Viel, viel sind meiner Tage
Durch Sünd entweiht gesunken hinab
O, großer Richter frage
Nicht wie, o lasse ihr Grab
Erbarmende Vergessenheit
Laß, Vater der Barmherzigkeit
Das Blut des Sohns es deken.

Der Titel des 1786 in Denkendorf geschriebenen Gedichts ist Das Erinnern. Es beschreibt die reumütige Erinnerung des Sprechers und die Bitte um barmherziges Vergessen Gottes – mit „Vergessenheit“ ist auch gleich die Therapie gegen quälende Erinnerung genannt, aber der große Richter vergisst nichts. Das Theologiestudium in Tübingen hat Hölderlin gründlich von seinem pietistischen Sündenbewusstsein geheilt, aber die Erinnerung wird ihm immer heiliger; noch der Kranke im Hölderlinturm schrieb: „Erinnerung ist auch dem Menschen in den Worten.“ Das ist eine sprachphilosophische Erkenntnis voll Tiefsinn: Worte erinnern nicht nur an ihre lexikalische Bedeutung, sondern an Gelegenheiten, wo man das Wort gehört oder gebraucht hat; sie lassen eine Welt „innen“ entstehen. Das zeigt sich dann in seiner Dichtung, zum Beispiel in dem Hexameterhymnus Kanton Schweiz. Mit zwei Freunden hatte er 1791 eine Fußwanderung von Tübingen in die Schweiz gemacht und dort die heiligen Stätten der Freiheit besucht. Gegenüber dem in konstitutioneller Monarchie regierten Württemberg war die Schweiz das „Land der Göttlichen Freiheit“, das schon Jean-Jacques Rousseau gefeiert hatte – in einigen Berg-Kantonen hatte man sich direkte Demokratie bewahren können. Rousseau beschreibt in seinem Contrat social, wie die Bauern unter einem Baum zusammenkommen, die das Dorf betreffenden Themen besprechen und darüber abstimmen. Dieses Bild hat Hölderlin so fasziniert, dass er 1800 in der Elegie Stutgard utopisch imaginiert:

Eins nur gilt für den Tag, das Vaterland und des Opfers
  Festlicher Flamme wirft jeder sein Eigenes zu.
Darum kränzt der gemeinsame Gott umsäuselnd das Haar uns,
  Und den eigenen Sinn schmelzet, wie Perlen, der Wein.
Diß bedeutet der Tisch, der geehrte, wenn, wie die Bienen,
  Rund um den Eichbaum wir sizen und singen um ihn,
Diß der Pokale Klang und darum zwinget die wilden
  Seelen der streitenden Männer zusammen der Chor.

Solche Bilder sind es, die Hölderlin immer wieder in die Schweiz ziehen und die Erinnerung wachhalten. So beginnt er, wieder im Tübinger Kloster, den Hymnus Kanton Schweiz:

Hier, in ermüdender Ruh’ , im bittersüßen Verlangen,
Da zu sein, wo mein Herz, und jeder beßre Gedank’ ist,
Reichet doch Erinnerung mir den zaubrischen Becher
Schäumend und voll, und hoher Genuß der kehrenden Bilder
Wekt die schlummernden Fittige mir zu trautem Gesange.

Schon dieses Gedicht ist dem „lieben Hiller“ gewidmet, mit dem er gewandert war, und ein zweites An Hiller. 1793 gedenkt noch nach zwei Jahren der erlebten Freiheit. Wenn der Freund jetzt nach Amerika auswandern wird, kommt er in ein freies Land:

Von seeligen Entwürfen glühte dir
Von tausend goldnen Träumen deine Brust;
Und als du nun vom lieben heilgen Lande
Der Einfalt und der freien Künste schiedst,
Da wölkte freilich sich die Stirne dir,
Doch schuff dir bald mit ihrem Zauberstabe
Manch seelig Stündchen die Erinnerung.

Die Erkenntnis, dass Erinnerung das Dichten weckt, klingt schon in Kanton Schweiz an, aber in dem wichtigen Fragment Wie wenn am Feiertage (1800) denkt der Philosoph Hölderlin über Wesen und Aufgabe des Dichters nach. Die „Thaten der Welt“ zünden ein Feuer „in Seelen der Dichter“ an, denn jetzt erst „die uns lächelnd den Aker gebauet, / In Knechtsgestalt, sie sind erkannt, / Die Allebendigen, die Kräfte der Götter“. Den Acker bauen, kultivieren, Kultur bringen, das leisten nicht die Menschen, sondern die Kräfte der Götter auch mit Hilfe des Menschen, denn der ist Natur wie alles, in dem und durch das die „Allebendigen“ schaffen. Wo kommt diese schaffende Natur zum Bewusstsein?

Erfrägst du sie? im Liede wehet ihr Geist
Das auch der Sonne, wie Blumen, und dunkler Erd
Entwächst, und Wettern, die in der Luft, und andern
Die vorbereiteter in Tiefen der Zeit,
Und deutungsvoller, und vernehmlicher uns
Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern

In der Dichtung weht der Geist der schöpferischen Naturkräfte; er ist der belebende Hauch, der zum Beispiel dem Erdkloß Adam in die Nase geblasen wird (1Mos 2, 7). Das Lied ist Blume, der Sonne und Erde entwachsen, auch atmosphärischen Gewittern und Kriegen, die Hölderlin oft als Gewitter bezeichnet (etwa in Friedensfeier V. 118-125). Diese sind für uns „deutungsvoller“ und „vernehmbarer“; von ihnen kann der Inhalt des Liedes sprechen, aber sie sind nur Zeichen des Geistes. Dichter sein, heißt von diesem Geist begeistert zu sein:

Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind,
Still endend in der Seele des Dichters,
Daß schnellbetroffen sie, Unendlichem
Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung
Erbebt, und ihr, vom heiligen Stral entzündet,
Die Frucht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk
Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt. 

Es ist der Geist der göttlichen Kräfte, der der Natur und der Geschichte (Wetter, Taten) gemeinsam ist, der Geist der göttlichen Kräfte (Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird sagen: der Weltgeist). Hölderlin und seine Freunde Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sind im Tübinger Kloster Neuplatoniker geworden. Das ist eine Richtung der Philosophie, die auf Platon aufbaut, aber dessen Trennung von Idee und Materie durch Zwischenstufen dynamisiert und überwindet. Die Philosophie wird auch Pantheismus genannt, ihre bekannte Formel heißt Hen kai Pan, Eins und Alles, oder Hen to Pan, das Eine ist das Alles. So schreibt Hölderlin in der Elegie Brod und Wein: „gewohnt werden die Menschen des Glüks / Und des Tags und zu schaun die Offenbaren, das Antliz / Derer, welche schon längst Eines und Alles genannt / Tief die verschwiegene Brust mit freier Genüge gefüllet, / Und zuerst und allein alles Verlangen beglükt“. Eines und Alles ist schon längst der Name der jetzt offenbar gewordenen Götter, aber dieser Name ist noch nicht Wort, wie auch das Eine nicht Gott oder Götter ist. Aber Name ist doch Wort? Nein, Name vertritt die Person; so sagt man, vor allem biblisch, „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Man sagt auch: sich einen Namen machen. Das sind Verwendungen des Begriffs Name, wo kein Wortlaut nötig ist. Eines und Alles ist die wortlose Urreligion, aus der erst die einzelnen Religionen, jüdische, griechische, römische, christliche, entstanden sind. Religionsgeschichtlich hat Hölderlin Recht: Ursprung all dieser Religionen, auch der platonischen und neuplatonischen Philosophie, ist das, was Zoroaster in den Vorstellungen seiner Religion formuliert hat.

Woher wusste Hölderlin davon? Aus Johann Gottfried Herders Buch Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, das er schon in Tübingen und noch einmal 1795 studiert hat, als er Aussicht auf eine Hauslehrerstelle bei Herder und dessen Frau Caroline hatte. Herder war 1775 von Johann Wolfgang von Goethe nach Weimar geholt worden, arbeitete auch in den 1780er Jahren mit Goethe eng zusammen an seinem Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Auch Herder war Neuplatoniker, das zeigt sich deutlich an seiner Schrift Gott. Einige Gespräche (1787), wo er den berüchtigten Pantheisten Baruch de Spinoza zwar hinsichtlich seiner Auffassung des Raums kritisiert und korrigiert, im Ganzen aber nicht nur gutheißt, sondern sogar weiterentwickelt hin zu einer Theorie des Organischen, die für Hölderlin und Schelling äußerst wichtig wurde. Ein Organismus und jedes Organ funktioniert nach dem Prinzip superat et superatur, das schon der griechische Arzt Hippokrates aufgestellt hat: Jedes Organ braucht die andern und wird von den andern gebraucht, ist zugleich Herr und Knecht. Jeder Organismus, Pflanze, Mensch, Tier, braucht direkt oder indirekt alle andern Organismen, ja, die ganze Welt ist ein Organismus, Pan. Gegensatz dazu ist für Hölderlin das Aorgische, das Ungegliederte, das Chaos, die Ursuppe (bei Schelling heißt es in korrekterem Griechisch „anorgisch“). Von diesem Chaos beginnt im biblischen Schöpfungsbericht 1Mos1 die Erschaffung der Welt, indem Gott sagt: „Es werde Licht!“ Dieses Urlicht, das noch keine Quelle hat, macht die Scheidung von Himmel und Erde möglich und so weiter bis zum siebten Tag der tätigen Ruhe. Immer ist der Geist Gottes dabei, der schon vor dem ersten Tag auf dem Wasser schwebte.

Das ist, um zu dem Entwurf Wie wenn am Feiertage zurückzukehren, der gemeinsame Geist, dessen Gedanken in der Seele des Dichters still enden, welche „von Erinnerung erbebt“. Hier wird Erinnerung wörtlich genommen als Ganz-nach-innen-lassen dieser Gedanken, die die Seele befruchten und mit ihr als „der Götter und Menschen Werk“ den Gesang erzeugen. Daraus ergibt sich die Aufgabe und organische Funktion des Dichters:

Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Stral, ihn selbst mit eigner Hand
Zu fassen und dem Volk’ ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.

Würde das Volk „des Vaters Stral“ direkt erhalten, würde es vernichtet wie Semele, die den unbekannten Liebhaber unverhüllt sehen wollte und vom Blitz des Zeus verbrannt wurde. Zeus aber rettete noch schnell „die Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus“ und nähte ihn androgyn in seinen Schenkel ein. Das Lied des göttlich begeisterten Dichters aber wirkt wie eine Hülle um den Blitz, der in dieser Form „dem Volk“ ohne Gefahr gegeben werden kann. Auch das Volk soll göttlich begeistert werden, das Gewitter des Krieges ist vorüber, dagegen ist „die Natur mit Waffenklang erwacht“. Was heißt das? Im Entwurf des Gedichts steht „Zorn“, und das ist Hölderlins häufig gebrauchte Übersetzung von orgè, Leidenschaft, Begeisterung, Eifer, Zorn. Die Natur bekämpft also niemanden, aber sie ist begeistert und eifrig erwacht und inspiriert die Dichter nach den menschlichen Taten der Welt mit der Erkenntnis der göttlichen Kräfte, die uns „den Aker gebauet“, das heißt uns cultura, Kultur gebracht haben. Das Lied des Dichters, von dieser Erkenntnis getragen und im Auftrag der Natur gezeugt, wird ein Lied vom „Reich Gottes“. Hölderlin schrieb am 10. Juli 1794 an Hegel:

Lieber Bruder! Ich bin gewis, daß Du indessen zuweilen meiner gedachtest, seit wir mit der Loosung – Reich Gottes! Von einander schieden. An dieser Loosung würden wir uns nach jeder Metamorphose, wie ich glaube, wiedererkennen.

Gedenken und Wiedererkennen sind zwei Formen der Erinnerung; das Verhältnis zu Hegel basiert auf Erinnerung, ist ja auch ein Brief ein Medium, das den Empfänger an den Absender erinnert und beweist, dass der Absender des Empfängers gedacht hat. „Reich Gottes“ ist voll von Erinnerungen, zunächst an die Kindheit in Württemberg. Die schwäbischen Pietisten, besonders die von Eduard Mörike so genannten Schwabenväter Friedrich Christian Oetinger und Johann Albrecht Bengel waren Chiliasten, das heißt sie erwarteten nach dem biblischen Buch Offenbarung Johannis einen Endkampf Christi mit dem Fürsten der Finsternis, und nach dessen Höllensturz den Anbruch des Tausendjährigen Reiches, den Bengel sogar auf das Jahr 1836 berechnete.

Die schwäbischen Pietisten wollten das Württemberger Ländle zum Reich Gottes machen und jetzt schon alles vorbereiten. Die pietistischen Pfarrer wollten ihre Gemeinden in Ordnung bringen. Das war auf der Schwäbischen Alb, dem Kalkgebirge, besonders nötig: Das Regenwasser sank in die Tiefe und kam 200 bis 300 Meter tiefer als Quelle wieder zum Vorschein. Deshalb wuchs nichts außer dürftigen Wacholderheiden. Das Vieh hatte im Winter nichts zu fressen und musste wie die Martinigans vor der kalten Jahreszeit geschlachtet oder verkauft werden; um 1800 gab es ja keine Kühlschränke oder Gefriertruhen, in denen Fleisch aufbewahrt werden konnte. Aus diesem Grund mussten auch die Familien verkleinert werden, die Väter gingen in die Stadt zur Arbeit und setzten ihren Lohn in Schnaps um, die Jungen wurden als „Schwabenkinder“ Kleinknechte bei Bauern in reicheren Gebieten. Die Mädchen gingen als Mägde und Huren in die großen Städte. So zerfielen die Familien, die bäuerlichen Anwesen, die Gemeinden. Da dachte der Pfarrer Johann Gottlieb Steeb in Grabenstetten bei Urach, dass das nicht so bleiben durfte, und experimentierte mit Pflanzen, die auf der Alb wachsen, eiweißhaltig sind, getrocknet werden können und auch in getrocknetem Zustand von den Kühen gefressen werden. Er fand die Esparsette, ein Lupinengewächs, das allen diesen Kriterien gerecht wurde. Überzeugungsarbeit war zu leisten. Der Lehrer sah, dass der Pfarrer alle seine Kühe über den Winter im Stall halten und im Frühjahr nicht total abgemagert auf die Weide schicken konnte. Auch sah er, dass Frau Steeb ständig frische Milch, Butter, Käse hatte und sogar verkaufen konnte. Der Lehrer probierte es mit Erfolg, verständigte die Lehrer in anderen Albdörfern, und alle zeigten ihren Bauern, wie man mit Esparsette die Kühe und das Kleinvieh füttern und durch den Winter der sogenannten Kleinen Eiszeit bringen konnte. Da blieben die Familien zu Hause.

Der Pfarrer Philipp Matthäus Hahn, des „Herrgotts Uhrmacher“ und genialer Erfinder, hatte in seiner Werkstatt in Onstmettingen Spinnmaschinen und Webstühle verbessert und feinmechanische Geräte, Uhren, Waagen erfunden, die er seine Gesellen herzustellen lehrte. Diese mussten versprechen, die Geräte in anderen Albdörfern und im württembergischen Schwarzwald herzustellen und neue Gesellen auszubilden. Die Bauernfamilien hatten zu tun an den Spinnmaschinen und Webstühlen. Das ist der Ursprung der württembergischen Kleinindustrie, denn auch in den Städten wie Esslingen und Reutlingen etablierten sich, teils unter Anleitung Hahns, metallverarbeitende Betriebe. Steeb schrieb dann 1798 ein Buch über die Esparsette, das die Landesregierung mit seinen Fakten und Statistiken so überzeugte, dass sie die Bauern verpflichtete, auf den Brachfeldern das Lupinengewächs anzubauen. So haben die schwäbischen Pfarrer versucht, aus Württemberg ein Reich Gottes zu machen. Hölderlin mit seiner Losung „Reich Gottes!“ hatte dasselbe Ziel. „Der Höchste ists, dem wir geeignet sind“, schrieb er, wobei „geeignet“ sowohl „eigen“ wie auch „brauchbar“ bedeutet. Hegel meinte später, Preußen komme der Verwirklichung des Reichs Gottes am nächsten; Hölderlin ging weiter und eröffnete im Hyperion auch politisch eine neue Welt.

Während seines Theologiestudiums gründlich zum Neuplatonismus bekehrt, wollte Hölderlin trotz bester Aussichten, die Tochter des Tübinger Universitätskanzlers zu heiraten und dadurch ohne langwierige Vikarszeit eine einträgliche Pfarrstelle zu bekommen, partout nicht Pfarrer werden und trotz der Nötigung durch seine Mutter Elise LeBret nicht heiraten. Er zog es vor, praktisch sein ganzes Leben bis zur Turmzeit im Ausland zu verbringen – Hessen, Jena, Frankfurt, Hauptwil in der Schweiz, Bordeaux. Auch in Stuttgart, wo er 1800 ein paar Monate war, gab er eher pro forma den Kindern seines Freundes, des Tuchherrn Gustav Landauer, ein paar Stunden Unterricht. Hölderlin, fremd im eigenen Vaterland, dichtete auch über sein Exil. In der Ode Mein Eigentum heißt es:

Denn wie die Pflanze, wurzelt auf eignem Grund
  Sie nicht, verglüht die Seele des Sterblichen
    Der mit dem Tageslichte nur, ein
       Armer auf heiliger Erde wandelt. 

Zu mächtig ach! ihr himmlischen Höhen zieht
  Ihr mich empor; bei Stürmen, am heitern Tag
    Fühl ich verzehrend euch im Busen
      Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte.

Doch heute laß mich stille den trauten Pfad
  Zum Haine gehen dem golden die Wipfel schmükt
    Sein sterbend Laub, und kränzt auch mir
      Die Stirne ihr holden Erinnerungen.

Hölderlin ist nie lange an einer Stelle geblieben, nach kurzer Zeit trieb es ihn weg, aus Jena, wo er ohne Grund plötzlich abreiste, aus Frankfurt, wo er seine verehrte Suzette Gontard und seinen geliebten Schüler Henri verließ; der Hausherr, dessen Demütigungen er nicht mehr meinte ertragen zu können, fragte am nächsten Morgen ganz erstaunt, wo denn der Hauslehrer sei. Auch in Hauptwil und Bordeaux blieb er nur jeweils ein paar Monate. Man hat verschiedene Vermutungen aufgestellt, zum Beispiel dass er zum Predigen aufgefordert wurde, aber aufgelöst ist keines dieser Rätsel. Hölderlin wollte durch seine langen Fußwanderungen, etwa von Tübingen bis Hauptwil, von Tübingen über Lyon nach Bordeaux, von Bordeaux über Paris und Straßburg nach Stuttgart und Tübingen, seine Krankheit vergessen.

Schon sein erster Brief aus Denkendorf zeigt bei dem 14-jährigen Anzeichen seiner bipolaren oder manisch-depressiven Krankheit, die er vielleicht von seiner Mutter geerbt hatte und die ihn 1806 in den Tübinger Hölderlinturm brachte. Er hat die Krankheit nicht simuliert, wie man vermutet hat; er hat sogar psychiatrische Fachliteratur studiert, um herauszufinden, was er hatte. Heute hätte eine Tablette genügt, aber dann hätten wir nicht eine Strophe wie vorhin zitiert: „Zu mächtig ach! ihr himmlischen Höhen zieht / Ihr mich empor […] Fühl ich verzehrend euch im Busen / Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte.“ Man sagt ja von den manisch-depressiv Kranken „himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“, oder wie Mörike schreibt: „Lasst dies Herz alleine haben / Seine Wonne, seine Pein.“ Auch Mörike war bipolar krank; sein Schicksal ist mit Hölderlin eng verwoben, er durfte den Kranken mit Wilhelm Waiblinger und anderen ins Presselsche Gartenhaus auf den Tübinger Österberg geleiten, er bekam nach Hölderlins Tod 1843 einen ganzen „Rummel“ seiner hinterlassenen Gedichte zur Sichtung – „äußerst mattes Zeug“, sagte er und gab sie zur Entsorgung frei und sah wohl in dem Kranken seine eigene Zukunft, die zum Glück nicht eintrat. Der Dichter von Mein Eigentum will heute nicht zum Himmel gezogen und im Busen verzehrt werden, sondern still den vertrauten und geliebten Pfad in den Wald spazieren, wo goldenes sterbendes Herbstlaub die Bäume schmückt, „und kränzt auch mir die Stirne ihr holden Erinnerungen“. Er sagt nicht, an wen oder was er sich erinnern will; schön und lieb sind die Erinnerungen jedenfalls. Der Kranz um sein Haupt erinnert an den Lorbeerkranz des poeta laureatus, und mit diesem Bilde würden die Erinnerungen den Dichter krönen. Der spricht ja auch gleich wieder davon, dass der Gesang „mein freundlich Asyl“, der „Garten“ sein soll, eben sein Eigentum, das ihn vor der mächtigen Zeit schützt, deren Wellen ihn mitreißen könnten.

Spät hat Hölderlin zwei Gedichte geschrieben, die die Erinnerung im Titel tragen: Mnemosyne und Andenken. Mnemosyne ist in einem Entwurf und einer sich stark davon unterscheidenden Endfassung überliefert; wir können wegen der gedanklichen Dichte nur ein paar Motive der Endfassung besprechen. Mnemosyne ist ein griechisches Wort, mnemo deutet auf Denken (vgl. lat. mens aus mn), und syn heißt zusammen, zugleich; zwei Dinge werden also zusammen gedacht, etwas zeitlich oder räumlich Entferntes zusammen mit dem jetzt Gedachten. Bei den philosophisch mythologisierenden Griechen war Mnemosyne eine Tochter von Uranos und Gaia, gehörte also zu den Titanen wie Kronos dem Vaterverstümmler und Rhea der Mutter des Zeus. Sie ist demnach eine der urältesten Göttinnen und bewahrt das Gedächtnis des Himmels und der Erde von den Anfängen bis in die Zukunft. Göttinnen altern ja nicht – „ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau; / Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau: / Nie wird sie mündig, wird nicht alt, / Stets appetitlicher Gestalt“, wie Chiron im zweiten Teil von Goethes Faust über Helena sagt – deshalb greift sich der sexsüchtige Zeus die Mnemosyne und schläft neun Nächte mit ihr. Ergebnis: Mnemosyne wird Mutter von zunächst drei, dann neun Musen. Diese sind als Gesamtheit für die griechische Kultur und Erziehung zuständig, aber auch einzeln für Theater, Musik, Sport, Geschichtschreibung. In dem Gedicht Mnemosyne heißt es anfangs:

[…] Und immer
Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist
Zu behalten. Und Noth die Treue.
Vorwärts aber und rükwärts wollen wir
Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie
Auf schwankem Kahne der See.

Gegen die Sehnsucht ins Ungebundene, wo kein Gesetz, keine Ordnung, kein Gedenken ist, wird daran erinnert, dass vieles zu behalten (Mnemosyne!) und Treue notwendig ist; Treue ist das Festhalten aus ethischen Gründen an einem Freund, einer Organisation, einer Idee, also im Gegensatz zum bloßen Behalten eine geistige Form der Erinnerung. Weil das alles schwer ist, („Wie auf den Schultern eine Last von Scheitern“), erinnert sich der Sprecher an die 5. Promenade in Rousseaus letzter Veröffentlichung Rêveries du promeneur solitaire, wo Rousseau, auf der Petersinsel im Bielersee/Schweiz botanisierend, sich in einem Boot Wind und Strömungen überlässt und einen Moment wunschlosen Glücks, des ohne Reue in die Vergangenheit und ohne Hoffnung in die Zukunft Denkens erfährt und zu diesem Augenblick sagt: „Que ce moment durât toujours!“ – „Werd ich zum Augenblicke sagen: / ‚Verweile doch, du bist so schön!‘ / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!“ Ich habe das Zitat aus Goethes Faust gewählt, denn für diesen ist der Satz genauso wichtig und gefährlich wie für Hölderlin, hängt für Faust doch der Tod und die mögliche Erlösung davon ab. Bei Hölderlin ist die Versuchung, sich keine Sorgen mehr über Vergangenheit und Zukunft zu machen und einfach vor sich hin zu leben, genauso gefährlich angesichts der Störung bei den Elementen, angesichts des Gangs der Weltorganisation und angesichts der Bedrohung der „alten Geseze der Erd“. Vielmehr gilt es, um Ordnung, Gleichgewicht in der Welt, der Gesellschaft, der Seele zu kämpfen.

Denn Schnee, wie Majenblumen
Das Edelmüthige, wo
Es seie bedeutend, glänzet auf der grünen Wiese
Der Alpen, dort
Vom Kreuze redend, das
Gesetzt ist unterwegs einmal
Gestorbenen, geht auf hoher Straß
Ein Wandersmann zornig mit
Dem andern

Der Text spielt auf Friedrich Leopold Stolbergs Aufsatz Über die Begeisterung an, wo von: „Alpengegenden, wo am Fuße des ewigen Eises die Schätze des Sommers blühen“ die Rede ist und „Zorn“ als Übersetzung von griechisch orgè und damit Begeisterung benutzt wird. Stolberg redet von Dichtern und ihren Gedichten, Hölderlin von der Welt und der Seele. Er erfindet das Kreuz der Gefallenen, ein Zeichen des Gedenkens an die Gestorbenen und eine „warnende Stelle“ wie in Hölderlins Ode Dichtermut, wo Rousseau, der alles auf einmal tun und sagen wollte, untergegangen ist und wo der vorübergehende Dichter schweigt.

Eines der letzten Gedichte vor der Einlieferung in den Tübinger Hölderlinturm ist Andenken. Hölderlin war in Bordeaux und ist 1802 nach Stuttgart und Nürtingen zurückgekehrt, aufgewühlt von der Reise, unterwegs vielleicht beraubt, aufgewühlt von der vielleicht von Landauer erhaltenen Nachricht, dass im selben Jahr Susette Gontard an Röteln gestorben war. Deshalb erinnert er sich an Bordeaux, wohin der Nordostwind weht, mit dem das Gedicht anfängt und der ihm „der liebste unter den Winden“ ist. Er denkt an Bordeaux, wo alles schön ausgeglichen war, Tag- und Nachtgleiche, typisch deutsche (Eiche, Ulme) und typisch südfranzösische (Silberpappel, Feige) Bäume; das Zusammentreffen von Dordogne und Garonne zur meerbreiten Gironde, Wein als „dunkles Licht“, das ihm jetzt Ruhe bringen würde, das gute Gespräch, das Vergessen der nicht guten „sterblichen Gedanken“.

Zum Gespräch fehlen aber die Freunde „Bellarmin mit dem Gefährten“, das ist Hyperion, der in Hölderlins Roman dem in Deutschland leidenden Freund Bellarmin Briefe schreibt. Ihrer gedenkt Hölderlin wie Gesprächspartnern, denen er „des Herzens Meinung“ gesagt und von denen er Denkwürdiges gehört hätte. Er ist an die Quelle gegangen im Nordosten, mancher andere scheut sich davor, denn „Es beginnet nemlich der Reichtum im Meere“, während die Quelle keinen Reichtum erwarten lässt, wohl aber der Anfang von allem ist. Die Männer, die „zu Indiern“ gegangen sind, bringen „das Schöne der Erd zusammen, notfalls mit Krieg. Zu Indiern, das heißt dem Nordost ungefähr folgend nach Westindien und Amerika, schiffte sich 1777 an der „luftigen Spiz“ der General Lafayette ein, der dann im Bürgerkrieg kämpfte und nach der Rückkehr 1789 die in den USA 1779 proklamierte Erklärung der Menschenrechte verlas, die als Grundlage aller gesellschaftlichen Einrichtungen in die französische Verfassung aufgenommen wurde. Das ist ein wesentlicher Teil des Schönen, das die Männer von der See mitbringen, um es an die Quelle zurückzutragen – die Gedanken der Menschenrechte wurden in der deutsch-französischen Aufklärung entwickelt und nur in der konstitutionellen Monarchie Württembergs ansatzweise verwirklicht.

Das ist die Quelle, die Hölderlin letztlich meint. Und sein Roman Hyperion, in dem er anhand der „wundergroßen Tat des Theseus“, der auf sein Königtum verzichtet und einen Bundesstaat attischer Gemeinden gründet, die Demokratie erfindet. Deshalb kann er am Schluss von Andenken schreiben:

Es nehmet aber
Und giebt Gedächtnis die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Der Roman Hyperion wurde nach einigen Vorstufen 1797 und 1799 in zwei Bänden veröffentlicht. Eine dieser Vorstufen ist das Fragment von Hyperion, das Friedrich Schiller 1794 in seiner Zeitschrift Neue Thalia publizierte, einer der ganz wenigen Texte, mit denen Hölderlin bekannt wurde und viele wichtige Leserinnen und Leser gewann. Schiller fand den Text so bedeutend, dass er ein ganzes geplantes Heft der Zeitschrift ausräumte. Er war wahrscheinlich angetan von der nur eine Seite langen Vorrede, die eine Anthropologie, Geschichtstheorie, Pädagogik, Ästhetik enthält und auf neuplatonischer Basis Rousseaus Anthropologie und Herders Organisationstheorie zusammenfasst. Hier zeigt sich Hölderlin als Philosoph, der aus philosophischer Einsicht Dichter geworden ist. Schon im Fragment, prägend im Roman, zeigt sich die Erinnerung. Hyperion wächst auf der kleinen griechischen Insel Tina auf und hat einen Lehrer, Adamas, der den griechischen Knaben in die große Zeit, die Kunst, Architektur, Dichtung einweiht.

Adamas reist weiter nach Osten, Hyperion geht nach Smyrna (heute Izmir), um zu studieren. Dort trifft der Idealist den heroischen Alabanda, sie freunden sich an und diskutieren heftig zum Beispiel über die Aufgaben und notwendigen Eingriffe des Staats in die Gesellschaft. Streit gibt es vor allem wegen einiger „Freunde“ aus der Vergangenheit Alabandas; die zwei trennen sich. Hyperion, bisher stürmisch idealisch, versinkt in eine lange Trauer – Hölderlin beschreibt seine eigene manisch-depressive Krankheit an der Figur Hyperion. „Mitten in meinen finstern Tagen lud ein Bekannter von Kalaurea herüber mich ein.“ Kalaurea, heute Poros, ist eine Insel am Rande der Halbinsel Methana. Bei einem Spaziergang trifft Hyperion zufällig Diotima, eine große Liebe beginnt, sie will mit ihm die Neugriechen erzieherisch an ihre alte Größe erinnern und sie letztlich anregen, das osmanische Joch abzuschütteln. Sie begeistert sich wie er, doch macht Hyperion den entscheidenden Fehler, sie heiraten zu wollen. Sie würde lieber den Volkserzieher wie einen der Dioskuren begleiten, aber als er sagt, er könne nicht ohne sie leben, willigt sie ein und identifiziert sich dann so mit ihm, dass sie ihm nachsterben will, als sie die falsche Nachricht von seinem Tod erhält. Alabanda hat sich wieder gemeldet und fordert ihn auf, mit in den Befreiungskrieg zu ziehen, der nicht um 1770, sondern erst um 1825 erfolgreich ist. Hyperion muss erleben, dass seine eigenen Truppen die griechischen Bürger ausplündern und töten, und stürzt sich in eine russisch-türkische Seeschlacht, in der sein Schiff explodiert. Alabanda zieht ihn schwer verwundet aus dem Wasser und pflegt ihn langsam wieder gesund. Nun nimmt Alabanda an, dass Hyperion mit Diotima weiterleben wird, und liefert sich seinen „Freunden“ aus, die ihn wahrscheinlich töten werden.

Auch Diotima stirbt, erhält noch kurz vor ihrem Tod die Nachricht, dass er lebt und mit ihr in die Schweizer Idylle und Freiheit ziehen will, aber es ist zu spät. Hyperion sucht noch ihren Wunsch zu erfüllen und Volkserzieher zu werden, geht nach Deutschland und wird schwer enttäuscht: der berühmte Scheltbrief über die Deutschen ist der zweite Text, der Hölderlin bekannt machte und mit dem er bewusst sein Leserpublikum spaltete. Hyperion flieht nach Hause und muss sich dort verstecken, denn die osmanische Regierung fahndet nach ihm. Von seinen verschiedenen Eremitagen schreibt er Briefe an Bellarmin, den „schönen Deutschen“, und schreibt sich langsam aus seiner tiefen Verzweiflung über sein verfehltes Leben und die Schuld am Tod Alabandas und Diotimas heraus. Diese Briefe sind, abgesehen von kurzen Beschreibungen seines Eremitendaseins und allgemeinen Betrachtungen, Erinnerung an sein früheres Leben und Verarbeitung seiner Erinnerungen. „O bin ich doch hundertmal vor diesen Augenbliken, dieser tödtenden Wonne meiner Erinnerungen geflohen.“ Erst am Ende des Romans ist er fähig, die Erinnerung an Liebe und Schuld auszuhalten. So kann man den Hyperion unter anderem auch als Roman der Erinnerung und ihrer Bewältigung bezeichnen. Hyperion wird seinem Namen als „der drüber Hingehende“ erst am Ende gerecht; es ist auch der Name der Sonne. So sagt Diotima: „dein Namensbruder, der Herrliche Hyperion des Himmels ist in dir.“

Wir nannten die Erde eine der Blumen des Himmels, und den Himmel nannten wir den unendlichen Garten des Lebens. Wie die Rosen sich mit goldenen Stäubchen erfreuen, sagten wir, so erfreue das heldenmütige Sonnenlicht mit seinen Strahlen die Erde […] die immer treuer liebende Hälfte des Sonnengotts, ursprünglich vielleicht innigst mit ihm vereint, dann aber durch ein allwaltend Schiksaal geschieden von ihm, damit sie ihn suche, sich nähere, sich entferne und unter Lust und Trauer zur höchsten Schönheit reife. So sprachen wir.

Die Liebe zwischen Diotima und Hyperion wird in den Kosmos projiziert und zugleich mit der Rede des Aristophanes im Symposion Platons erläutert, wonach die Menschen ursprünglich eine Kugel, waren sich selbst liebten und sich selbst genügten, so dass sie keine Bedürfnisse hatten und keine Götter brauchten. Da schnitten die Götter sie auseinander, und seither suchen sich die beiden Hälften, Mann und Frau, Erde und Himmel, Geist und Seele. Die Hälften suchen sich, weil sie sich an ihre Ganzheit und ihr vollgültiges Glück erinnern.

Man sieht, der Hyperion ist ein Roman der Erinnerung und eine psychologische Studie ihrer Bewältigung. Dass er zugleich ein philosophischer, pädagogischer, anthropologischer, religiöser, politischer Roman ist, könnte man näher ausführen, aber wir sprechen über Erinnerung. Wie wichtig sie für seine Lyrik und seinen Roman ist, haben wir gesehen. „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

 

Hölderlins Werke werden zitiert nach: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Michael Knaupp (Münchner Ausgabe).