Ein anderes Europa – ein sich entzaubernder Orient

Navid Kermani wandert „Entlang den Gräben“ und findet eine vergessene, von Krisen geschüttelte Welt

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was geht eigentlich in Polen, Weißrussland und der Ukraine vor, wenn man jenseits der Standardmeldungen zum politischen Geschehen blickt? Und wie präsentiert sich die Gesellschaft in jenen Ländern weiter im Osten, welche die Geografiekenntnisse des durchschnittlichen Westeuropäers in Verlegenheit bringen: in Georgien, Armenien, Aserbaidschan?

Navid Kermani reist mit und gegen die oftmals grob vereinfachenden Klischees, die man in Deutschland über den Osten der EU, den Kaukasus und den Orient so pflegt. Seine Reise ‒ die eigentlich aus mehreren Reisen besteht ‒ führt ihn von Ostdeutschland über Polen, Litauen und Weißrussland in die Ukraine. Von dort geht es über die besetzte Krim nach Russland (Tschetschenien) und von dort in einer durch Kriege und Krisen verworrenen Reiseroute durch Georgien, Aserbaidschan und Armenien. Kermanis Reise endet im iranischen Teheran und wird ergänzt durch die Beobachtungen während eines Familienurlaubs in Isfahan.

Die Klischees werden schon in Ostdeutschland mit einer anderen Realität konfrontiert. Von dem Plan, zuerst die katastrophalen Verhältnisse der Flüchtlingsunterkünfte zu betrachten ‒ ein Leben in Angst im Angesicht des braunen Ressentiments ‒ und danach anzuhören, wie die AfD auf sie schimpft, bleibt wenig übrig, als Kermani ausgerechnet im Osten „gut aufgelegte Helfer, strebsame Flüchtlinge, spielende Kinder“ geradezu einen Werbefilm der Willkommensgesellschaft vorspielen. Dass auch diese Idylle trügt, überrascht wenig, aber auch die Politiker der AfD und ihr Publikum entsprechen nicht dem dämonisierenden Bild westdeutscher Presse. So begegnen die Besucher einer AfD-Veranstaltung dem iranisch-stämmigen Berichterstatter höflich, neugierig, geradezu freundlich ‒ sind dann aber doch überrumpelt, als dieser Fremde ganz selbstverständlich die gleichen Rechte reklamiert wie die Einheimischen. Diese Haltung, so banal sie erscheint, begegnet Navid Kermani in fast jedem Land auf seiner Reise. Die Unschuld der eigenen Gruppe, die eigene Friedfertigkeit, die eigene Toleranz wird stets betont und bis in die Kriegsgebiete sehen die Einwohner sich als Opfer fremder Aggression ‒ mit bisweilen schon erstaunlicher Fähigkeit zur Geschichtsklitterung.

So ist Kermani wenig am Fremden an sich interessiert, am Blick auf das exotische Andere, sondern stets am Verhältnis der Menschen zu ihrem Umfeld, zu ihrem Land, ihren Städten, ihrer Geschichte. Kermanis Talent, sich in die Menschen vor Ort hineinzuversetzen und ihre Beweggründe nachzuvollziehen, wäre fast schon bedenklich, wenn er nicht jede Meinung aus anderer Perspektive fundiert relativieren könnte. So gelingt es ihm, keinen Klischees aufzusitzen, beide Seiten zu hören und ‒ wo möglich ‒ mit den Einstellungen der Anderen zu konfrontieren.

Zu Beginn seiner Reise interessiert ihn dabei besonders die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Erinnerungskultur vor Ort. So ähnelt sein Weg durch Polen und Weißrussland fast einem Reisetagebuch des Dark Tourism, da Kermani von Auschwitz bis Eriwan keinen Gedächtnisort auslässt und insbesondere den Verbrechen von SS und Wehrmacht nachspürt ‒ hierin ganz seinem Diktum folgend, dass die Einwanderer als wichtigsten Teil deutscher Leitkultur ebenfalls die Last der Erinnerung mittragen müssen (folgerichtig wird er gerade in Auschwitz zum Deutschen). In der Ukraine beeindruckt die Unaufgeregtheit, mit der der Berichterstatter unbedingt jede Front in den heißen Zonen zwischen Europa und Asien aufsuchen möchte. Ein wenig beklagt er dabei selbst, dass der neue Krieg in diesem vielschichtigen Gebiet ihm keine Zeit mehr für die alten lässt (und damit den Spuren deutscher Schuld, denen er von Polen bis Weißrussland gefolgt ist). Wenn er die Frontlinie auf der Krim oder das Sperrgebiet von Bergkarrabach aufsucht, ist es besonders die Normalität für die Einheimischen, die er einfängt, und nicht das Spektakuläre des Krieges. Gerade wo der Friedenspreisträger den Krieg aufsucht, überzeugen seine Beobachtungen besonders.

„Ich bin froh, daß es keinen Krieg mehr gibt. Darüber bin ich froh“, erklärt etwa Tatjana auf die Frage, ob sie erfreut darüber sei, dass die Krim nun wieder zu Russland gehöre. Tatjana wohnt in einem Haus, das früher von Krim-Tataren bewohnt wurde ‒ vor ihrer Vertreibung. Allerdings war es Ernes, einer jener Krimtataren, dessen Familie 1957 durch die Sowjetpolitik vertrieben wurde, der Kermani zu dem Haus geführt hat, in dem er auch alleine regelmäßig einen Tee angeboten bekommt. Die Konfliktlinien laufen in der Ukraine, die von so vielen verschiedenen Interessen zerrieben wird, anders. Während die rückkehrenden Krimtataren sich nach Kermanis Eindrücken recht gut mit den Russen oder Ukrainern verstehen, die nun ihre Häuser bewohnen, verstehen sich im Donbas teilweise alte Freunde nicht mehr. Die einen kämpfen für die Separatisten, die anderen für  die Ukraine (weniger als auf dem Maidan haben sie allerdings dabei das Gefühl, für Europa zu kämpfen). Nun trennt sie eine geistige Kluft und ein realer Schützengraben. Wie ein Zusammenleben nach einem Friedensschluss aussehen könnte, ist ungewiss: „Sie werden uns nicht vergeben, daß wir sie getötet haben, und umgekehrt […]. Aber am Ende wird die Zeit heilen. Sie muß, anders geht es ja nicht“, erklärt einer der Soldaten, die Kermani an die Front fahren. Auf Europa setzen sie wenig Hoffnung ‒ das einzige, was sie als Unterstützung von der EU bekommen haben, ist ein mittlerweile defekter Humvee ohne Ersatzteile. Je weiter Kermani in die Krisengebiete vordringt, umso einfacher werden die Wünsche ‒ die mit immer weniger Pathos vorgetragen werden. Kämpfen sie auf dem Maidan für Freiheit und Europa, wünschen sie sich auf der Krim fließendes Wasser und Elektrizität.

Dadurch, dass er immer bemüht ist, beide Parteien zu befragen, kann Kermani eine Denk- und Wahrnehmungsweise offenlegen, die jeden Konflikt grundiert, unabhängig davon, wie er begonnen, geführt oder legitimiert wird: „Wie gut kenne ich es von meinen Reisen, aus Iran und auch aus Deutschland selbst, daß die Gewalt, die im eigenen Namen geschieht, lediglich von einigen Radikalen begangen wird, während für die Gewalt der anderen stets das Kollektiv verantwortlich ist.“ So erzeugt man Feindbilder.

Kermani hat ein an Einzelbeobachtungen und politischen Einsichten so reiches Buch vorgelegt, dass es schwer fällt, hier nichts über die großartigen Kapitel zu seinem Aufenthalt in Aserbaidschan und Armenien zu schreiben, aber thematisch ist das recht nah an den Ausführungen zur Ukraine. Außer der Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur (nicht nur in Bezug auf die Weltkriege) und den Auswirkungen von Krisen und Kriegen vor Ort, gibt es aber noch ein drittes Thema, das die Reportagen wie ein roter Faden durchzieht.

Im Schriftstellerhaus in Tiflis, einer alten Gründerzeitvilla, trifft Navid Kermani auf den in Deutschland geborenen Schriftsteller Giwi Margwelaschwili, der zwei totalitäre Systeme überlebt hat: Hitlerdeutschland und das Sowjetsystem. Einst mit deutschen Preisen bedacht und von Heinrich Böll besucht, dürfte Margwelaschwili heute in Deutschland fast vergessen sein. Es entbehrt nicht einem gesunden Maß an Selbstironie, wenn Kermani über die autobiografischen Romane, die Margwelaschwili unter dem Obertitel Kapitän Wakusch veröffentlicht hat, urteilt, diese seien eher philosophische Reflexion als Lebensgeschichte, mehr eine Reflexion über die Biografie als selbst eine. Vielen deutschen Lesern wird es bei der Lektüre von Kermanis Roman Dein Name ähnlich ergangen sein, der wohl mindestens ebenso oft auf Gelesenes anspielt wie Margwelaschwili. Und so ist es die stete Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst, die Kermanis Reise neben der Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur und der Analyse von Konfliktursachen als drittes großes Thema grundiert. Seien es Sachinformationen aus Timothy Snyders Bloodlands, die berückend schönen Gesänge georgischer Mönche, der postmodernen Bau des Heydar-Aliyev-Zentrums der Architektin Zaha Hadid in Baku oder das Gespräch mit dem ehemals gefeierten Schriftsteller Akram Ayisli, den sein auch auf Deutsch erschienener Roman Steinträume in seiner Heimat Aserbaidschan zum Feind der Nation gemacht hat. Ayisli setzt sich in seinem Roman mit der offenen Wunde auseinander, die durch die Vertreibung der Armenier entstanden ist und durchbricht dabei das staatlich verordnete Schema des wir gegen sie.

Genauso begleitet Kermani der kulturelle Reichtum der Vergangenheit, vergleicht er den touristisch erschlossenen Sewansee mit den Erinnerungen Ossip Mandelstams oder die Verhältnisse in Tschetschenien mit den begeisterten Schilderungen von niemand geringerem als Lew Tolstoi. Melancholisch wird Kermani besonders ‒ wie schon in seiner Friedenspreisrede ‒, wenn er den kulturellen Reichtum des früheren Orients und seinen Pluralismus, den er überraschend am ehesten in Georgien noch lebendig findet, mit der oftmals puristischen Einstellung der Gegenwart vergleicht; man könnte hier geradezu von Geschichtsmelancholie sprechen. Reich, so klingt immer wieder an, ist eine Gesellschaft besonders dann und dort, wo sie vielschichtig ist, Differenzen zulässt und nicht dem Fetisch der Gegenwart huldigt: der kulturellen Reinheit.

Persönlich-melancholisch wird diese Verlusterfahrung am Ende der Schilderungen. Kermani beschreibt hier die Eindrücke, die er während eines Familienurlaubs in Isfahan gesammelt hat. Er ist Schriftsteller genug, um den Wechsel der Perspektive auch formal zu markieren – hier spricht nicht mehr der Berichterstatter, sondern der Sohn iranischer Einwanderer, der in seiner Kindheit noch ein anderes Isfahan kennengelernt hat: einen Garten, einen paradiesischen Garten (wie der Garten in Kermanis Reiseberichten grundsätzlich ein Motiv für Harmonie darstellt, hier bewegt sich Kermani in der religiösen Tradition, der er so kundig wie kaum ein zweiter deutscher Intellektueller nachspürt). Dieser Verlust zeigt sich besonders in städtebaulicher Hinsicht. Und wenn es auch spektakulärere Beispiele geben mag, so konzentriert sich diese Erfahrung vielleicht am dichtesten in der nüchternen Feststellung, die Kermani bei dem Versuch macht, mit dem Fahrrad aus Isfahan zu radeln: „Speziell an den Rändern ist Isfahan kaum wiederzuerkennen: Wo Wüste war, steht jetzt eine Shoppingmall, wo eine Obstplantage, jetzt ein Freizeitpark.“ Symbol dieses Verfalls ist das schlammige Bett des Flusses, an dem Kermani entlangradelt. Angeblich zweigt das Regime das Wasser nicht nur für Industrieanlagen ab, sondern auch für einen künstlichen See in Ghom, wo das geistige Zentrum der Herrschaft liegt. So müssen kulturelle Lichtblicke wie die zeitlosen Ornamente der Lotfollah-Moschee, die sich dem Unaussprechlichen nähern wie nur wenige Kunstwerke der Welt, sich gegen die Machwerke gigantischer Hässlichkeit behaupten, mit denen sich die Staatsführer in riesigen Mosaiken verewigen wollen.

Das erinnert im Kontext seiner Reise etwa an Grosny, die futuristische Planstadt, die ebenso klinisch von der Vergangenheit befreit wurde, wie ihr Zentrum ein verlassener, lebensfeindlicher Ort ist. Daran erinnert auch die Ausbreitung der überall gleichen Pizzerien, Nicht-Orte, welche die kulinarische Vielfalt weltweit verdrängen. Daran erinnert auch der frustrierte Kommentar der Aseri Sabina Shikhlinskaya, als sie die Schauplätze ehemaliger Kriege als „Orte (bezeichnet), an denen Erinnerung systematisch verhindert werde“, in Isfahan fragt sich Kermani woran man merkt, dass eine Zivilisation stirbt: „Daß nur das Vergangene schön ist, nichts von dem Neuen.“

Zuletzt gibt es ein Gegenbild, dass Kermani auf der Reise begleitet, zu Diskussionen anregt und als Hoffnung bleibt: Die Idee von Europa als Ort von Pluralismus und Meinungsfreiheit. Es sei Teil dieser Idee gewesen, „daß ein Ort seine Geschichte nicht leugnet, das Vorangegangene, das Gewachsene weder abreißt noch übermalt, sondern nebeneinander bestehen läßt und damit auch die Gegenwart als vergänglich relativiert. Nur Ideologien machen mit der Vergangenheit tabula rasa.“ Es ist offensichtlich, dass es auch in Europa wieder stärkerer Bemühungen bedarf, dieser Idee eine politische Realität zu schaffen.

Navid Kermani hat ein sehr nachdenkliches, engagiertes und informatives Buch geschrieben, in dem er den Blick auf die nahe Ferne wirft, die hierzulande viel zu wenig Beachtung findet. Noch ist Europa vom Maidan bis nach Georgien ein Hoffnungsbild für viele Völker am Rande Europas und des Kaukasus ‒ das ist eine historische Verantwortung, der bislang keine politische Handlung entspricht. Der Idee Europa kann man nur gerecht werden, wenn man ihre Durchsetzung auch andernorts unterstützt.

Titelbild

Navid Kermani: Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
442 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406714023

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