Ich ist kein anderer

Christian Hoffmanns Studie über die "Konstitution der Ich-Welt" beim autobiographischen Schreiben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine grundsätzliche Frage, die Hoffmann umgetrieben und ihn zu Erkundungen im Grenzbereich von Philosophie und Literaturwissenschaft geführt hat: Wie lässt sich persönliche Identität analytisch beschreiben? Ergebnis dieser Erkundungen im Niemandsland ist ein wunderbares Buch, leicht zu lesen trotz seines komplexen Gegenstandes und spannend geschrieben. Hoffmann führt den Leser von einer Frage zur nächsten, liefert eine lückenlose Argumentationskette und präsentiert zum Schluss nicht ohne Stolz eine Lösung, die auch kritischen Lesern (fast) keine Angriffsflächen mehr bietet.

Zunächst stellt Hoffmann klar, wie unbefriedigend die bisherigen Angebote der Forschung sind, das Phänomen der persönlichen Identität zu klären. Fragen wie: Wie ist es möglich, dass wir uns "als völlig Fremde gegenüberstehen zu früheren Zeitpunkten" und doch "nichtsdestoweniger dieselben sind", haben vor allem im angelsächsischen Sprachraum zahlreiche Untersuchungen provoziert. Bevor Hoffmann die Schwachstellen wichtiger Positionen offen legt, deutet er bereits an, dass er im letzten Kapitel ein Kaninchen aus dem Hut zaubern wird. Die Funktionsweise und Bedeutung autobiographischen Schreibens ist für ihn der fehlende Puzzlestein, der dafür sorgen wird, dass plötzlich alles zusammenpasst.

Hoffmanns Modell kann hier nur unzureichend mit wenigen Strichen nachgezeichnet werden. Eine erste wichtige Feststellung lautet, dass die eigene Wahrnehmung von der anderer notwendigerweise verschieden ist. Wenn ich über jemand anderen Auskunft geben soll, sind die "physischen Anteile" unentbehrliche Bezugsgrößen. Lächelt jemand, dann ist er glücklich. Andererseits kann er es auch spielen und uns täuschen. Gebe ich über mich selbst Auskunft, dann dominieren die psychischen Anteile. Eine Konstante dabei ist: Zu unserer "objektiven Existenz" nehmen wir einen "subjektiven Standpunkt" ein. Um Identität zu generieren, können wir uns nun mit "gesellschaftlichen Institutionen" identifizieren oder die Identifizierung verweigern (1. Ebene); wir können auf unsere "eigene Vergangenheit Bezug" nehmen (2. Ebene), und wir können unsere Identität selbst entwerfen (3. Ebene). Zwischen den Ebenen bestehen zahlreiche Relationen, so wird etwa ein Widerstand gegen Institutionen oft mit einer starken "Selbstkreation" persönlicher Identität einhergehen.

Solange es zu keiner Komplettverweigerung auf allen Ebenen kommt, müssen wir uns als geschichtliche Subjekte begreifen, denn wir definieren uns in unserem Verhältnis zur Umwelt. Wenn wir dies aktiv gestaltend tun, dann füllen wir zahlreiche Lücken auf, die aus unserer subjektiven Sicht und Gedächtnisverlusten entstehen. Insofern besteht Geschichte (history) immer aus Netzwerken von Geschichten (stories). Im autobiographischen Schreiben haben wir nun laut Hoffmann den exemplarischen Prozess der Konstruktion persönlicher Identität vor uns. Der Autor rekonstruiert und konstruiert seine Lebensgeschichte gleichermaßen, denn: "Diese Art der Erinnerung versucht, das gewesene Leben als etwas zu verstehen, das zu dem im Moment des Schreibens erlebten Leben geführt hat." Dieser je nach Autor-Ich variierende subjektive Faktor, also das Element der Konstruktion eigener Geschichte, wird mit dem Begriff der Fiktionalität gleichgesetzt.

Trotz der großen Kohärenz der Studie und ihrer leichtfüßigen Argumentation auf glattem Parkett wird nicht alles restlos geklärt. So wäre im Analyseteil zu fragen, ob nicht mehr als nur das Gehirn als "notwendiger Bestandteil unseres Körpers" (aus der Perspektive der Fragestellung) gesehen werden kann. Das eine Problem an dieser übernommenen These ist deren Zuspitzung, das andere stellt die Vernachlässigung der psychischen Folgen physischer Veränderungen dar. (Wenn jemand zum Beispiel durch einen Unfall querschnittsgelähmt wird, dürfte er nach dem Unfall ein anderer sein als zuvor.) Zweitens wären semiotische oder sprachwissenschaftliche Kategorien besser geeignet gewesen, die Unterschiede zwischen mit Begriffen versehenen Gegenständen und "umgangssprachlichen Begriffen" zu bezeichnen; wir begegnen hier dem alten Problem des Verhältnisses von Signifikant, Signifikat und Referent. Weniger eine Detailfrage darstellend als vielmehr im Zentrum der Argumentation stehend, zeigt sich Hoffmanns Definition von Fiktionalität. Sie ist für die Bestimmung autobiographischen Schreibens zweifellos hinreichend, doch kann die Bedeutung 'fiktional = erfunden' nicht einfach ausgeklammert werden. Nicht alle Strategien von Autobiographien dienen der narrativen (Re-) Konstruktion persönlicher Identität, man denke an die Anpassung von Stil und Präsentation an Marktbedingungen oder literarische Moden. Und was ist mit fiktiven Autobiographien?

Das Prüfen und Weiterdenken seiner Thesen dürfte Hoffmann, so wie wir seine persönliche Identität durch den Filter seiner Dissertation wahrgenommen haben, sicher begrüßen. Dem Werk ist eine ausgiebige Rezeption in beiden Disziplinen, Philosophie und Literaturwissenschaft, zu wünschen.

Titelbild

Christian Hoffmann: Die Konstitution der Ich-Welt. Untersuchung zum Strukturzusammenhang von persönlicher Identität und autobiographischem Schreiben.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
188 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3826019172

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