Eine vielbestaunte Ausnahmedichterin des 18. Jahrhunderts

Zum 300. Geburtstag von Anna Louisa Karsch

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna Louisa Karsch (1722-1791) war eine der interessantesten Dichterinnen und Briefschreiberinnen des Aufklärungszeitalters, die ein umfangreiches literarisches und briefliches Werk hinterlassen hat. Als erste „freie Autorin“ in Deutschland konnte sie den Lebensunterhalt ihrer Familie mit den Einkünften ihrer Dichtungen und durch Unterstützung reicher Gönner sichern. Als Autodidaktin und Frau aus einfachsten Verhältnissen hatte sie Karriere gemacht – eine Sensation in einer Epoche, die den Frauen immer noch eine Rolle am Rande der Gesellschaft zuwies, obwohl die Aufklärung doch Freiheit und Gleichheit für alle Menschen proklamierte.

Die deutschen Literaturkreise des 18. Jahrhunderts hatte Karsch zwar in Erstaunen versetzt, doch in späteren Literaturgeschichten und Lexika wurde sie meist nur in Zusammenhang mit ihrem Freund und Förderer Johann Wilhelm Ludwig Gleim erwähnt. Im 21bändigen Kindlers Literatur Lexikon (Studienausgabe 1988) suchte man ihren Namen sogar vergebens. Erst in den letzten Jahrzehnten (vor allem anlässlich ihres 200. Todestages) rückten ihre bemerkenswerte Biografie und ihr Werk wieder mehr in den Focus der Literaturwissenschaft, was zahlreiche Publikationen seitdem belegen.

Anna Louisa wurde als drittes Kind des Wirtshauspächters Christian Dürbach am 1. Dezember 1722 „auf dem Hammer“, einer Meierei nahe der Grenze von Niederschlesien und der Mark Brandenburg, geboren. Das strohgedeckte Wirtshaus für Durchreisende betrieb der Vater zusammen mit seiner Frau, die aber die Tochter wegen ihres „häßlichen Aussehens“ ablehnte.

Bildung für Kinder dieses Standes war im frühen 18. Jahrhundert nicht vorgesehen – schon gar nicht für Mädchen. Die kleine Anna Louisa hatte jedoch Glück: Mit sechs Jahren wurde sie zu einem Großonkel mütterlicherseits nach Tirschtiegel gegeben. Der frühere Amtmann stillte ihren Bildungshunger und brachte ihr Lesen und Schreiben bei, unterrichtete sie sogar im Lateinischen. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Anna Louisa an die glückliche Zeit bei ihrem Onkel. Nach vier Jahren musste sie zur Mutter zurückkehren, die nach dem frühen Tod des Vaters (1730) inzwischen wieder verheiratet war. Hier wurde sie als Kinderwärterin für die zwei Halbbrüder gebraucht. Nach dem Umzug der Familie nach Schwiebus trug sie als Rinderhirtin zum Lebensunterhalt der Familie bei. Auf der Weide lernte Anna Louisa den Hirtenknaben Johann Christoph Grafe kennen, der über Bücher verfügte und seiner jungen Freundin heimlich Lektürestoff zusteckte. Verse, die sie hier entdeckte, regten sie zu ersten Reimereien an.

Mit fünfzehn Jahren wurde Anna Louisa mit dem Tuchweber und Tuchhändler Michael (?) Hiersekorn vermählt. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Neben Haushaltsführung und der Erziehung der Kinder versuchte sie zu dichten, was sie aber vor ihrem Ehemann verheimlichen musste. Nach elf Jahren wurde die Ehe geschieden; doch wenige Monate später zwang die Mutter sie, den trunksüchtigen Schneidergesellen Daniel Karsch zu ehelichen. Die Familie zog ins polnische Fraustadt, wo noch drei weitere Kinder zur Welt kamen, von denen allerdings zwei im Kindesalter verstarben. Es waren schlimme Jahre für Anna Louisa, geprägt von bitterer Armut und häuslicher Gewalt. Außerdem fehlten ihr Bücher als geistige Nahrung. Nachdem sich jedoch herumgesprochen hatte, dass sie Reimtalent besaß, konnte sie mit Gelegenheitsversen zu Festlichkeiten von adligen und bürgerlichen Häusern zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, wobei die Bezahlung häufig in Naturalien erfolgte. Das erlaubte der Familie, 1755 ins niederschlesische Glogau zu übersiedeln. Dort gab es zumindest eine Buchhandlung. Während des Siebenjährigen Krieges begann Karsch mit dem Verfassen von Lobeshymnen auf Friedrich II. und die preußischen Siege, wodurch sie überregional bekannt wurde. Offiziere und Feldgeistliche suchten sie in ihrer ärmlichen Stube auf, um von ihr einen Vers zu erhalten. Hohe Militärs und Damen aus der höchsten Berliner Gesellschaft suchten den Briefkontakt mit ihr. Aber neben den zahlreichen Ruhmesversen, die sie gewissermaßen aus dem Handgelenk schüttelte, beschwor sie in ihrer Ode Ein Gebet an den Mars (1761) den Sieg der Liebe über den Siebenjährigen Krieg, der seit sechs Jahren wütete.

Du Gott des Krieges, laß die Erde!
Dein Schritt, mit Blut bemerkt, ist fürchterlich, ist schwer,
Verändre doch die schreckliche Gebärde,
Und schüttle länger nicht den Speer.
Dein wartet der Olymp, und Amor mit dem Bogen
Lauscht an der Mutter Fuß. Steig von des Mordens Bahn
Zur Göttin; dann betrüg‘ den schlafenden Vulkan,
Wie er vor Zeiten ward betrogen.
Von Waffenschmieden ist er matt,
Wie Venus, die nach dir sechs Jahr geschmachtet hat.
Wie reizend liegt sie da im Elisäer Lenze!
Die Nymphe windet dir und Venus Mirtenkränze,
Mit Blumen untermengt. Schon gießt sie Nektartrank
In goldne Schaalen ein; und wenn auch Götter krank
Für heißer Sehnsucht sind, so ist’s gewiß Cythere!
Horch im Getümmel auf, sie seufzet göttlich, höre!
Begieb vom Kampfplatz dich zurück,
Geharnischt wie du bist, an Haupt, an Arm und Fuße.
Cupido zieht dich aus, und deinem ersten Kusse
Dankt unsre ganze Welt ihr Glück.
Der Zorn in einer Frau rief, Mavors, dich hernieder,
Die Sehnsucht einer Frau hol‘ dich den Göttern wieder,
Und ewig komm‘ uns nicht zurück.

Als ihr Mann im Januar 1760 zum preußischen Kriegsdienst verpflichtet wurde, hatte das eheliche Martyrium (ein „Sklavenstand“, so offenbarte Karsch selbst einmal) ein Ende. Inzwischen hatte sich die kraftvolle Poesie von Anna Louisa Karsch bis in die preußische Hauptstadt Berlin herumgesprochen. Aus dem Stegreif konnte sie druckreife Lieder, Oden und Kriegsgesänge verfassen, die den Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) zu der verwunderten Frage veranlassten, „wie ein unkriegerisches Frauenzimmer“ solche Verse verfassen konnte.

Mit der Unterstützung eines adligen Gönners, des Barons Rudolf Gotthard von Kottwitz (1707–1765), kam die „Karschin“, wie sie jetzt meist genannt wurde, im Januar 1761 mit ihrer zehnjährigen Tochter Caroline Luise (1750-1802), die später unter ihrem Namen „Hempel“ und „von Klencke“ selbst als Schriftstellerin in Erscheinung trat, nach Berlin, wo man ihr poetisches Naturtalent und ihre Improvisationsgabe bewunderte. Hier gelang es ihr, schnell Kontakte zu knüpfen. Es folgten zahlreiche Einladungen zu Gesellschaften, wobei häufig die Neugier auf die Dichterin aus der Provinz dahintersteckte.

In einem Brief an Gleim vom 28. April 1761 berichtete sie:

[…] man will Seine NeuBegierde befriedigen, man gafft mich an und klatscht mit den Händen und rufft ein Bravo alß wenn alle meine Reden kleine Zaubersprüche wären ich lache zu weillen mitt und mein Herz weiß nichts von dem Vergnügen wellches dann in meinem lachenden munde die Gesellschafft taüscht […]

Viele Türen öffneten sich und so machte Karsch u.a. die Bekanntschaft des Schweizer Ästhetikers und Philosophen Johann Georg Sulzer (1720-1779), des Berliner Dichters Karl Wilhelm Ramler (1725-1798) und des bekannten Grafikers und Illustrators Daniel Nikolaus Chodowiecki (1726-1801). Durch diese Gönner lernte sie auch den Halberstädter Dichter und Anakreontiker Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) kennen, der Mitte Mai 1761 für ein paar Wochen nach Berlin gekommen war. Mit ihm verband sie eine lebenslange Briefbekanntschaft. Bereits in seinem ersten Brief nannte Gleim sie „Sappho“ und Karsch nahm diesen Namen für einige Zeit gern an, geriet dadurch doch ihr angeheirateter Ehename in Vergessenheit. Als Karsch im Herbst 1761 für ein Jahr nach Magdeburg ging und dort im Haus des Kommandanten Johann Nikolaus von Reichmann und dessen Frau wohnte, besuchte sie auch ihren befreundeten Förderer Gleim in Halberstadt. Bald hatte sie nicht nur Zugang zum geselligen und literarischen Leben der preußischen Hauptstadt, sondern auch zum preußischen Hof. Am 11. August 1763 wurde ihr sogar eine Audienz bei Friedrich II. gewährt, obwohl der König eigentlich an deutscher Sprache und Dichtung wenig Interesse hatte. Ihre Erwartungen, der König möge sie mit einem eigenem Haus, Freiholz und 200 Taler Jahrespension ausstatten, wurden jedoch enttäuscht.

Mit der Unterstützung von Gleim, Sulzer und des literarisch interessierten Magdeburger Kaufmanns Johann Heinrich Bachmann d.J. erschienen 1764 (vordatiert auf 1763) Karschs Auserlesene Gedichte. Die Ausgabe brachte ihr immerhin einen Gewinn von über 2000 Talern ein. Das Geld wurde von ihren Freunden für sie angelegt und sicherte fortan ihre Grundversorgung. Die Einnahmen waren allerdings nicht so auskömmlich, sodass sie neben den bezahlten Gelegenheitsgedichten weiterhin auf die Wohltätigkeit ihrer reichen Freunde angewiesen war 1772 folgte mit Neue Gedichte ein weiterer Gedichtband, an dessen Publikation Karsch mitgewirkt hatte.

Über Gleim hatte Karsch auch den Halberstädter Domdechanten Ernst Ludwig Freiherr von Spiegel (1711-1785) kennengelernt, den sie zur Anlegung eines Landschaftsparks südlich der Stadt anregte. Als Dank ließ Spiegel hier ein Denkmal für sie (geschaffen 1784 von dem Halberstädter Bildhauer J.C. Stubinitzky) mit der Sockelinschrift „Die deutsche Sappho“ errichten. Diese Skulptur gilt als das erste deutsche Dichterstandbild.

Während der Berliner Jahre war die „Karschin“ ständig auf Wohnungssuche und zog mehrmals um. 21 Jahre nach der Audienz bei Friedrich II., der 1786 gestorben war, erfüllte ihr dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) schließlich den Traum vom eigenen Heim. Der neue König ließ ihr ein kleines Haus am Hackeschen Markt in der Kommandantenstraße erbauen. Hier verbrachte sie mit ihrer Tochter und einer Enkeltochter ihre beiden letzten Lebensjahre. Am 12. Oktober 1791 starb Anna Louisa Karsch mit 69 Jahren. Ihr Dichterfreund Gleim ließ an der Berliner Sophienkirche eine Gedenktafel errichten, auf der heute noch zu lesen ist:

Hier ruht
ANNA LOUISA KARSCHIN
gebohrne Dürbach
Kennst Du Wandrer sie nicht,
so lerne sie kennen.

Nach ihrem Tod erschienen noch zahlreiche Gedichte von ihr in verschiedenen Taschenbüchern, Musenalmanachen und anderen periodischen Schriften. Es war jedoch nicht ihr langjähriger Halberstädter Freund Gleim, der die Initiative zu einer Ausgabe ihrer Gedichte ergriff, sondern ihre Tochter Caroline von Klencke. Sie gab 1792 eine Nachlese mit einer Biografie ihrer Mutter heraus, an der sich alle späteren Darstellungen zu Karsch orientierten, die aber heute in der Literaturforschung eher kritisch betrachtet wird.

Das Gleimhaus in Halberstadt, das sich als Ort der Karsch-Forschung etabliert hat, würdigt den 300. Geburtstag von Anna Louisa Karsch mit der Ausstellung Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk (2. Dezember 2022 bis 30. April 2023), die mit der bisher gängigen Meinung aufräumen will, dass die Dichterin Anfang der 1760er Jahre gleichsam aus dem Nichts auftauchte, um ähnlich plötzlich wieder im Dunkeln zu versinken. Die umfangreiche Ausstellung verfolgt ihre lange (Schreib-)Biografie sowie auch die ihrer Tochter Caroline Luise von Klencke und ihrer Enkelin Helmina von Chézy (1783-1856).

Im Wallstein Verlag ist der reich illustrierte Begleitkatalog zu dieser bemerkenswerten Ausstellung erschienen. In ihrem Vorwort betont die Herausgeberin und Direktorin des Gleimhauses Ute Pott, dass sich Karsch selbst aktiv für ihre „Entdeckung“ eingesetzt hat und auch nach ihrem „triumphalen Einzug in Berlin“ weiterhin als renommierte Autorin wahrgenommen wurde. Die anschließenden Essays von renommierten Literaturwissenschaftler*innen sind das Ergebnis der langjährigen Karsch-Forschung. So beleuchtet Regina Nörtemann die Rezeption der antiken Dichterin Sappho bei Anna Louisa Karsch, während Ulrike Leuschner sich Karschs Auseinandersetzung mit Homer widmet. Christoph Georg Rohrbach wirft einen Blick auf die Odendichtung im 18. Jahrhundert. Reimar F. Lacher liefert ein Verzeichnis der Porträtdarstellungen und Annegret Loose hat ein Verzeichnis der eigenständigen Drucke zusammengestellt. Andere Beiträge beschäftigen sich mit der Vernetzung der Dichterin hinsichtlich ihres regen Briefwechsels oder ihrer Wirkung in der Schweiz und in Frankreich. Ergänzt wird der Katalog durch eine tabellarische Biografie und eine Zusammenstellung von Literatur, die Karsch lesend oder durch Theateraufführungen zur Kenntnis genommen hat (auf der Basis einer Auswertung ihrer Briefe und Gedichte).

Da das Gleimhaus über einen umfangreichen Handschriftenbestand von Anna Louisa Karsch verfügt, wurde als zweite Neuerscheinung (ebenfalls im Wallstein Verlag) eine Auswahl der schönsten und wichtigsten Briefe und Gedichte der berühmten Stegreif-Dichterin herausgegeben. Die Briefe und Briefgedichte sind an viele unterschiedliche Empfänger*innen adressiert, neben adligen und literarisch-gebildeten Kreisen hielt sie auch Kontakt zu niederen Bevölkerungsschichten. Mit den Anreden und Schlussformeln wahrte sie jedoch stets den Respektabstand; doch wagte sie sich auch immer wieder an „die Großen“ heran, angefangen von Bodmer und Gottsched bis zu Schiller und Goethe. Die Korrespondenz mit Gleim (erstmals erschienen 1993/96) erstreckte sich über mehr als dreißig Jahre und umfasst gut eintausend bewahrte Briefe. Der Briefwechsel, der neben einem freundschaftlichen Austausch in hohem Maße auch literarisch war, ist ein Beispiel der Briefkultur im 18. Jahrhundert, die Funktionen der Bildung und Geselligkeit erfüllte. Eine Unterscheidung zwischen Brief und Gedicht ist bei Karsch nicht immer eindeutig. So tragen auch zahlreiche Gedichte eine Adressierung.

Es war das Anliegen der beiden Herausgeberinnen der Auswahl, Claudia Brandt und Ute Pott, „Karsch unverstellt zu präsentieren“, daher wurden aus der Fülle der überlieferten Briefe und Gedichte ausschließlich solche Texte ausgewählt, die „eigenhändig“ erhalten sind. Es handelt sich also um Originalhandschriften oder eigenhändige Abschriften für die Sammlung ihres Freundes Gleim. So bietet die Edition zumeist bislang ungedruckte oder nur in unzuverlässigen Fassungen zugängliche Texte. Oft sind die Texte der Dichterin nur in starken Überarbeitungen überliefert.

Weitere Auswahlkriterien waren u.a. die Vielfalt der Adressat*innen, die biografischen Bezüge oder die Dokumentation der Vernetzung Karschs im Literaturbetrieb. Einige Briefe und Gedichte, die aus früheren Ausgaben übernommen wurden, erfüllten jedoch die Auswahlkriterien für diese Ausgabe. Mit der Verbindung von Briefen und Gedichten verdeutlicht die Edition, wie sehr die Briefe elementarer Bestandteil von Karschs Werk sind.

Der umfangreiche Anhang nimmt fast die Hälfte der Neuerscheinung in Anspruch. Neben einem Nachwort der beiden Herausgeberinnen, einem editorischen Bericht und zwei Verzeichnissen werden alle Briefe und Gedichte durch Stellenkommentare erschlossen. Die Kommentare liefern verschiedene Erläuterungen wie Namensauflösungen sowie Hinweise auf den Kommunikationskontext und auf die erwähnte Literatur.

In der Neuerscheinung (Heft 71) der Frankfurter Buntbücher beleuchtet die Schriftstellerin und Journalistin Annett Gröschner die bewegenden Jahre der Karsch in Berlin. Hier wurde sie vom „schlesischen Cowgirl zur Liedermacherin Preußens“. Kurz nach ihrer Ankunft in Berlin unternahm sie Spaziergänge, die sie in drei Gedichten (Der Weidendamm, Die Kastanien-Bäume und Die Linden) in dem Zyklus Die Spazier-Gaenge von Berlin literarisch festhielt.

Der Weidendamm

Die Muse flieht zu dir, einsamer Kranz von Weiden!
Wo ihr dein West in kühle Schatten winkt.
Ihr Bäume! Die ringsum der Spree Gestade kleiden.
Wie oft mein Herz, die Ruhe in Strömen trinkt.

Seid ihr mein Lied! – Fern vom geschäftigen Getümmel
Wohnt die Natur, die das Einsame liebt
In euch, und rund umher wölbt sich ein heitrer Himmel.
Von keinem Rauch der stolzen Stadt getrübt.

In den Spazier-Gaengen zeigte sich Karsch als leidenschaftliche Beobachterin, die ihren Blick nicht nur auf die majestätischen Gebäude der Stadt und ihre mächtigen Mäzene richtete, sondern darin ein echtes Naturgefühl zur Geltung brachte. Der Zyklus machte sie so berühmt, dass selbst Goethe, der im Mai 1778 als Begleiter des Weimarer Herzogs Carl August in Berlin weilte, bei ihr am 18. Mai anklopfte. Ihre Tochter Caroline Luise berichtete zwei Tage später Gleim von diesem Treffen: „Wenn Sie ihn hätten kommen sehen, unerwartet in unsre Thür treten, mit den Augen meine Mutter suchen, mit seinen Augen! Ach! unaussprechlich reizend war die Scene.“

Neben den Berliner Kontakten und Spaziergängen widmet sich Gröschner auch ausführlich den ständigen Bemühungen Karschs, für sich und die mal kleine, mal größere Familie eine angemessene Unterkunft zu finden. Neben dem Geldverdienen war das viele Jahre eine Belastung. Vor allem nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges herrschte in Berlin eine große Wohnungsnot. Trotz ihrer Berühmtheit musste Karsch lange um ein eigenes Haus in Berlin kämpfen, das nach ihrem Tod eine wechselvolle Geschichte hatte und im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Während bereits um 1900 in Berlin Straßen nach Ramler, Gleim und Chodowiecki benannt wurden, bekam Anna Louisa Karsch ihre erst 2001. Ergänzt werden die interessanten Informationen zur „Karschin“ und zur Berliner Geschichte des 18. Jahrhunderts durch zahlreiche historische Abbildungen, die das in Vergessenheit Geratene wieder gegenwärtig machen.

Titelbild

Anna Louisa Karsch: Briefe und Gedichte. Hg. von Claudia Brandt und Ute Pott.
Schriften des Gleimhauses Halberstadt, Bd. 13.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
448 Seiten, 6 Abb, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352773

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ute Pott (Hg.): Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk.
Schriften des Gleimhauses Halberstadt, Bd. 12.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
240 Seiten, 150 farbige Abb. , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353039

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Annett Gröschner: „Die Spazier-Gaenge von Berlin“. Anna Louisa Karsch (1722–1791).
Frankfurter Buntbücher 71, Hg. Kleist-Museum Frankfurt (Oder).
vbb Verlag für Berlin-Brandenburg, Frankfurt (Oder) 2022.
32 Seiten , 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783969820537

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