Leichtigkeit, Schlichtheit und Melancholie
Eine Blütenlese aus dem lyrischen Werk Hans-Ulrich Treichels
Von Reinhard Wilczek
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeinahe zehn Jahre ist es her, dass Hans-Ulrich Treichel seinen letzten Gedichtband, "Der einzige Gast" (1994), veröffentlicht hat. Die großen Erfolge, die der Autor seither mit seinen Prosaarbeiten feiert, haben die Erinnerung daran etwas verblassen lassen, dass Treichel zunächst als Lyriker auf sich aufmerksam gemacht hat. Es scheint, dass der Suhrkamp-Verlag mit der Publikation des Lyrik-Bandes dieser Entwicklung entgegenwirken möchte; zu Recht, ist man geneigt zu sagen.
Die unter dem Titel "Gespräch unter Bäumen" versammelten Gedichte zeigen einen re prä sentativen Querschnitt der Arbeiten Treichels aus dem Zeitraum von 1979 bis 1994, also seiner (bisherigen) lyrischen Schaffensperiode. Was hier auf knapp 150 Seiten konzentriert wird, ist in der Tat so etwas wie ein lyrisches Resümee Treichels, dessen poetische Sprache vordringlich an Brecht geschult ist: So verweisen nicht nur der Titel des Bandes, sondern auch zahlreiche Gedichte immer wieder auf das Vorbild des großen Vorgängers. Gleichwohl hat Treichel in seiner Lyrik eine eigene, unverwechselbare Sprache gefunden, die ihm unter den zeitgenössischen Dichtern ein unverkennbares Profil verleiht. Was sind die Grundzüge dieser lyrischen Sprache, die an Treichels Poesie auffallen und zugleich beeindrucken? Drei Merkmale scheinen besonders wichtig zu sein: Leichtigkeit, Schlichtheit und Melancholie.
Dass Treichel mit "leichter Hand" seine Gedichte schreibe, ist, wie Rainer Weiss in seinem kenntnisreichen und übersichtlichen Nachwort schreibt, bereits den ersten Rezensenten aufgefallen. Aber worin liegt diese Leichtigkeit? Was zeichnet sie aus? - Eine Besonderheit dieser literarischen Fragilität liegt darin, der Gelehrsamkeit dieses Autors jeden störenden Beigeschmack zu nehmen. Betrachtet man etwa das Gedicht "Nördliche Landschaft" genauer, dann werden schnell die Bezüge zu Brechts Svendborger Emigranten-Gedichten deutlich. "Die Post kommt zweimal hin / Wo die Briefe willkommen wären. / Den Sund herunter kommen die Fähren. / Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn", heißt es in Brechts "Zufluchtsstätte", und bei Treichel: "Die letzte / Fähre setzt über, mit steinschwerem / Schlag, und dort, wo wir landen, / geht nur noch der Wind um das Haus. / Bis hierher, schrieb einer, / zu einer anderen Zeit, an einem / anderen Sund, bis hierher / jagten sie mich". Dennoch hat man es hier nicht mit einer Parodie oder Travestie zu tun, Treichels kaum verdeckter Hinweis auf Brechts Exil-Lyrik, die gekonnte Adaption der brechtschen Stimmung fließen ein in die Melancholie dieser eigenständigen, schlichten Zeilen, die in der Tradition des literarischen Topos vom locus desertus stehen.
Treichels Sprache ist unprätentiös, bleibt dabei aber nicht spröde oder glatt. Selbst Grobianisches behält bei ihm eine luzide Eleganz, wie die Eingangszeilen über den Sonettschreiber Brecht belegen: "Er hat ganz ohne Scham davon gesprochen: / Vom Arsch der Weiber und der Männer Hirn / Er hätte öfter gern nach Schnaps gerochen / Doch meistens ließ er sich Kamille rühren". Die humoristisch gefärbte Lakonie seiner Sätze erinnert dabei auch an Erich Kästner, wie etwa das Beispiel "Einsicht" verdeutlicht, durch das die "Sachliche Romanze" gleichsam wie ein Palimpsest durchscheint: "Noch ist alles möglich. / Wir haben uns flüchtig gestreift. / Der Rest: wahrscheinlich tödlich. / Die Kunst: dass man es begreift". Einige von Treichels Gedichten sind lyrische Biographien von aphoristischer Kürze; so das mit "Benn" betitelte Poem, dessen erste Strophe hier wiedergegeben wird: "In so vielen Formen zu Hause / In so vielen Lagen vakant / Meist Bier und gelegentlich Brause / Und immer bei klarem Verstand". Auch hier drückt sich auf unprätentiöse Weise Gelehrsamkeit aus, der volksliedhafte Gestus wird virtuos gehandhabt, die subtilen Anspielungen auf Benns Eigenheiten verraten den poeta doctus.
Das Melancholische ist schließlich der dritte Grundzug dieser Lyrik, die sich vielfach auch mit den Stätten der Kindheit und ihren Bezugspersonen auseinander setzt. Dieser autobiographische Duktus zahlreicher Texte Treichels ist ein weiteres zentrales Merkmal seines literarischen Schaffens, das sich auch in seiner Prosa erhalten hat. Die Gedichte über die westfälische Heimat und die erratische Gestalt des lederhandschuhbewehrten Vaters üben einen ganz eigenen Reiz auf den Leser aus: "Wege im Abendlicht, / die summenden Pumpen des Klärwerks, / Butterblumen am betonierten Ufer des kleinen Kanals, / verwachsene Weiden, wie mit dem Zirkel gezogen / der westfälische Horizont". Durchsetzt und verwässert von subtiler Ironie scheinen diese Verse aus "In den Bruchwiesen" zu sein. In der Tasche "die Buckower Elegien aus der Leihbücherei" wandelt das lyrische Ich hier auf Pfaden, die längst schon von dekonstruierter Idyllik bestimmt sind und den Atem jener rastlosen Moderne aufgenommen haben, von dem die Heranwachsenden nur zu träumen glauben, ohne zu sehen, dass sie die Wirklichkeit schon längst eingeholt hat: Die Rede von den "summenden Pumpen des Kraftwerks", den "Butterblumen am betonierten Ufer" und den "wie mit dem Zirkel" gezogenen Weiden verrät, dass die moderne Zivilisation auch das westfälische Refugium, das hier als kleines Arkadien beschworen wird, bereits fest im Griff hat; ein augenzwinkerndes Zurückblicken auf die versunkene Welt der Kindheit.
Die durch diese Merkmale bestimmte Lyrik zeichnet sich schließlich - bei allem Hang zur Kürze - durch großen Formenreichtum und eine prägnante Bildlichkeit aus. Freie Rhythmen werden ebenso sicher beherrscht wie die strenge Sonettform, der volksliedhafte Ton wechselt mit humorvollen Spruchgedichten und dunkel eingefärbten Selbstbetrachtungen. Angereichert werden diese sprachlichen und formalen Ingredienzien schließlich auch immer wieder durch ein listenreiches, virtuoses Spiel mit tradierten Genres, Formen, Stimmungen und Topoi. So etwa in dem Gedicht "Erster Frühlingstag", das gänzlich gegen die Erwartungshaltung des Lesers komponiert erscheint: "Die kürzeste Verbindung zwischen/ zwei Hustenanfällen: ein Lungenzug / auf dem Balkon. Es ist so still / an diesem Morgen, die Antennen funkeln, / die Satellitenschüsseln leuchten, / der Nachbar lauscht seinen Geranien". Die Metaphorik des Lebensaufschwungs wird hier zu einem Lebensabschwung umgedeutet, die "lebensfrohen" Wappenvögel des Frühlings, Amsel und Lerche, weichen hier der Aas fressenden Krähe. Das trotzig hingeworfene "'Aasfresser' ruf ich zum / Himmel hinauf. Heute ist Frühling, / und mich kriegst du nicht" transformiert auf kunstvolle Weise einen tradierten lyrischen Topos in das disparate Empfinden der Gegenwart und treibt ein ironisches Spiel mit den poetischen Formeln der Vergangenheit.
Es bleibt zu wünschen, dass Treichel nach längerem Schweigen wieder den Weg zu seinen literarischen Anfängen findet. Seine Lyrik, von der diese Sammlung einen gelungenen Überblick gibt, gehört mit zum Besten, was in den vergangenen 25 Jahren publiziert wurde.
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