Nicht alles ist so schwerelos wie es scheint

Rainer Strobelt dichtet in „lüfte fragen“ mit heiterem Ernst

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Strobelt beobachtet und hütet Wörter, lauscht ihnen Melodien ab und verleiht Begriffen neue, poetische Bedeutungen – versuchsweise ernsthaft, oft humorvoll. Mit lyrischen Miniaturen hat der ostwestfälische Dichter weniger auf sich als auf das weite Land der Dichtung aufmerksam gemacht. In dem jüngst publizierten Band sinniert Strobelt auch über die Endlichkeit. Manche Verse wirken spielerisch, doch er spielt nicht – er deutet an, lässt Worte und Gedanken ungeahnte Symbiosen eingehen. Er weiß, dass der Dichter die Sprache nicht beherrschen soll, sondern Freiräume schenken darf. Die Wörter sind ihm anvertraut, darum macht er sie sich nicht zu eigen.

In diesen sehr besonderen Zeiten begegnen Menschen einander maskiert, nicht metaphorisch, sondern tatsächlich. Verbergen wir uns nur hinter den Masken dieser Zeit, zeigten wir gestern, zeigen wir morgen einander unser Gesicht? Die Doppelsinnigkeit bleibt gewahrt, denn Strobelt fragt, wem wir uns wirklich öffnen, der Herzensfreundin, dem Lebenspartner, dem geliebten, vertrauten Du, das uns ganz sieht, ob wir maskiert sind oder nicht?

maske

nur du
darfst mund und
meine 

wangen sehn

An dieses geliebte Du glaubt Strobelt. Auch Gesichter können maskenhaft sein, wie ein verbindliches Lächeln von Verhandlungspartnern, wie eine professionell eingeübte Freundlichkeit. Strobelt sagt „nur du“, und dieses „du“ tritt in die Nähe, darf sehen, sieht auch tiefer und anders. Die „Mund-Nasen-Bedeckung“ der Corona-Zeit tut diesem Sehen keinen Abbruch, auch wenn wir daran lesend denken müssen, wenn der Dichter über Masken schreibt. Die Liebenden sehen einander, sehen sich trotzdem und berühren sich mit lächelnden Blicken – und die, die einander lieben könnten, tun das vielleicht auch:

bra und alge

nennst du mir deine zähler
zähl ich dir meine nenner
ach besser wir sind liebende
und keine brüchekenner 

Strobelts „Brüchekenner“, sind das mathematisch begabte Zeitgenossen, die alles genau wissen und zu berechnen vermögen? Oder doch die sehenden Liebenden, die auf jede Bruchrechnung verzichten möchten? Die Liebenden wissen, dass sie aufeinander zählen können, ohne zählen zu müssen. Wie schön ist es doch, denken sich Lesende, so wie Sie und ich, dass Lyrik diese Lebens- und Liebesträume zart beschreiben kann.

Manchmal philosophiert Rainer Strobelt auch, zwar nicht schwerblütig, eher andeutungsweise. Der Dichter erdet skeptisch erhabene Argumente:

cogito ergo hmm

kenne alles
weiß von nichts

Descartes „Cogito“ belässt er im Gedankenhimmel der Philosophen. Ein wenig desillusioniert, auch illusionslos mutet die hier vorgestellte Einsicht an. Von Wissbegierde ist nicht die Rede, ebenso wenig von einem Drang nach Wissen oder einem festen, entschlossenen Willen zur Erkenntnis – „kenne alles“, das könnte auch heißen: Du kannst mir nichts vormachen, ich habe viel gesehen, nur an dem praktischen Wissen zur Lebensführung mangelt es doch. Strobelts „cogito“, d. h.: „Ich denke …“, bleibt im weiten Land des „hmm“ und „weiß von nichts“, möchte nicht belehren, aber fortleben, wenn auch lieber analog als digital:

usw

das wissen um das küssen
ist neuerdings zerschlissen
man kost sich schließlich digital
das mit den lippen war einmal

Die Schönheit analoger Zweisamkeit lässt sich schwerlich mit digitalen Techniken kompensieren. Oder doch? Strobelt, der dichtende Liebhaber der Sprache, verzichtet auf den virtuellen Kuss. So beschreibt er die entfachte Glut der Emotionen präzise wie berührend:

sein

er
kann nicht anders
sie
kann nicht anders
es
kann nicht anders

sein

Alles Wesentliche ist gesagt in dieser minimalistischen Liebeslyrik, die ohne trunkene Sentimentalität und emphatischen Daseinsjubel auskommt und so auch bekömmlich bleibt. Zurück aber zu dem Philosophen Rainer Strobelt, der wahrscheinlich nicht Weltweisheiten lehren möchte, aber von Fragen bewegt, ja behelligt bleibt, die er nicht abweisen kann. In dem titelgebenden Gedicht lüfte fragen scheint die Sehnsucht und Suche nach Wahrheit auf, ein großes Wort, zugleich mehr als ein Wort – der Dichter fragt sich, „wo es hier zur Wahrheit geht“. Doch befriedigt die Antwort? „klar musst bloß die lüfte fragen / wo ihr schönster Zweifel weht“ – ein Zweifel, der eingezeichnet ist in das Denken, nicht aber in die Liebesbeziehungen, von denen Strobelt erzählt. Auf einmal wird die Frage, etwas unerwartet, ganz groß, immer größer – in order und schwall:

stell dich doch
stell dich doch nicht so
stell dich doch nicht so an 

mein gott stell dich doch
wenigstens 

In diesen lyrischen Momenten wird Hiob, der leidende Gottesknecht des Alten Testaments, sichtbar, der alle menschlichen Erklärungsversuche abweist, aber von Gott eine Antwort erhalten möchte, warum er leiden muss. Gott also soll sich wenigstens stellen und die Fragen aushalten. 

Verborgen zwischen leisen Versen erkundet Rainer Strobelt gedankenvoll verstreute Lebensmomente, beschreibt, beglückend wortkarg, die Freuden der Zweisamkeit und scheut sich nicht, auch – wie beiläufig – die Gottesfrage zu stellen, als redlich denkender Dichter, der die Sprache verehrt und alle, die seine Gedichte lesen, ohne Worte dazu einlädt, dies ihm gleichzutun. Rainer Strobelts Lyrik führt hinein in den Kosmos der Poesie. Aus diesem Paradies der schönen Dichtkunst möchte niemand vertrieben werden.

Titelbild

Rainer Strobelt: lüfte fragen. Gedichte.
chiliverlag, Verl 2021.
72 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783943292916

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