Sie zogen los als Hausierer und wurden Honoratioren

Am Anfang stand die "Gartenlaube": Die Berliner Familie Mosse - das außergewöhnliche Beispiel einer Erfolgsgeschichte im deutsch-jüdischen Bürgertum

Von Hiltrud HäntzschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hiltrud Häntzschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang stand die "Gartenlaube": Die Berliner Familie Mosse - das außergewöhnliche Beispiel einer Erfolgsgeschichte im deutsch-jüdischen Bürgertum

Von Hiltrud Häntzschel

"Für die zivilisierte Welt schreibt, wer für Berlin schreibt!" An Selbstbewusstsein fehlte es nicht 1871, weder der brandneuen Reichshauptstadt noch ihrer neuesten Zeitung, dem "Berliner Tageblatt", das in seiner Probenummer ein weltläufiges Lokaiblatt verspricht. Es ist die neueste Gründung von Rudolf Mosse, dem 28-jährigen aus Posen übersiedelten Arztsohn, und es ist der Drehpunkt einer atemberaubenden familiären Erfolgsgeschichte. Dass wir heute mit dem Namen Mosse all das nicht mehr verbinden, was seinen Ruhm begründet hat, dafür sorgte die Zerstörung der dritten und vierten Generation dieses Familienverbandes durch Vertreibung und Vernichtung.

Die Quellen dieser bürgerlich-jüdischdeutschen Familiengeschichte sind über die Welt verstreut, sie sind höchst lückenhaft überliefert, vor allem, wo es um die Lebenswelt der Mosse-Frauen geht. Die Münchner Historikerin Elisabeth Kraus hat in ihrer Habilitationsschrift das Netz wieder zusammengewebt zu einem maschendichten, sich über beinahe 800 Seiten erstreckenden Teppich. Das leitende Erkenntnisinteresse bilden mögliche Abweichungen zwischen den Bedingungen und dem Verlauf dieser jüdischen und denen einer "normal-bürgerlichen" Familiengeschichte. Auf 14 Kinder brachte es der Stammvater Markus Moses mit seiner Frau Ulrike, geborene Wolff. Noch in Markus' Gymnasiastenzeit, Anfang des 19. Jahrhunderts mutiert der Familienname von Moses zu Mosse, in der Verheißung einer "bürgerlichen Verbesserung der Juden" (Christian Wilhelm Dohm). Als Markus' Kapital (neben dem Kindersegen - ein pekuniäres besaß der Provinzarzt noch nicht) destilliert die Autorin aus den Briefen an die Kinder seinen bürgerlichen Tugendkodex: Sparsamkeit und Bescheidenheit, Ordnungsliebe und Rechtschaffenheit, Fleiß und Redlichkeit, Mut und Selbstvertrauen. Liegt es am väterlichen Vorbild, an der großen Verantwortung, die die älteren Geschwister früh für die vielen jüngeren übernehmen mussten, oder an einem starken Aufstiegsdruck - es ist jedenfalls fast beängstigend, wie bei allen Kindern diese Erziehungs- und Lebensprinzipien fruchtbaren Boden finden. Kernes der Geschwister (bei einer halben Ausnahme) schert aus, im Gegenteil: Mit der Übersiedlung der Familie nach dem Tod des Vaters 1865 nach Berlin beginnt die Geschichte eines anpassungsfähigen Reüssierens. Die Brüder und Schwäger sind Kaufleute, Verlagsbuchhändler, zwei werden Juristen. Das Wäschegeschäft Mosse in der Friedrichstraße floriert, die Rudolf Mosse Verlags OHG expandiert in rasendem Tempo. Noch 1864 reist Rudolf als Anzeigenakquisiteur für die "Gartenlaube" durchs Land und begreift blitzschnell, wie man mit Werbung Geld verdient. 1867 gründet er die "Zeitungs-Annoncen-Expedition Rudolf Mosse", in rascher Folge sprießen die Zweigniederlassungen im In- und Ausland. Rudolf Mosse pachtet ganze Inseratenteile von Tageszeitungen, Familienblättern, sogar Fachzeitschriften. Zum "Berliner Tageblatt" gesellen sich später die "Berliner Volkszeitung", die "Berliner Morgenzeitung", das "8-Uhr-Abendblatt", und in seinem Buchverlag erscheint ab 1898 das "Deutsche Reichs-Adressbuch", das erste Branchenverzeichnis, und ist alsbald unentbehrlich für Wirtschaft und Handel. "Vom ganz gewöhnlichen Hausierer zum konstitutionellen Monarchen", wird man am Ende seinen Lebensweg umreißen.

Wie haben die Mosses das gemacht? Auf dem Nährboden der deutschen Gründereuphorie und der rasanten technischen Neuerungen gediehen die vom Vater gelernten Prinzipien, hinzu kam Gespür für Innovation, kam eine starke Familiensolidarität und -zusammenarbeit (der Vetter Theodor Wolff leitet jahrzehntelang als Chefredakteur das "Berliner Tageblatt"), kam ein sehr homogenes Heiratsverhalten (alle Mosse-Töchter heirateten in jüdische Mittelklassefamilien), kamen liberale politische Grundüberzeugungen bei gutburgerlicher Lebensführung (nur eine Mosse-Ehe ist geschieden worden, es gab, so weit man weiß, ein uneheliches Kind in der sonst kinderlosen Ehe Rudolfs). Trotz aller Emanzipations- und Assimilationsangebote blieben die Mosses eine reformjüdische Familie (es gab nur eine Mischehe in der dritten Generation und bei 34 Enkeln nur eine Konversion).

Überzeugend kann Kraus mit ihrer Rekonstruktion deutlich machen - mögen es die antisemitischen Neider später auch anders interpretiert haben -, dass an dieser Erfolgsgeschichte nichts spezifisch Jüdisches auffällt, allenfalls das Tempo. Bemerkenswert, was die Mosses mit ihren in einer Generation erwirtschafteten Millionen gemacht haben. Gewiss, sie haben einen Pressepalast gebaut, Stadtpalais und Landsitze' haben jede Menge Immobilien erworben und Kunstschätze angesammelt, aber sie haben auch beachtliches soziales Engagement entfaltet, haben sich als Philanthropen, Stifter und Kunstmäzene hochverdient gemacht, und keineswegs nur für Jüdische Einrichtungen. Mit dem Vermögenszuwachs ging eine beispielhafte Übernahme an persönlicher Bürgerverantwortung einher, nach der wir heute lange suchen - sie wurden Honoratioren im wahren Sinn des Wortes. Die wohlausgestattete dritte Generation hat den Reichtum dann nicht weiter vermehrt, hat ihn im Falle der Erben von Rudolf Mosse in wenigen Jahren verwirtschaftet. (Eine kleine Beobachtung: Da die Testamentakten einen der verlässlichsten Archivbestände darstellen; bekommen die vielen immer wieder zitierten Erbmillionen großes Gewicht und bedienen - von der Autorin gänzlich unbeabsichtigt - das uralte antisemitische Vorurteil vom immerzu Geld zählenden Juden.) Die Mitglieder der dritten und erst recht der in der westlichen Welt verstreuten vierten Generation wenden sich akademischen Berufen zu und stehen für außergewöhnliche wissenschaftliche Erfolge, bis zum Nobelpreis: "Vom Judentum zum Berliner Bürgertum zur internationalen scientific community."

Die Akribie der Autorin lässt nicht das kleinste Detail aus - füllt Quellenlücken nicht kurzerhand mit Phantasiemomenten, sondern verfolgt alle Spuren mit viel Geduld. Keines der Stereotype deutschjüdischer Geschichtsschreibung bleibt ungeprüft, und viele erweisen sich in diesem Fall als nicht belegbar oder zutreffend: zum Beispiel das von den Familienfrauen als Vermittlerinnen jüdischer Tradition oder vom jüdischen Erfolg in der Wissenschaft durch die Diskriminierung.

Titelbild

Elisabeth Kraus: Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. Und 20. Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
800 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3406446949

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