Ein unbequemer Zeitgenosse

Sören Kierkegaards Werke sind anlässlich seines 150. Todestages in vier Bänden neu aufgelegt worden

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur Schopenhauer hat einmal den pragmatischen Ratschlag gegeben, nur noch diejenigen Bücher zu lesen, die schon länger als hundert Jahre kursieren und in dieser Zeit kontinuierlich gelesen worden sind. Damit meinte er sicherzustellen, dass es sich bei ihnen auch wirklich um lesenswerte Klassiker handelt, da wohl nur solche über einen derart langen Zeitraum hinweg immer wieder neue begeisterte Leser finden würden. Dies beherzigend, hat der Deutsche Taschenbuch Verlag nun den 150. Todestag von Sören Kierkegaard zum Anlass genommen, in vier preisgünstigen Bänden sämtliche Hauptschriften des dänischen Philosophen und Theologen neu herauszugeben. Erstaunlicherweise haben nämlich Kierkegaards Werke in der doch beträchtlichen Zeit, die seit ihrem ersten Erscheinen vergangen ist, nichts an Frische, Radikalität und Witz eingebüßt. Umso glücklicher können sich alle Liebhaber solch herausragender Philosophie und Literatur schätzen, dass diese Werke nun in ihrer ganzen Vielfalt kostengünstig zu haben und zu entdecken sind.

Der erste Band enthält das frühe Hauptwerk "Entweder-Oder. Teil I und II" (1843), mit dem der junge Sören Kierkegaard schlagartig in seiner Heimat berühmt wurde. Wie auch in den späteren Schriften des Dänen, so fungiert Kierkegaard bereits hier nicht als offizieller Autor des Werks, sondern er gibt dieses unter einem seiner zahlreichen Pseudonyme, in diesem Fall dem von Victor Eremita, heraus. Diese Figur wiederum stellt in einem ersten Teil Aufsätze, Aphorismen und Abhandlungen von einer anonymen Person A vor, die als Ästhetiker charakterisiert wird, und in einem zweiten Teil die Schriften eines Ethikers B, der auf das Bezug nimmt, was Autor A zuvor geschrieben hat. Der erste Teil enthält demnach ästhetische Schriften, die sich mit dem Sinnlichen und Hedonistischen in all seinen Facetten befassen. Neben einleitenden Aphorismen liegt eine Studie zum Musikalisch-Erotischen anhand von Mozarts "Don Giovanni" vor, darüber hinaus eine ästhetische Analyse zu drei weiblichen Charakteren aus verschiedenen literarischen Stücken, eine kurze Thematisierung der Langeweile als Menschheitsübel, eine Rede über das Unglücklichsein und schließlich - als das Kernstück dieses ersten Teils - "Das Tagebuch eines Verführers". Im zweiten Teil entgegnet Autor B hierauf mit einem Pamphlet über "Die ästhetische Gültigkeit der Ehe" und mit der Schrift "Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit". Schließlich finden sich unter dem Titel "Ultimatum" noch einige zusätzliche Briefe von Person B an Autor A, die wohl dem Gesamtwerk "Entweder-Oder" seinen Titel gegeben haben.

In "Entweder-Oder" treffen somit in den Personen A und B zwei konträre, sich gegenseitig ausschließende Lebensprinzipien aufeinander, die sich sowohl beleuchten als auch in Frage stellen. Eingeleitet werden die Schriften von A durch Aphorismen, in denen die Schwermut in eine enge Nachbarschaft zum Schöpferischen gerückt ist, wobei das Leben dennoch in seiner Endlichkeit und Beschwernis letztlich als ein sinnloses Schicksal beschrieben wird. Als Ausweg erscheint daher eine ästhetisch-hedonistische Haltung zur Welt, um sich zumindest am Schönen zu erfreuen und so bei sich und anderen Lust und Freude zu verbreiten: "Hochverehrte Zeitgenossen, eines wähle ich, daß ich immer die Lacher auf meiner Seite haben möge. Da war auch nicht ein Gott, der ein Wort erwiderte, hingegen fingen sie alle an zu lachen. Daraus schloß ich, dass meine Bitte erfüllt sei, und fand, dass die Götter verstünden, sich mit Geschmack auszudrücken; denn es wäre ja doch unpassend gewesen, ernsthaft zu antworten: Es sei dir gewährt."

Die wichtigste Schrift dieses ersten Teils aber ist fraglos "Das Tagebuch eines Verführers", wenn auch einige der kleineren Texte, insbesondere "Wechselwirtschaft", ebenfalls höchst amüsant zu lesen sind. Im "Tagebuch" wird aus der Sicht eines Charakters namens Johannes beschrieben, wie dieser das Mädchen Cornelia über Umwege, aber bis ins Detail vorab geplant, zur Liebe anstiftet. Die Verführung endet jedoch zeitgleich mit ihrem Gelingen, frei nach dem sublimiert hedonistischen Prinzip, welches in einem der Aphorismen zu Beginn von "Entweder-Oder" schon dargelegt wird: "Der eigentliche Genuß liegt nicht in dem, was man genießt, sondern in der Vorstellung. Hätte ich in meinen Diensten einen untertänigen Geist, der mir, wenn ich ein Glas Wasser verlangte, in einem Pokal lieblich gemischt die köstlichsten Weine der Welt brächte, so würde ich ihm den Abschied geben, bis er es gelernt hätte, daß der Genuß nicht in dem liegt, was ich genieße, sondern darin, daß ich meinen Willen bekomme."

Gegen diese ästhetisch-spielerische Haltung von Autor A, in die sich Momente von Beobachtung, Kontrolle und Machtausübung über andere Menschen mischen, setzt Schriftsteller B den ethischen Aspekt, den er in der Institution der Ehe versinnbildlicht sieht. Entsprechend abwertend definiert Autor B das Ästhetische lediglich als das Unmittelbare, während er in der Ehe die Möglichkeit zum ästhetisch-schönen, nämlich ethisch-guten Leben gegeben sieht. Der schwerwiegendste Vorwurf, der Person A von B gemacht wird, ist, dass dieser sich im Unmittelbaren verzettelt, ohne sein Leben auf eine wesentliche Basis zu stellen. Diese kann ihm nämlich nur das ethische Leben geben, welches in eigener Verantwortung geführt wird. Erst durch diese Lebensführung, so die Meinung von B, erhält ein Leben seine wirkliche Gestalt, weil dadurch gewährleistet wird, dass das Individuum auch die Verantwortung für die eigenen Taten übernimmt. Den Abschluss des Bandes bildet die kurze Brief-Schrift "Ultimatum", in der die Theodizee-Frage aufgegriffen wird, aber ihre Umkehrung in der These findet, dass das Erbauliche in dem Gedanken bestehe, als Mensch gegenüber Gott immer im Unrecht zu liegen. In diesem Sinne ist das Eingeständnis eigenen Unrechts Ausdruck einer Liebe, die lieber die Schuld bei sich selbst sucht, als ihre Liebesbeziehung zu gefährden. So mit einer "subjektiven" Wahrheit verknüpft, kann diese Haltung erbaulich genannt werden kann.

Der zweite Band umfasst die zentralen Schriften Kierkegaards: "Die Krankheit zum Tode" (1849), "Furcht und Zittern" (1843), "Die Wiederholung" (1843) und "Der Begriff der Angst" (1844). In "Die Krankheit zum Tode" wird der Mensch als ein Schwellenwesen zwischen Endlichem und Ewigem beschrieben. Aus diesem Zwiespalt wird über Einzelbeobachtungen der christliche Begriff der Sünde extrahiert und anschließend erörtert. Kierkegaard, hier unter dem Pseudonym Anti-Climacus, analysiert die verschiedenen gescheiterten Verhältnisse des Menschen zu sich selbst, die in den unterschiedlichen Formen der Verzweiflung ihren Ausdruck finden. Die Verzweiflung wird dabei als die "Krankheit zum Tode" bezeichnet, weil sie symptomatisch anzeigt, dass ein Mensch, wenn er sich nicht auf den Glauben, sondern auf seine Autonomie beruft, als Geschöpf seinem Schöpfer Gott gegenüber ins Unrecht fällt, sich also versündigt. Diese Verweigerung des Glaubens äußert sich darin, wie der Mensch verzweifelt ist, ob er beispielsweise verzweifelt er selbst sein will oder aber verzweifelt gerade sein Selbst ablegen möchte. So präsentiert die Schrift detailreich verschiedenste Formen von Verzweiflung, wobei diese niemals rein negativ als Ausdruck mangelnden Glaubens gesehen werden, sondern sich immer auch als der Weg zeigen, um zu wahrem Glauben an Gott zu finden. So gesehen ist jeder Mensch graduell verzweifelt, und die bewusste Verzweiflung ist letztlich sogar harmloser und einfacher zu überwinden als ihre unreflektierte Variante. Das wichtigste Kriterium, um die Sünde im Menschen ausfindig zu machen und zu beseitigen, ist die Erkenntnis, dass der Gegensatz zu ihr keineswegs Tugend, sondern Glaube ist. So kann der Autor mit der Empfehlung schließen: "[...] im Verhältnis zu sich selbst und in dem Willen, es selbst zu sein, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte. Welche Formel wiederum, es wurde oftmals daran erinnert, die Definition für Glauben ist."

Dieser Aspekt des Glaubens wird in "Furcht und Zittern" am Beispiel der Opferung Isaaks weitergehend erläutert, wobei sich Abraham insbesondere in der Krisensituation, seinen eigenen Sohn töten zu sollen, als "Stammvater des Glaubens" erweist. Unter dem Pseudonym Johannes de Silentio sieht Kierkegaard in Abraham einen Menschen, dessen Handeln mittels Reflexion nicht einzuholen ist, weil es sich der Logik des Allgemeinen entzieht. Das Allgemeine wird durch das Ethische verkörpert. Wird nun aber Abraham von Gott dazu aufgefordert, seinen Sohn zu opfern, dann bedeutet das, dass Abraham im Vertrauen auf Gott auf radikale Weise gegen das Ethische verstößt, aus ethischer Perspektive gesehen nämlich das eigene Kind ermordet. Dadurch wird der Glaube zu einem Akt der Leidenschaft "kraft des Absurden".

In der Aufforderung, die Opferung Isaaks zu vollziehen, gerät Abraham in ein Dilemma: "Entweder gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott, und gibt es eine solche, so ist sie das beschriebene Paradoxon, daß der Einzelne als der Einzelne höher als das Allgemeine ist und daß der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht - oder auch es hat niemals den Glauben gegeben, [...] oder auch Abraham ist verloren [...]." Auf der Basis des Glaubens vollzieht Abraham die "teleologische Suspension des Ethischen", was nichts anderes aussagt, als dass er seinen Glauben über das allgemeine Gesetz stellt und damit riskiert, vor dem Allgemeinen, wenn sich sein Glaube als trügerisch erwiese, als Mörder klassifiziert und verurteilt zu werden. Wie an anderer Stelle seines Oeuvres, so setzt sich Kierkegaard auch in "Furcht und Zittern" mit der Philosophie Hegels auseinander, wobei der Glaube ihm als Kategorie dazu dient, das Individuum gegenüber dem Allgemeinen in seiner Eigenständigkeit zu verteidigen.

In "Die Wiederholung" setzt Kierkegaard bei der griechischen Denkweise an, dass das gesamte Leben und Erkennen eine erinnernde Wiederholung darstellt. Unter dem Pseudonym Constantin Constantius stellt er sich die Frage, ob es die Wiederholung in ihrer Reinform wirklich gibt und macht die Probe aufs Exempel, indem er nach Berlin fährt, wo er vor langer Zeit schon einmal war. Es stellt sich heraus, dass sich alles verändert hat, wobei dies vor allem dadurch hervorgerufen wird, weil jener selbst sich in der Zwischenzeit gewandelt hat: "Als sich dies einige Tage wiederholt hatte, wurde ich so verbittert, der Wiederholung so überdrüssig, daß ich wieder nach Hause zu reisen beschloß. Meine Entdeckung war nicht bedeutend und doch war sie sonderbar; denn ich hatte entdeckt, daß es die Wiederholung überhaupt nicht gab, und dessen hatte ich mich vergewissert, indem ich es mir auf alle mögliche Weise wiederholen ließ." Diese paradoxe Beweisführung, die wiederholte Widerlegung der Wiederholung als Beleg gegen ihr Vorkommen zu nehmen, endet sodann in der abgeklärten Einsicht: "Ein Glück ist, daß er bei mir keine Erklärung sucht; denn ich habe meine Theorie aufgegeben, ich faulenze. Die Wiederholung ist auch mir zu transzendent."

In "Der Begriff der Angst" wird unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis wiederum, wie in "Die Krankheit zum Tode", der Mensch als "lebensgefährliche" Synthese aus Seele und Leib bzw. aus Ewigem und Zeitlichem beschrieben. Die Angst erscheint hier als Symptom für die krisenhafte Genese der menschlichen Freiheit. Die Entstehung der Angst wird dazu anhand des biblischen Sündenfalls erläutert, wobei entscheidend ist, dass die Sünde nur durch die Sünde in die Welt kam: Das Verbot vom Baum der Erkenntnis zu essen eröffnet plötzlich den bisher unbekannten Bereich der Möglichkeit. Zwar noch im Zustand der Unschuld löst diese Entdeckung aber schon die verhängnisvolle Angst aus, bekräftigt durch ein lockend-ängstigendes Nichts, zu dem der Versuchte sich durch eine "sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie" hingezogen fühlt. Der durch ein Nichts ausgelöste "Sündenfall" ist christlich gesehen an den traditionellen Begriff der "Erbsünde" gebunden, der immer das Individuum und das ganze Geschlecht umfasst. Mit Geschlecht wird die Generationenfolge ebenso bezeichnet wie das durch den Sündenfall in Gang gesetzte sexuelle Verhältnis der Geschlechter zueinander. Aus dieser Überlegung entspinnt sich eine Erörterung des Zusammenhangs von Unschuld, Unwissenheit, Sinnlichkeit, Schuld und Erbsünde. Des weiteren ist der Begriff der Sünde auch deshalb bedeutsam, weil er das Individuum vereinzelt, d.h. aus dem Allgemeinen heraushebt. Aus diesem Grund ist die Angst immer auch ein Hinweis auf Größe, Geist und Möglichkeit. Die Angst hat quasi kathartische Funktion: "Da dringt die Angst in seine Seele hinein und durchforscht alles und ängstet das Endliche und Kleinliche aus ihm heraus und führt ihn dahin, wo er will." Auf dem Weg durch die Angst hindurch, wie schon in der Verzweiflung, öffnet sich das Reich des Glaubens und der unendlichen Möglichkeit.

Mit den "Philosophischen Brocken" (1844) und der "Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken" (1846) von Johannes Climacus im dritten Band setzt die Phase ein, wo sich Kierkegaard verstärkt mit der Rolle des Christentums, mit seinen Ursprüngen und dem, was aus diesen im Laufe der Jahrhunderte geworden ist, auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang werden die Bedeutung der Offenbarung, des historischen bzw. außergeschichtlichen Augenblicks der Menschwerdung Gottes, der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus und viele andere theologische Fragen thematisiert, welche die christliche Theologie bis heute umtreiben.

Kern- und Angelpunkt dieser beiden Schriften ist die Betonung der Subjektivität, die im Glauben ihren höchsten Ausdruck findet. Vor allem gegen die Philosophie Hegels gerichtet, aber auch gegen die von diesem beeinflusste liberale Theologie seiner Zeit, wendet sich der Verfasser gegen die Verwischung von Glaube und Wissen, Philosophie und Theologie, Subjektivität und Objektivität. Ihren Höhepunkt findet diese Auseinandersetzung in der Schrift "Einübung im Christentum" (1848), die nun antithetisch einem Johannes Anti-Climacus zugeschrieben wird. In ihr geht Kierkegaard unter jenem Pseudonym mit dem realexistierenden Christentum ins Gericht, indem er ihm vorwirft, die eigenen Quellen des Urchristentums zugunsten eines bequemen Neuheidentums verraten zu haben. Mit rhetorischer Verve, mit schlagendem Witz und mit sich ereifernden Predigten hält der Autor dem Christentum seiner Zeit den Spiegel vor: "Die Christenheit hat das Christentum abgeschafft, ohne es selbst richtig zu entdecken; die Folge ist, daß man versuchen muss, das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen, wenn etwas geschehen soll."

Diese Wiedereinführung des Christentums soll durch das Gedankenspiel der "Gleichzeitigkeit" ins Werk gesetzt werden. In ihr zeigt sich wahres Christsein, denn es bedeutet die Übertragung der christlichen Ansprüche in die jeweilige Gegenwart. Indem Leben und Handeln Jesu als Paradigma eigenen Handelns begriffen werden, wird die Nachfolge als einziger wahrer christlicher Lebensmaßstab eingefordert, der den Einzelnen aus der Menge herausruft und gegen die Gesetze des Objektiv-Allgemeinen stellt. Jesus wird als Beispiel der "reinen Subjektivität" angeführt, das dem Philosophen und dem Theologen als den Verfechtern des Bestehenden, mit einem augenzwinkernden Verweis auf Hegel gesprochen, zum "Ärgernis" werden muss. Das Christentum ist in dieser Hinsicht das Absolute, das absolute Forderungen an denjenigen stellt, der ihm angehört. Diese radikale Zuspitzung setzt dabei auf die absurde Kraft des Glaubens, die gegen alle weltlichen Anfechtungen immunisiert ist und die Möglichkeit zu Erlösung und Errettung in sich trägt. Auch hier setzt der Verfasser auf die Entscheidung des "freien Subjekts", demgegenüber die christliche Botschaft entweder zum Auslöser eines "Ärgernisses" oder aber zu dem des "Glaubens" werden kann.

Bei der Lektüre von Kierkegaards Werken, von denen nur einige wenige Aspekte zur Sprache gekommen sind, fällt ins Auge, welche Wirkkraft diese Schriften seit ihrer Entstehung sowohl in der Theologie und Literatur als auch in der Philosophie entfaltet haben. Ohne "Die Krankheit zum Tode" oder "Der Begriff der Angst", um vielleicht nur die in dieser Hinsicht einflussreichsten Schriften herauszunehmen, ließen sich maßgebliche Ansätze in der Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum denken. Beispielsweise Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Karl Jaspers oder auch Albert Camus haben sich durch Kierkegaards Arbeiten beeinflussen lassen, indem sie diese weiterentwickelt und dazu mehr oder weniger stark aus ihrem theologischen Rahmen gelöst und säkularisiert haben. Ablesen lässt sich dieses Vorgehen z.B. explizit bei Martin Heidegger, der den Begriff "Angst" in seinem Vortrag "Was ist Metaphysik?" analog zu Kierkegaards "Der Begriff der Angst" aus der Verbindung mit dem Nichts entfaltet. Aber auch in der Theologie lassen sich Erben Kierkegaards finden: Da ist vorrangig die "Dialektische Theologie" eines Karl Barth zu erwähnen. Auffällig ist aber auch die Nähe bei einem anderen diesjährigen Jubilar, nämlich bei Dietrich Bonhoeffer, der in seinem Werk "Nachfolge" auf Kierkegaards "Einübung im Christentum" zurückgreift. Kierkegaards Einfluss lässt sich zudem bis in die Gegenwart hinein verfolgen: Herausgegriffen sei hier als ein Beispiel die Philosophie Michel Foucaults, der auf seine Weise, sicherlich auch in Anlehnung an Martin Heidegger, nicht nur den Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis, Existenz und Sexualität erforscht hat, sondern auch die gegenseitigen Einflüsse zwischen Kontrollmechanismen und Machtstrukturen erarbeitet hat, so wie es in Kierkegaards Werken "Der Begriff der Angst" oder "Das Tagebuch eines Verführers" angeklungen ist. Mit Blick auf die Literatur sei des weiteren z.B. auf Max Frischs "Stiller" und Alain Robbe-Grillets "Die Wiederholung" verwiesen, in denen Spuren Kierkegaards zu entdecken sind. Und wenn schließlich der Film "Matrix I" u.a. die Philosophie René Descartes aufgreift, dann stellt Lars von Triers "Dogville" das filmische Exempel dafür dar, dass die Denkwelt Kierkegaards auch kinotauglich ist.

Erst aus dem zeitlichen Abstand heraus offenbaren die Werke Kierkegaards also ihre bleibende Aktualität. Die preisgünstige Ausgabe, die nun im Deutschen Taschenbuch Verlag vorliegt, animiert dazu, seine vielseitigen Schriften zu lesen. Vor dem Auge des Lesers bildet sich eine abwechslungsreiche Szenerie, die auch für diejenigen Vieles bereithält, die sich nicht unbedingt für Theologie und Philosophie interessieren. Der Kommentarteil bietet zudem jedem Leser die Möglichkeit, Fragen und Hintergründe zu klären. Der einzige Schönheitsfehler der Ausgabe ist die dürftige Qualität des Papiers und des Drucks, aber bei dem Preis muss man dieses kleine Manko wohl in Kauf nehmen. Schließlich sei erwähnt, dass ein kleiner Band mit dem Titel "Es gehört wahrlich Mut dazu. Gedanken über das Leben", der Zitate und Aphorismen aus allen vier Bänden enthält, die Werkausgabe ergänzt. Um einen ersten Eindruck von Kierkegaards Denken zu gewinnen, ist dieses Bändchen durchaus empfehlenswert, auch wenn viele der Zitate zwangsläufig aus ihrem Kontext gerissen sind, so dass sie für sich nicht immer verständlich scheinen.

Als Fazit bleibt nunmehr festzuhalten: Noch nie war die Gelegenheit so günstig, sich Eintritt in die Ideenwelt eines Philosophen und Theologen des 19. Jahrhunderts zu verschaffen, der wie kaum ein anderer die nachfolgende Geistesgeschichte zu beeinflussen vermochte.


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Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Gesamtausgabe der Werke in vier Einzelbänden.
Herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest.
Übersetzt aus dem Dänischen von Walter Rest, Günther Jungbluth und Rosemarie Lögstrup.
dtv Verlag, München 2005.
767 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3423133848

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Sören Kierkegaard: Einübung im Christentum. Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen. Das Buch Adler oder Der Begriff des Auserwählten. Gesamtausgabe der Werke in vier Einzelbänden.
Herausgegeben und eingeleitet von Walter Rest.
Übersetzt aus dem Dänischen von Hans Winkler, Walter Rest und Theodor Haecker.
dtv Verlag, München 2005.
575 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3423133856

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Sören Kierkegaard: Entweder - Oder. Teil I und II. Gesamtausgabe der Werke in vier Einzelbänden.
Herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest.
Übersetzt aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck.
dtv Verlag, München 2005.
1038 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3423133821

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Sören Kierkegaard: Es gehört wahrlich Mut dazu. Gedanken über das Leben.
Ausgewählt und herausgegeben von Asa A. Schillinger-Kind.
Übersetzt aus dem Dänischen von Hans Winkler, Walter Rest u. a.
dtv Verlag, München 2005.
190 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-10: 3423133864

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Sören Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Gesamtausgabe der Werke in vier Einzelbänden.
Herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest.
Übersetzt aus dem Dänischen von B. und S. Diderichsen.
dtv Verlag, München 2005.
1031 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 342313383X

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