Auferstehung 2007

Gerald Bisingers letzte Gedichte "Im siebenten Jahrzehnt"

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergangenes Jahr starb, fast unbemerkt, Gerald Bisinger und hinterließ letzte Gedichte, alle datiert. "Zur Erinnerung" beispielsweise heißt ein Text vom 8. April 1996, geschrieben zur Erinnerung an den Ostermontag auf dem Wilhelminenberg in Wien.

Wer soll sich da erinnern, jetzt, wo der Autor tot ist, den wir so gern mit dem lyrischen Ich identifizieren? All jene etwa, die mit ihm dort auf der Veranda saßen, in den "ganz zartblauen Himmel" schauten und den ersten warmen Frühlingstag genossen? Oder all jene, die Gerald Bisinger kannten als stillen Melancholiker "wie aus einem Kaurismäki-Film" (Daniela Strigl in ihrem Nachruf), wortkarg, mit einer Knautschzone als Gesicht, vor einem Glas Rotwein, rauchend, trinkend, sich schneuzend - und damit die Topoi seiner Gedichte abrufend?

Die Datierungen, Ort und Zeit, gehören zum poetischen Prozess, sie reichen vom 29. März 1996 bis zum 7. November 1998, sie ordnen die Einzeltexte chronologisch und haben den schönen Effekt, dass sie Raum- und Zeitbewegungen sichtbar machen: Ein neuer Tag oder Monat, ein Ortswechsel, eine neue Positionierung des Ichs. Dieses Ich steht "Im siebenten Jahrzehnt" (so das Titelgedicht), die Todesfälle im Freundeskreis häufen sich, HC (ergänze Artmann) wird nach einem Schwächeanfall aus dem Krankenhaus entlassen, der Sprecher fühlt sich schlaff und macht sich dennoch seine Notizen.

So hat jedes Gedicht Merkmale einer Notiz, alles wirkt dadurch licht und leicht und nicht unter dem Diktat der Ewigkeit erzwungen. Auch in der dargestellten Welt bewegt sich was. In Berlin, wo Bisinger lange gelebt hat, wird der "absonderliche" Backsteinbau der Oberbaumbrücke mit seinen Arkaden, Türmen und Türmchen wiederhergerichtet. Nur die Turmspitzen liegen noch in der Spree, wie man bei David Wagner ("Meine nachtblaue Hose") nachlesen kann.

Die Erzähl- oder Tagebuchgedichte Gerald Bisingers vollziehen solche Bewegungen nach, rekonstruieren mit leichter Hand das Schicksal jener Brücke, die - gegen Ende des 19. Jahrhunderts erbaut - im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und zu DDR-Zeiten ein "vergammelter Grenzübergang" für Fußgänger gewesen ist. Notate eines Flaneurs, der "einsam durch die Stadtlandschaft von Berlin" wandert, der an sich die "Begleiterscheinung[en] des Alterns" beobachtet, als da sind plagende Herzrhythmusstörungen, Verlustgefühle, Einsamkeit, Todeserwartung. Vergangenheitsbilder schieben sich über die Gegenwart.

"Tabletten 5 mal in der Woche", zu Mittag ein "kleines Gulasch" oder ein "sogenanntes Aktionsschnitzel" mit Kartoffelsalat für 35 Schillinge. Das klingt anspruchlos, auch literarisch, ist es aber nicht, sondern schön und bisweilen auch schön vertrackt. "Laut geschaut" heißt ein Gedicht, es thematisiert eine Notiz des vergangenen Tages, "ein Adverb und ein Partizipium zugehörig Perfecti", eben jenes "laut geschaut", das "Bedeutungen" vermittelt und "Assoziationen" bewirkt: "und bleibt / doch hermetisch auch abweisend grau- / sam Interpretation". Der Sprecher wird die "aneinander gekoppelten Wörter" nicht los, und er löst im Leser jenen Prozess aus, sich das sprachlich Mögliche und realiter Unmögliche zu übersetzen in eine plausible Bildlichkeit (etwa "loud ge-shout").

Fast schon unheimlich ist das Gedicht "Allerheiligen 1998": "Ernsthaft frage ich mich", heißt es da, "ob ich Allerheiligen im nächsten Jahr / noch erlebe oder selber bestattet / schon bin". Auf dem Friedhof von Ottakring jedenfalls wartet ein eigenes Grab, bezahlt bis zum Jahre 2007. Es hat nicht lange warten müssen.

Titelbild

Gerald Bisinger: Im siebenten Jahrzehnt. Gedichte.
Verlag?, Wien 2000.
80 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3854205392

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