Chronik der andauernden Kriege
Alexander Kluge bilanziert in „Kriegsfibel 2023“ 61 Jahre Schreibarbeit
Von Ulrich Klappstein
Der erste Eindruck täuscht: Alexander Kluges Kriegsfibel 2023 ist trotz aller Kürze kein Manifest gegen den aktuell wütenden Krieg in der Ukraine, der mit globaler Wirkung von einem Aggressor geführt wird. Dem Chronisten geht es vielmehr um die „unterirdischen“ Prozesse, um das, was der Krieg zu allen Zeiten mit den Menschen macht und zu welchem Eigenleben er imstande ist. Der Titel des kleinen Büchleins weist darauf hin, dass den Leser:innen einfache Geschichten vorgestellt werden, aber, wie bei Alexander Kluge üblich, unterlegt mit plakatähnlichen Worttafeln, Fotografien, Bildern, Kartenskizzen und hier sogar mit über QR-Codes abrufbaren, den Text ergänzenden, kurzen Filmsequenzen versehen.
Das Manuskript umfasste ursprünglich annähernd 400 Seiten. In enger Zusammenarbeit mit seinem Lektor Wolfgang Kaußen hat Kluge sein jüngstes Werk aber auf 128 Seiten, also auf das ihm Wesentliche dehydriert.
Als ich Schüler war, lernten wir das Lesen und Schreiben mit einer Fibel. Wenn Krieg ausbricht, so Bert Brecht, müssen wir aufs Neue Lesen und Schreiben lernen. Etwas war falsch, wir müssen neu anfangen. Dazu brauchen wir Fibeln, und Fibeln sollen kurz sein,
so der Autor in seinem abschließenden Dankeswort an den Verlag.
Kluge ist ein Mosaikarbeiter. Helmut Heißenbüttel hat es einmal so beschrieben: Kluge liefere keine Panoramen, sondern kehre die Panoramamalerei um und zerlege komplexe Vorgänge in eine Vielzahl von Berichtsmomenten. Das patchworkartige Verfahren, Texte unterschiedlicher Genres zu kombinieren und kommentarlos aneinanderzureihen, hatte Kluge schon in seinem ersten vorgelegten Buch Lebensläufe angewendet: den Leser:innen wurden schon dort teils erfundene Geschichten, aber auch dokumentarische Passagen und Einblendungen aus fremden Texten vorgelegt, die insgesamt eine „traurige Geschichte“ repräsentieren sollten, so der Autor in seinem Vorwort von 1962. Damals reagierte der noch junge Autor und Jurist auf die ersten Auschwitzprozesse in Krakau 1947 und das Leben im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland, das von einem verdrängten Schuldbewusstsein geprägt war (der erste Auschwitzprozess in Deutschland fand erst 1963 statt). Alle geschilderten „Lebensläufe“ waren von der Kriegserfahrung geprägt.
Als Motto hat Kluge seinem Buch eine Zeile aus einem Sonett des New Yorker Dichters Ben Lerner vorangestellt: „Angesichts der menschlichen Natur kapitulieren die Bäume“. Lerners Großpoem The Lichtenberg Figures aus dem Jahr 2004 beleuchtete die Beziehung zwischen Gewalterfahrung, Erinnerung und literarischer Form.
„Der Krieg ist wieder da“ – so ist die erste von sechs „Stationen“ übertitelt, in die Kluge seine Fibel gegliedert hat. 30. April 1945 und Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 hießen zwei der Bücher, auf denen auch diese erste Station gründet. Am Beispiel des Lebenslaufs seiner Mutter Alice (geboren im Jahr 1908), seinen eigenen Erfahrungen als Schüler des Dom-Gymnasiums Halberstadt 1944/45 und anhand von Ausschnitten aus den Kriegserfahrungen der Mutter seines besten Freundes erläutert Kluge, was auch eine erste Wort/Bildtafel illustriert: „Kinder sind die wahren Chronisten des Krieges“. Gegenübergestellt ist dieser Bildtafel eine Abbildung, wie man sie aus der aktuellen Kriegsberichterstattung über die Ukraine kennt, mit den Hauptangriffspfeilen aus Russland, hier jedoch unterlegt mit dem Schattenbild zweier über eine Fibel gebeugter Schulkinder. Auch Erwachsene sind der Realität ausgeliefert, müssen wie über eine Fibel gebeugt aus ihr lernen; anekdotenhaft eingerückt in dieses erste Arrangement hat Kluge „ein beliebtes Verfahren bei Schlachten mit Zinnsoldaten“, die „SCHUSSUMKEHR“, mit der Kluge selbst als Jugendlicher die „Schlacht von Leuthen“ nachgespielt hat.
In der zweiten „Station“ geht es um die „Utopie der Panzerung“, Kluge reiht hier verschiedene Texte und Textsorten aneinander: u.a. ein fingiertes Gespräch von Fachleuten im Silicon Valley über Langlebigkeit, eine Anekdote über den Dramatiker Heiner Müller, der als Flakhelfer noch 1945 mit Panzerfäusten umgehen musste und einen Bericht über die „sieben Häute des Ritterkreuzträgers von Hünersdorff – Szene aus dem Kriegsjahr 1943“. Ein eingerücktes Kästchen – ein weiteres Beispiel für Kluges oft verwendete „Sprachcontainer“ – stellt sog. „Wörter und Gegenwörter“ gegenüber: Krieg/Antikrieg, Panzerung/Entpanzerung, Charakterpanzer/Gemüt, Einfühlung.
Die dritte Station ist „kaukasischen und ukrainischen Geschichten“ und einzelnen Impressionen aus dem Ersten Weltkrieg gewidmet, Kluge zitiert ausführlich aus Ernst Jüngers Kaukasischem Tagebuch, dann schaltet Kluge einen Rückblick auf den März 1918 ein, als Offiziere der k. u. k. österreichisch-ungarischen Luftstreitkräfte eine Fluglinie von Wien über Lemberg, Odessa bis Charkow, Tiflis und Astrahan eröffneten. Das Ganze unterlegt mit Straßenbildern aus der Ukraine aus dem Jahr 2022. Die Kriegssituation in der Ukraine, besonders das Desaster von Mariupol, wird als „Verknäuelung“ beschrieben:
Was meinten Sie vorhin mit VERKNÄUELUNG
Einen Knoten.
Sie meinen eine VERHAKUNG?
Ich meine etwas, das derzeit nicht entwirrbar ist. Für keine der beiden Seiten. Wobei egal ist, ob die eine Partei entwirren will und die andere nicht.
In dieser Form folgen weitere drei Stationen, zusammenmontiert aus Zitaten, realen Geschichtsvorgängen, (erfundenen) Dialogen, Anekdoten und Gedankenexperimenten des Autors: „Der American Civil War ist nicht tot“ (Station 4), „Nebel des Krieges“ (Station 5) und „Die menschliche Natur und der bittere Krieg / Im Zoo der Aggressionen / ‚Die Fähigkeit, zu trauern‘“ (Station 6). Das assoziative, zusammensetzende Verfahren verlangt dem Leser, der kohärente Texte gewohnt ist, einiges ab. Das Panorama eines immer währenden Krieges, in dem der derzeitige Ukraine-Krieg nach Kluges Verständnis nur einen weiteren Mosaikstein bedeutet, entsteht stationenweise, und auf jeder sollten die Leser:innen bereit sein, einen Moment zu verharren.
Kluge, mittlerweile 91 Jahre alt, ausgebildeter Jurist und Filmemacher, kam es nach eigenem Bekenntnis, auch in seinen bisher vorgelegten Geschichten und Büchern, die von „Phantasie und Poetik“ leben, schon darauf an, Empathie und Sachlichkeit zu verbinden. Dem Autor ist es wichtig, dass „alle meine Arbeiten […] meine persönliche Erfahrung als festen Kern [haben].“ So ist auch die Kriegsfibel eine durchaus persönlich gefärbte Antwort auf die Realitäten seit dem Jahr 2022 und schließt im „Kern“ und nach „Farbe und Gestalt“ an sein bisheriges Werk an; denn seine Werke bilden einen Zusammenhang, „Maulwurfstunnel führen vom einen zum andern“.
Was erwartet also uns Leser und was erfüllt diese neue Publikation? Kluges Verfahren des Gedankenmosaiks, die Kompilation ganz verschiedenartigen Sprachmaterials, mag zunächst verstörend erscheinen; sein neues Werk stellt im Ergebnis aber eine erhellende, entlarvende und im Kern provokante Grundschrift dar und ist damit das Buch der Stunde.
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