Eine Schaukel zwischen Paradies und Bordell

Ludwig Winders neu herausgegebener Roman "Die jüdische Orgel"

Von Roland KroemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roland Kroemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ludwig Winder teilt das Schicksal vieler deutschsprachiger Prager Schriftsteller: sein Werk ist im Schatten Kafkas längst in Vergessenheit geraten. Dabei hatte er sich vor allem mit seinen Romanen zu Lebzeiten große Anerkennung geschaffen und wurde nach Kafkas Tod von Max Brod sogar in den "Prager Kreis" aufgenommen. 1889 als Sohn eines jüdischen Kantors im mährischen Schaffa geboren, war Winder nach dem Abitur als Journalist in Wien, Teplitz und Pilsen tätig, ehe er 1914 Leiter des Feuilletons der Prager Zeitung "Bohemia" wurde. Dem Naziterror entkam er 1939 durch Flucht ins englische Exil. Bevor er 1946 nach Prag zurückkehren konnte, erlag er einer schweren Krankheit.

Der 1922 erschienene Roman "Die jüdische Orgel", vom Leiter des Berliner Literaturhauses Herbert Wiesner neu herausgegeben und durch ein Nachwort ergänzt, umkreist die zentralen Themen Winders und eröffnet so einen Einblick in sein Leben und Werk.

Albert Wolf, der Protagonist der Handlung, wächst in einem orthodox jüdischen Elternhaus auf, und sein Vater - als "Strick Gottes" erscheint er dem Sohn - versucht ihn mit aller Macht zum Rabbi auszubilden. Dem strengen Erziehungsprogramm kann sich Albert nur durch Flucht in die Krankheit entziehen. Nach der Genesung ins Internat geschickt, stürzt Albert, ein Leidensbruder des Zöglings Törleß, in einen Mahlstrom philosophischer und sexueller Verwirrungen. "Spinoza sprang er an, Nietzsche hatte er im letzten Jahre des Gymnasiums genascht, nun fraß er sich durch, eine zähe Ratte, zu Kant, Schopenhauer, Fichte, wahllos gefräßig, immer gieriger, bei Mach hielt er entsetzt inne. Die überfütterte Ratte erbrach Sterne, Weltsysteme, Plato, Jesus, Moses, Maimonides, gemeint und gesucht war immer nur: das Weib. Jedes Ziel war das Weib. Jedes Ziel war das Weib, jeder Gedanke war das Weib." Der Einfluß Otto Weiningers ist auf jeder Seite zu spüren. Auch Winder inszeniert in seinem Roman den um 1900 und in den Jahren des Expressionismus herrschenden Widerstreit zwischen Verstand und Sinnlichkeit, zwischen religiöser Kontemplation und sexueller Ausschweifung, zwischen männlicher Ratio und weiblicher Intuition.

Der Ausstrahlung einer Sängerin machtlos erlegen, verläßt Albert das Internat und folgt ihr nach Wien, obwohl sie seine Liebe nicht erwidert. Bald schon zerplatzen seine Träume an der Realität. Die Angebetete führt das Leben einer Dirne, verschwindet, taucht wieder auf. Gründet, schließlich wohlhabend geworden, gemeinsam mit Albert ein Nachtlokal. Doch auch dieses kurze Glück wird bald wieder zerstört. Das Schicksal führt Albert zurück in die Heimat, danach - rastlos - zur nächsten Station... "So sind wir Juden, nicht umzubringen, nicht kleinzukriegen... immer wieder beginnt in unserer Brust die Orgel zu brausen, die jüdische Orgel."

Der Roman gewinnt seine Bedeutung durch die Stellung im Spannungsfeld der Extreme. Die - bereits im Titel angedeutete - Dichotomie zwischen jüdischem Glauben und christlicher Umwelt, zwischen Orthodoxie und Assimilation, ist ebenso präsent wie der Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn, der bekanntlich die Literatur des Expressionismus geprägt hat. Gerade die Verweigerung einer endgültigen Entscheidung, das Verharren auf der Grenze zwischen den Gegensätzen, verhindert eine allzu oberflächliche Interpretation der "Jüdischen Orgel" - das Werk erscheint auch heute noch, über 70 Jahre nach dem ersten Erscheinen, eigenartig rätselhaft, dunkel. "Vielleicht lehrt der Roman", so spekuliert Herbert Wiesner in seinem Nachwort, "wenn er denn lehren soll, nur dies, daß zwischen Auserwähltheit und Verlorensein ein gefährlicher Schwebezustand besteht, eine Schaukel zwischen Paradies und Bordell."

Titelbild

Ludwig Winder: Die jüdische Orgel. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner.
Residenz Verlag, Salzburg 1999.
114 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3701711666

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