Spurensuche nach einer vergessenen Malerin
Robert Jütte legt eine umfassende Biographie von Olga Meerson-Pringsheim vor
Von Irmela von der Lühe
Die Geschichte der Suche und Entdeckung unbekannter und/oder vergessener Künstlerinnen kennt viele Zufälle und unverhoffte Funde, sie kennt Umwege und plötzliche Überraschungen. Dass sie Beharrlichkeit und Spürsinn, insgesamt also sachkundige Neugier verlangt, dafür liefert die Wiederentdeckung der 1882 in Moskau geborenen Malerin Olga Meerson-Pringsheim ein ebenso anschauliches wie faszinierendes Beispiel. Robert Jütte hat es mit seiner Biographie, das Schlossmuseum Murnau mit einer großen Ausstellung unter Beweis gestellt.
Olga Meerson entstammte einer ursprünglich in Litauen ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie, wuchs mit drei älteren Geschwistern auf und zeigte offenbar sehr früh eine besondere Faszination und Begabung für Malerei. Zusammen mit ihrem Bruder besuchte sie schon als knapp Zehnjährige die berühmte Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Seit 1899 war Olga Meerson – ähnlich wie Gabriele Münter und Käthe Kollwitz – Absolventin der 1884 in München eröffneten, privaten „Damen-Akademie“, gehörte also zu der Gruppe junger jüdischer und nicht-jüdischer Frauen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in München Malerei studierten und sich in der „Damen-Akademie“ gegen den Ausschluss von Frauen aus den offiziellen Kunsthochschulen behaupteten. Die weiteren Stationen einer vergessenen, kaum je systematisch erforschten, inzwischen durch den Medizinhistoriker Robert Jütte umfassend rekonstruierten „Karriere“ sind durch die Namen großer Männer markiert: Olga Meerson gehörte seit 1902 zur Münchener Künstlergruppe „Phalanx“, die von Wassily Kandinsky geleitet und der damit zu ihrem wichtigsten Lehrer wurde. Lebens-, kunst- und stilgeschichtlich ist damit ein entscheidendes Stichwort gefallen; Olga Meerson fand Anschluss an die sog. Schwabinger Bohème, einer durch Wohnsitz und Lebensform verbundenen Gruppierung von provokativ-antibürgerlichen Künstlern und Künstlerinnen, Philosophen und Intellektuellen, denen u.a. die Malerin und Schriftstellerin Franziska zu Reventlow (1871–1918) in ihren autobiographischen Romanen Ellen Olestjerne (1903) und Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Einzelne Werke Olga Meersons wurden schon in ihrer Münchener Zeit in Ausstellungen der „Phalanx“-Gruppe gezeigt; vor allem mit Landschaftsbildern und Porträts machte sie sich in der Folgezeit einen Namen. Stilistisch bewegte sie sich zwischen den zeitgenössischen Kunstrichtungen des Spätimpressionismus und Fauvismus, in künstlerischer und in biographischer Hinsicht wurde dafür vor allem die Begegnung mit Henri Matisse ausschlaggebend. Wie viele ihrer künstlerischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hatte sich Olga Meerson im Oktober 1904 nach Paris begeben; bis 1912 pendelte sie zwischen der französischen Metropole und München, verbrachte aber auch im Kreise von Münchener Freunden mehrere Wochen in der Bretagne sowie in Collioure am Mittelmeer, wo sie sich im Künstler- und Freundeskreis um Henri Matisse bewegte. In drei großen Kapiteln rekonstruiert Robert Jütte mithilfe teils unbekannter, teils unbeachteter Zeugnisse die Details einer Konstellation zwischen Lehrer und Schülerin, die sich – wenig überraschend – auch als Trias von Muse, Modell und Mätresse darstellt; zugleich aber – und das ist tatsächlich überraschend und wird zu Recht von Robert Jütte einlässlich beschrieben – führt die Begegnung zwischen Henri Matisse und Olga Meerson zu einer werkgeschichtlichen Besonderheit: Während sie ihm in den Sommermonaten des Jahres 1911 in Collioure in Südfrankreich Modell sitzt, fertigt sie ein Bild des Meisters („Matisse auf der Couch“) in Öl an. Entstehung und Rezeption dieses bildnerischen Wechselverhältnisses liefern einen ganz besonderen Erzählstoff für den Biographen: nicht nur, weil Olga Meersons Matisse-Porträt 1911 im „Salon d’Automne“ ausgestellt und von Guillaume Apollinaire wegen seiner „kraftvollen und sanften Farben“ nachdrücklich gelobt wurde, sondern weil es anschließend für mehr als 100 Jahre verschwand. Erst im Jahre 2014 wurde es in München wieder in einer Ausstellung gezeigt. In diesem und in vielen anderen Fällen sind die Zäsuren der Zeitgeschichte Grund und Ausdruck der komplizierten Geschichte eines Vergessens und einer Wiederentdeckung: Olga Meersons Tochter hatte das singuläre Porträt von Henri Matisse, das ihre Mutter 1911 in Südfrankreich gemalt hatte, 1933 ins englische Exil gerettet. Zahlreiche Funde, darunter vor allem Fotografien von Bildern und Skizzenbücher, sind der Spurensuche in den privaten Nachlässen der Nachkommen Olga Meersons zu verdanken. Nicht nur in der Lebens- und Werkgeschichte, auch in der Rezeptions- und in der Geschichte der Wiederentdeckungen treffen sich Kunst- und Zeitgeschichte, Geschlechtergeschichte und jüdische Geschichte; zugleich aber verflechten sich Biographie und Werkgeschichte einer herausragenden, vollständig vergessenen jüdischen Malerin mit der Literaturgeschichte des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, und zwar mit der Familie Thomas Manns.
Bereits im November 1900 war Olga Meerson Gast im Hause von Alfred (1850–1941) und Hedwig Pringsheim (1855–1942) in der Münchener Arcisstraße. In ihrem repräsentativen Palais führten der Mathematik-Professor und glühende Wagner-Verehrer und seine Frau, die Tochter des Chefredakteurs der Satire-Zeitschrift Kladderadatsch, Ernst Dohm (1819–1883), und der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831–1919), ein offenes Haus, in dem Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik verkehrten. Olga Meerson gehörte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zu ihnen, die Tagebücher Hedwigs Pringsheims – eine bisher ungenutzte Quelle für die Lebensgeschichte Olga Meersons – geben Auskunft über eine zeitweise enge Freundschaft zwischen den beiden Frauen; Hedwig Pringsheim und ihre Tochter Katia, seit 1905 mit Thomas Mann verheiratet, haben wohl auch Russisch bei der Malerin gelernt. Wie die Tagebücher zeigen, wird die Freundschaft von Hedwig Pringsheims Seite freilich zunehmend von Sorge und gelegentlich auch Ungeduld über den Gesundheitszustand Olga Meersons bestimmt. Depressionen und schwere nervliche Erschütterungen haben deren Leben offenbar schon früh geprägt, über die Jahre wird Hedwig Pringsheim sich – vergeblich – um Hilfe und Unterstützung für Olga Meerson bemühen. Zum radikalen Bruch kam es indes unter anderen, höchst dramatischen Umständen. Alfred und Hedwig Pringsheims zweitältester Sohn Heinz (1882–1974), ursprünglich Archäologe, sodann Musiker und Musikkritiker, und Olga Meerson hatten 1912 ohne Wissen der Eltern in Moskau geheiratet, ein Jahr später kam die gemeinsame Tochter Tamara zur Welt. Zu den Turbulenzen und Wirren des Ersten Weltkriegs, den Heinz Pringsheim an der Westfront und seit 1916 am rumänischen Kriegsschauplatz erlebte, kamen heftige innerfamiliäre Konflikte wegen der „Mesalliance“ des Sohnes. Aus der Freundin wurde eine mit schweren Vorwürfen überzogene Schwiegertochter. Wechselseitige Anklagen gegenüber Dritten, Verleumdungen und schließlich die Enterbung des Sohnes waren die Folge. Die „Heinz-Affäre“ schildert Robert Jütte mit vielen Details in einem eigenen Kapitel; dass die „große Liebe in Zeiten des Krieges“ von materieller Not und existenziellen Krisen bestimmt wurde, ist wenig überraschend; ebenso wenig, dass Olga Meerson-Pringsheim in den Jahren zwischen 1914 und 1919 kaum Zeit und Kraft für ihre künstlerische Arbeit fand. Umso beeindruckender ist der sich in den 20er Jahren dann doch einstellende Erfolg; die öffentliche Resonanz zeigte sich z.B. in einem großen Bericht des Magazins „Die Dame“, der Leben und künstlerischen Werdegang schilderte und mit Fotografien einzelner Werke illustrierte. Schon 1913 hatte Olga Meerson-Pringsheim die Einladung zu einer Einzelausstellung in Mülhausen (Mulhouse) erhalten, 1922 war sie an der Ausstellung „Die Frauen“ in der Galerie Alfred Flechtheims beteiligt; das bekannte, freilich heute verschollene Porträt Klaus Manns druckte 1926 die renommierte Kulturzeitschrift „Der Querschnitt“.
Thomas Mann war seiner späteren Schwägerin bereits 1906 in der Münchener Arcisstraße begegnet; dass Olga Meerson – und nicht ihre Freundin Elisabeth Epstein, wie von der Forschung bisher stets angenommen – die Figur der Lisaweta Iwanowna im Tonio Kröger inspirierte, erscheint nach den Überlegungen, die Robert Jütte dazu im Kapitel „Nicht nur Schwägerin. Olga Meerson und Thomas Mann“ anstellt, unbedingt bedenkenswert. Auch spielte sie bei der Namensfindung im Tod in Venedig eine wichtige Rolle. Thomas Mann hatte Olga Meerson im Juli 1911 brieflich um Hilfe bei der Entschlüsselung eines Vornamens gebeten, den er nur flüchtig gehört hatte. Für „Tadzio“, den Namen des von Gustav von Aschenbach verzweiflungsvoll angebeteten polnischen Knaben, lieferte Olga Meerson in ihrem Antwortbrief umfassende sprachliche und literaturgeschichtliche Erläuterungen.
Auch die letzten Kapitel der Biographie enthalten eine Fülle an Details und Entdeckungen, passagenweise folgt man einer gleichsam kriminalistischen Spurensuche. Das gilt nicht nur für die familiären Verwerfungen, für Olga Meersons abenteuerlichen und tatsächlich erfolgreichen Versuch, ihren Mann an der Front zu besuchen oder in Not geratenen Bekannten (unter ihnen der Philosoph Ernst Cassirer) zu helfen; es gilt schließlich auch für die tragischen Umstände ihres Todes. Nicht zuletzt in Reaktion auf Heinz Pringsheims Entscheidung, sich von seiner Frau zu trennen, nahm sich Olga Meerson-Pringsheim am 29. Juni 1930 das Leben. Heinz Pringsheim heiratete kurze Zeit später die Musikerin Mara Duvé.
Lebens- und werkgeschichtlich spiegeln und brechen sich in der Person Olga Meerson-Pringsheim epochentypische Tendenzen in Kunst und Kultur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, zugleich Lebensentwürfe und Lebensstile junger jüdischer und nicht-jüdischer Frauen zwischen Kaiserreich und ausgehender Weimarer Republik und schließlich die großen verbrecherischen Zäsuren des Jahrhunderts. Umso beeindruckender ist, dass Robert Jütte und fast zeitgleich dem Schlossmuseum Murnau eine Wiederentdeckung gelungen ist, die zwar auf dem Vergessen basiert, aber gerade keine Geschichte des Scheiterns präsentiert. Obwohl zwei Drittel des malerischen Werkes von Olga Meerson-Pringsheim als verloren gelten muss, zeugt der Katalog zur Ausstellung mit Fotografien, biographischen Dokumenten, Skizzenbüchern und Abbildungen, vor allem aber mit vier großen Aufsätzen zum kunsthistorischen Kontext (Sandra Uhrig zur „Kunststudentin in München“; Natalia Semenova mit zwei Beiträgen zu Olga Meerson und den russischen Künstlerinnen im Ausland sowie zu Henri Matisse und seinem Mäzen Sergei Schtschukin und Maria Leitmeyer zum Umfeld an der Pariser „Académie Matisse) von einer minutiösen, erfolgreichen Spurensuche und gibt so den Blick frei auf ein beeindruckendes künstlerisches Lebenswerk.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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