Leben schreiben

Christian Klein sammelt Beiträge zu den "Grundlagen der Biographik"

Von Anja TippnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Tippner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenige literarische Genres sind gleichzeitig so populär und so schlecht angesehen wie die Biographie. Von Bestsellern und Starbiographien wie "Diana. Her True Story" bis zur Lebensbeschreibung von historischen Randfiguren wie Hitlers Sekretärin reicht das Spektrum einer Gattung, die vielen noch als "Bastard der Geisteswissenschaften" und als "akademischer Selbstmord" gilt. Mit der Geringschätzung der biographischen Praxis geht deren Vernachlässigung auf dem Gebiet der Theoriebildung einher. Diesem Mangel sucht nun ein von Christian Klein herausgegebener Sammelband Abhilfe zu schaffen. Dabei nähern sich die Beiträge ihrem Gegenstand - der Lebensbeschreibung - von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus: als Biograph, der die eigene Rolle reflektiert, als Jurist, der sich mit "Rechtsfragen des Biographieschreibens" beschäftigt und nicht zuletzt als Literaturwissenschaftler, der Lebensbeschreibungen zum Gegenstand seiner theoretischen Überlegungen macht. Wie die Biographie selbst, so leben auch die Beiträge von der thematischen Vielfalt der Lebens- und Textmodelle, denen sie sich zuwenden.

Ein zentrales Problem der Schriftstellerbiographik ist das Verhältnis von Leben und Werk. Die Frage, ob es legitim sei, literarische Texte als Quellen explizit autobiographischen Texten gleichzustellen, formulieren mehrere Beiträge. Sigrid Weigel plädiert in ihrem Aufsatz dafür, das "Briefgeheimnis zu wahren" und die erhaltenen Texte einer Autorin wie Ingeborg Bachmann mit Derrida zugleich als öffentlich und geheim zu lesen. Die Biographin müsse sich hierzu in ein "dialogisches Verhältnis" zu den Lebensspuren setzen. Peter André Alt weist unter dem Stichwort "Mode ohne Methode" darauf hin, dass gerade Dichterbiographien häufig genug das Leben privilegierten und das Werk negierten. Die Interpretation von literarischen Texten als Ausdruck der Gefühle, Gedanken und inneren Einstellungen des Autors nimmt deshalb in seinem Konzept des Biographischen eine wichtige Stellung ein. Auch Hermann Kurzke plädiert dafür, auf literarische Texte als Quellen zurückzugreifen. Lebensbeschreibungen, die sich nur auf Selbstaussagen in Briefen, Essays oder autobiographischen Texten stützten, könnten nur die "Außenseite, die öffentliche Inszenierung zeigen". So gewinnt er aus der Zusammenschau von Thomas Manns Tagebüchern und von literarischen Texten, denen er einen "autobiographischen Kern" unterstellt, Einblicke in die "Triebmechanik" des Autors.

Die Bedeutung von Geschlecht und sexueller Orientierung für die Biographik wird von Anita Runge herausgestellt. Sie rekonstruiert die verschiedenen Phasen feministischer Biographiekonzeptionen am Beispiel Marieluise Fleißers und unterstreicht die Divergenz selbst feministischer narrativer Lebensbeschreibungen. Um Geschlechtsidentität und Sexualität kreisen auch zwei Beiträge zu Thomas Mann und Federico Garcia Lorca. Im Zentrum von Gary Schmidts Analyse steht die Frage, wie die sexuelle Orientierung Thomas Manns von seinen Biographen gedeutet und in den Mannschen Lebensentwurf integriert wird. Als Schlüsseltext für die Deutung von Thomas Manns homoerotischen Neigungen dient den meisten seiner Biographen neben den Tagebüchern die Erzählung "Der Tod in Venedig". Diese Erzählung zeichnet ein durchaus ambivalentes Bild von Homosexualität und wird teils als offener Ausdruck von Manns privatem Begehren, teils als dessen ästhetische Sublimierung gedeutet. Ganz ähnlich gelagert ist Werner Altmanns Untersuchung zu biographischen Darstellungen Lorcas während der Franco-Zeit. Die "Strategien des Verschweigens" charakterisieren hier jedoch weniger den Umgang des Autors mit einem Tabu, sondern die Haltung der Gesellschaft gegenüber diesem offenen Geheimnis.

Ein Vorteil des Sammelbandes ist der ständige Perspektivenwechsel im Blick auf den Gegenstand, der aus den integrierten Werkstattberichten resultiert. So liefert etwa Dieter Kühn mit seinen Reflexionen zum "Stichwort: literarische Biographie" eine komplementäre Ergänzung zu Alts Beitrag und kritisiert die Privilegierung des literarischen Textes und der Textexegese auf Kosten des Lebenstextes. Der Biograph von Oswald von Wolkenstein und Clara Schumann bestimmt in kritischer Auseinandersetzung mit Alts Schiller-Biographie den Unterschied zwischen wissenschaftlicher und literarischer Biographie. Auch wenn die literarische Biographie keinen Platz hat für "Fiktionen", so ließe sie doch "Subjektives", d. h. die Einstellung des Biographen zu seinem Gegenstand zu. Im Vergleich mit Alts "literaturwissenschaftlicher" Biographie hebt er die andersartige Vorgehensweise in seinen "literarischen" Biographien hervor. Insbesondere in der stärkeren Subjektivität seiner Texte macht Kühn die entscheidende Differenz zu wissenschaftlichen Werkbiographien aus. Für Kurzke ist es neben dem Stillschweigen über die eigene Methode insbesondere der Rückgriff auf spannungserzeugende Strategien der erzählenden Literatur, die zur Eigenständigkeit einer nicht philologisch inspirierten Biographik beitragen. Auch wenn es gerade die Praktiker sind, die diesen Gegensatz betonen, so fällt doch auf, dass die Unterscheidung zwischen "literarischer" und "wissenschaftlicher" Biographik eine recht akademische ist, die keineswegs der Vielfalt biographischer Schreibweisen gerecht wird oder diese auch nur zu bündeln vermag. In einem Gespräch mit dem Herausgeber des Bandes, Christian Klein, entwickelt der amerikanische Literaturwissenschaftler Sander L. Gilman seine Thesen zur Biographik und berichtet über die Arbeit an einer Biographie Jurek Beckers. Er weist darauf hin, dass es für Biographien ebenso wie für Autobiographien eine Art "Lektürevertrag" gibt, der im Sinne Philipe Lejeunes für Authentizität bürgt. Zu diesem Lektürevertrag gehört auch die Glaubwürdigkeit der Aussage: "Die Frage lautet nicht, ob die Geschichte wahr ist, sondern ob sie glaubwürdig ist."

Unter der Überschrift "Autoren auf der Couch" weist Thomas Anz darauf hin, dass noch die psychoanalytische Künstler- und Dichterbiographik in der Tradition von Freuds Abhandlung über Leonardo da Vinci ihre Wurzeln in der Psychopathographie des 19. Jahrhunderts hat. Die erzählende Deutung eines Lebens im biographischen Text birgt Parallelen zur psychoanalytischen Rekonstruktion der Patientenbiographie im therapeutischen Gespräch. Dennoch weist er auch auf fundamentale Unterschiede zwischen dem psychoanalytischen und dem biographischen "setting" hin, wie das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, oder Öffentlichkeit und Diskretion. Die bewussten und unbewussten Dispositionen des Biographen sind im Kontext einer psychoanalytischen Auseinandersetzung mit Lebensentwürfen genauso bedeutsam wie die latenten und manifesten Probleme des biographierten Künstlers. Dies zeigt Anz an den therapeutischen Phantasien, die Kurt R. Eisslers monumentale Goethe-Biographie strukturieren und die er zum Teil als Gegenübertragungen des amerikanischen Goethe-Liebhabers deutet. Mit anderen kulturellen Kodierungen, die auf die Gattung Lebensbeschreibung einwirken, setzen sich David Oels und Stephan Porombka auseinander, wenn sie postulieren, dass sich durch Internet und Hyperlink völlig neue Möglichkeiten der Vernetzung von Lebens- und Textdaten ergeben. Ihr Beispiel für das "Datenbanksystem" ist die Lebensgeschichte als Collage etwa in Enzensbergers "Requiem für eine romantische Frau". In ihrer Typologie von aktuellen Tendenzen der Biographik fallen insbesondere Detail-Biographien, die einen bestimmten Aspekt fokussieren, und die Biographien von Personen, die sich an der Peripherie großer Persönlichkeiten bewegen, auf, weil sie am deutlichsten die erkenntnistheoretische Verfasstheit von Biographien repräsentieren.

Dass biographischen Lebensdarstellungen eine epistemologische Dimension eignet, wird nach der Lektüre des Bandes wohl niemand mehr leugnen. In der Zusammenschau der Aufsätze fällt nicht zuletzt die schöne Eintracht der Positionen im Hinblick auf Bedeutung und Möglichkeiten der Gattung Biographie auf. Gegensätzliches und Kontroverses scheint hier nur selten auf. Eine Debatte zum Thema Biographie wird hier nicht vorgeführt, sie könnten höchstens die Verächter der Biographik anzetteln, wie Czeslaw Milosz, wenn er schreibt, die Biographien seien nichts anderes als "leere Hülsen", "Schneckenhäuser, aus denen man nicht viel über das Wesen erfährt, das einmal darinnen gewohnt hat".

Titelbild

Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
282 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3476019047

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