Schreibend die Welt verändern
Ein Arbeitsbuch und eine Biographie zu Anna Seghers
Von Helge Schmid
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSonja Hilzinger hat seit Jahren regelmäßig über Anna Seghers publiziert. Ihr Buch richtet sich an Schüler und Studierende; ihr geht es um eine "wechselseitige Kontextualisierung von Leben und Werk". Dazu untersucht sie die "Knotenpunkte" in Seghers´ Werk, darunter die bürgerlich-jüdische Herkunft der Autorin, ihre Emigration, die politische Neuorientierung nach dem Hitler-Stalin-Pakt, Seghers` Rückkehr nach Deutschland und ihre Entscheidung für die DDR.
Die Kontextualisierungen gelingen Hilzinger mehr oder weniger gut. Weniger gut dort, wo sie sich von der Biographik entfernt und zeithistorische und geistesgeschichtliche Hintergründe auszuleuchten versucht. Hilzinger hat sich offenbar um eine lebendige Sprache für Schüler bemüht, die jedoch den Nachteil hat, dass sie begrifflich und gedanklich vielfach irreführend ist: "Die Kommunistenverfolgung in der Sowjetunion unter Stalin forderte kaum weniger Opfer als die unter Hitler. Für die Kommunisten im Exil entstand eine paradoxe Situation zwischen Scylla und Charybdis. Sie waren umstellt von Gefahren für Leib und Leben, und es war fast unmöglich, zu erkennen, was zu tun war, und wem man vertrauen konnte."
Das Grundmuster für Seghers´ Werk sieht Sonja Hilzinger in der Formel "Passion und Erlösung". Das "Grundmuster" ihres Handelns und Schreibens orientiere sich an Dostojewski und Kierkegaard. Es sei schon früh festgelegt gewesen und habe sich später nur graduell verändert. Mithilfe dieser Formel, mag sie auch allzu schlicht erscheinen, gelingt der Autorin eine recht gute Synthese der Forschungsliteratur. Hilzinger kann sich auf eine umfassende Sekundärliteratur stützen, darunter die Forschungen zur Exilliteratur und die bedeutenden Fundstücke, die Alexander Stephan zur Biographie und zum Werk von Anna Seghers beigetragen hat.
In den einleitenden Kapiteln zum "Leben" der Seghers bietet Hilzinger einerseits zuviel, andererseits zuwenig Information. Zahllose Namen, Institutionen und Einflüsse werden hier genannt, doch bleiben Fragen offen: Wofür steht ein John Dos Passos eigentlich, mag der interessierte Schüler fragen, von dem es doch heißt, dass er die Autorin tief beeinflusst habe? Und wann und in welcher Form haben die in Mexiko exilierten KP-Anhänger eigentlich vom Hitler-Stalin-Pakt erfahren bzw. was konnten sie - Anfang der 40er Jahre - über dessen Inhalt gesichert wissen?
Bei der Darstellung des Werkes erscheinen die stoffgeschichtlichen Aspekte am wertvollsten und nützlichsten. Die Interpretationsansätze wirken didaktisch schlüssig und sind für den Schulunterricht sicherlich anregend. Das Lieblingswort der Verfasserin ist "vielschichtig", doch wird die Vielschichtigkeit der Texte immer nur behauptet, nie gezeigt. Störend wirken die Hinweise auf Referenztexte und auf "Vorbilder", soweit sie unkommentiert bleiben.
Als Stilistin ist Hilzinger mit Vorsicht zu genießen. Häufig pakt sie zuviel in einen Satz und setzt sich dadurch Missverständnissen aus. Ein Beispiel: "Manche, wie Gustav Regler, Arthur Koestler, Ervin Sinkó oder Manès Sperber, verließen die KP und kündigten ihr Einverständnis mit der stalinistischen Politik und den Repressionen gegen die eigenen Leute auf." Dieser Satz impliziert, dass Regler, Koestler und Sperber bis dato mit den Repressalien Stalins einverstanden gewesen wären. Doch das ist nicht gemeint; gemeint ist, dass sie einverstanden waren mit den idealen Zielen des Kommunismus, wie sie sie von der KP repräsentiert glaubten. Über solche Formulierungskunst stolpert man hier des öfteren, Misstrauen ist angebracht. Dieses Buch dürfte unter äußerstem Zeitdruck entstanden sein.
Solider arbeitet Christiane Zehl Romero, ebenfalls eine ausgewiesene Anna Seghers-Spezialistin. Ihre Biographie richtet sich weniger an Lernende als an Lesende. Christiane Zehl Romero ist bereits die Verfasserin der Rowohlt-Monographie zu Anna Seghers, doch gegenüber dieser Arbeit von 1993 hat sie viel neues Material erschlossen, unter anderem aus dem Besitz von Ruth und Pierre Radványi. Wie schon Sonja Hilzinger legt auch Christiane Zehl Romero viel Gewicht auf die zahlreichen angenommenen oder erfundenen Namen der Schriftstellerin. Das virtuose Spiel mit Namen ging in der Familie Seghers offenbar weit über die gebräuchliche Verwendung von Ruf- und Kosenamen hinaus. Christiane Zehl Romero vermutet ein "Trauma" dahinter.
Christiane Zehl Romeros Buch umfasst den Zeitraum 1900 bis 1947. Ein zweiter Band soll folgen. Der erste Teil der Biographie beginnt demnach mit der Geburt Netti (später Netty) Reilings und dem Eintrag in das Geburts-Haupt-Register der Stadt Mainz, er endet mit Seghers´ Heimkehr nach Deutschland. Doch wird auch die Herkunft der Eltern (zu beiden Seiten aus angesehenen jüdischen Familien stammend) dargestellt, wird ein kurzer, aber wichtiger Exkurs in die Stellung der Mainzer Juden im 19. Jahrhundert gewagt, wird der Aufstieg der "Kunst- und Antiquitätenhandlung David Reiling" und der Familie ins Mainzer Großbürgertum nachgezeichnet. Sehr gut gelingt Zehl Romero auch der Einblick in das Seelenleben einer jungen Frau, die - durchaus selbstbewusst, aber mit enger Bindung an die Familie - studiert, sich sozial engagiert und, nur halb überzeugt von einem künftigen ehelichen Glück, 1925 in die Heirat mit Lászlo Radványi einwilligt. Radványi, der sich wie ein väterlicher Freund gibt (und sie in Briefen mit "mein Kind" anredet), hat ihr wohl weder ihre sexuellen Wünsche erfüllt, noch ist er ihr zeitlebens treu geblieben.
Zwischen Studienzeit und Ehe ist Seghers´ schriftstellerische Leidenschaft schon voll entbrannt, nur selten fürchtet sie, dass diese "Begabung" sie wieder "verlassen" könnte. Natürlich kommt auch eine Biographie nicht um die Interpretation des Werkes und um die Diskussion der "biographischen Lektüren" herum, die Seghers´ Œuvre begleiten. So deutet Zehl Romero die 1931 veröffentlichte Unterhaltung "Die Entdeckung Amerikas", ein "Gespräch mit einem kleinen Jungen" über Christoph Kolumbus, als Metapher für das sozialistische Projekt als dem großen Abenteuer schlechthin. Eine schöne Idee, die sogleich in den Kontext der späteren DDR-Literatur eingebettet wird, als deren Repräsentanten Fritz Rudolf Fries ("Der Seeweg nach Indien", 1975) und Christoph Hein ("Kein Seeweg nach Indien", 1990) den Versuch beschreiben, gegen eine widrige Wirklichkeit mit "hochfliegenden Träumen" zu rebellieren.
"Gedichte fast nie. Ich war auf Personen und Handlungen aus", sagt Seghers über ihre ersten Schreibversuche. Sie wollte Wirkung, wollte Aktion, war sich aber wohl klar darüber, dass sie kaum etwas zum Sturz Hitlers beitragen konnte. Gleichwohl wirkte in ihr der Schlussappell der Konferenz von Charkow von 1930 nach, die sie besucht hatte und sie in ihrer Haltung bestärkte, dass auch das Wort im politischen Kampf gegen den Faschismus seine Wirkung tun könne.
Für ihre Spurensuche hat die Biographin unter anderem die Privatarchive von Pierre und Ruth Radványi benutzt, den Kindern von Anna Seghers (die sie auch befragen konnte). Hier sind in jüngster Zeit tagebuchartige Aufzeichnungen sowie frühe Erzählungen und literarische Entwürfe entdeckt worden. Zu den Quellen dieser Biographie gehören ferner die veröffentlichten und die unveröffentlichten Briefe, die Interviews mit Seghers, die Aufzeichnungen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis und die Erkenntnisse der Exil-Forschung. Christiane Zehl Romero hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sich Seghers´ Werk im Grunde nicht autobiographisch lesen lässt. Aber Zehl Romero weiß diesen Nachteil zum Vorteil umzumünzen: Ihre Biographie ist derart gründlich recherchiert, dass man nur mit Respekt den Hut ziehen kann.