Schatzkammern kultureller Überlieferungen

Michael Knoche über Idee und Realität der Bibliothek in Deutschland

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Bibliotheken macht vermutlich jeder seine eigenen Erfahrungen – gute und weniger gute. Bisweilen mag es scheinen, als kenne man dort wesentlich zwei Feinde: das Buch und den Nutzer. Beide machen Arbeit, jenes will ausgewählt und gekauft, katalogisiert, in Ordnungen eingefügt und für den Gebrauch hergerichtet, dieser beraten, bedient und zufriedengestellt werden. Es ist schon einige Jahre her, dass eine meiner damaligen Doktorandinnen mir schrieb, dass ihre Bibliothek, beheimatet an einer mittelgroßen Universität, den „Dietrich“, die Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur, aus den Regalen geräumt habe, und zwar komplett. Zur Begründung hieß es, die Serie liege nunmehr digitalisiert vor, die Printausgaben seien daher überflüssig. Dass man im selben Atemzug selbst die nicht digitalisierten Jahrgänge fortgeschafft hatte, wurde mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass sie von den Studierenden nicht nachgefragt würden. Nicht das vorsorgliche Bereithalten eines Mediums obwaltete hier, sondern vielmehr ein vorgebliches Nichtbedürfnis – für eine Einrichtung, die der wissenschaftlichen Forschung und Lehre dient, eine denkwürdige Einlassung. Vergleichbaren Aktionen fiel dort eine der bedeutenderen nationalökonomischen Zeitschriften zum Opfer, desgleichen die Protokolle der Reichstagsverhandlungen. Gewiss, auf diese Weise gewinnt man Platz, für was auch immer. Klagen über die Errungenschaften einer Moderne, die immer moderner wird, sind jedoch zwecklos. Man muss sich mit den Gegebenheiten veränderter Konzepte und technischer Errungenschaften arrangieren. Das ziellose Blättern und lustvolle Schmökern in vollständig aufbewahrten und umstandslos zugänglichen Präsenz-Beständen, was nicht selten zu neuen, zunächst gar nicht beabsichtigten Entdeckungen führen und dann zum Ausgangspunkt zielgerichteter Recherche werden kann, bleibt dabei allerdings auf der Strecke.

Schon diese wenigen persönlichen Erfahrungen deuten an, dass die wissenschaftlichen Bibliotheken in einer Welt, die permanentem und beschleunigtem Wandel unterliegt, vor erheblichen Herausforderungen stehen, dass ihre Gestalt, ihre Funktionen und Möglichkeiten nicht mehr die alten sind. Eingeübte Pfade herkömmlicher Verfahrensweisen haben sie jedenfalls verlassen und verlassen müssen. Nicht mehr der Zettelkasten regiert, sondern der Online-Katalog, und es dürfte niemanden geben, der darüber in Tränen ausbricht. So sehr die vielfältigen, von moderner Informationstechnologie induzierten Neuerungen Rahmenbedingungen und Zugriffsmöglichkeiten vereinfachen, so wenig haben sich damit die Probleme, mit denen die Bibliotheken konfrontiert sind, verflüchtigt. Im Gegenteil, es scheint, als seien sie größer und gravierender geworden. Sie zu lösen, braucht es den Einsatz von beträchtlichen Finanzmitteln, Planungskompetenz und Koordinationsphantasie. Gefordert sind in diesem Feld nicht allein die Bibliothekare, sondern mindestens ebenso sehr die für Kultur und Bildung verantwortlichen Politiker. Dies ins Bewusstsein zu rufen, ist das Verdienst des schmalen, aber äußerst gehaltvollen und erfahrungsgesättigten Buches Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Ihr Autor, Michael Knoche, bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, erlöst die Thematik aus dem Dornröschenschlaf, will sagen: verharrt nicht im engen Kreis der Experten, sondern wendet sich an ein breites, für Fragen der kulturellen Überlieferung offenes Publikum. „Es ist höchste Zeit“, notiert er am Schluss seines Essays, „dass über Bibliotheken wieder öffentlich gesprochen wird.“

Am Anfang steht der Zweifel, nicht der des Verfassers, wohl aber die Beobachtung, dass offenkundig manch eine Bibliothek nicht mehr das sein möchte, wozu sie da ist oder doch sein sollte. Bezeichnungen wie „Kommunikations-, Informations- und Medienzentrum“ bringen zum Ausdruck, dass man alle möglichen Verrenkungen macht, bloß um nicht mit dem B-Wort identifiziert zu werden. Bibliothekare wollen vom Odium des Bücherausleihers befreit werden. Bisweilen sind sie „von einer rätselhaften Form des Bücherverdrusses“ befallen: „Das Buch erscheint ihnen in ihren Albträumen als das schlechthin Böse und Gutenberg als Terrorist“. Dazu passt, dass unlängst der Direktor der Bibliothek an der ETH Zürich erklärte, „wer Inhalte“ suche, benötige „keine Bibliothek mehr“. Schließlich sei mittlerweile ein „Großteil der Literatur“ im Internet zu finden. „Das Informationsmonopol der Bibliothek“, so die frohgemute Diagnose, sei „gekippt“. All dies sind Indizien für eine Krise, zumindest für einen erheblichen Bedarf an Diskussion und erneuter Selbstvergewisserung. Da tut es gut, von Michael Knoche in lapidarer Kürze und Klarheit zu hören, was die Aufgabe wissenschaftlicher Bibliotheken ist (und nur von solchen handelt er): Sie tragen die „Verantwortung für die Verfügbarkeit von Veröffentlichungen“, mit deren Hilfe sich der in den verschiedenen Disziplinen erreichte „Stand der Erkenntnis“ erfassen lässt.

Das war und ist so, aber man muss das Wörtchen „noch“ hinzufügen, denn ob es so bleiben wird, steht in den Sternen. Etliche Tendenzen, die sich in der Bibliothekslandschaft ausbreiten und zum Teil heftig diskutiert werden, geben Anlass zur Besorgnis. Da sind zum einen die Verfechter der Digitalisierung, die für ihre Projekte beträchtlichen Raum erobert haben. Die wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland geben mittlerweile mehr Geld aus für die Anschaffung digitaler als für die gedruckter Publikationen. Besonders Universitätsbibliotheken spielen hier den Vorreiter. Diejenigen, die diese Entwicklung, nämlich die „Ablösung des Leitmediums Buch“ mit zukunftsfroher Begeisterung vorantreiben, nennt Knoche „Digitalfundamentalisten“. Nicht dass er prinzipiell gegen Strategien der Digitalisierung eingenommen wäre, aber das hier und da eingeschlagene „hohe Tempo“ hält er für „gefährlich“, zumal dann, wenn es von fortgesetzter Aussonderung der Buchbestände begleitet wird. Namentlich in den Hochschulbibliotheken, so der Befund, werden pro Jahr „knapp zwei Millionen gedruckter Bände in die Papiermühlen“ geschickt. Leidtragende derartigen Tuns sind die Geistes- und Kultur-, weniger die Natur-, Technik- und Medizinwissenschaften, deren „digitale Agenda“ auf jene übertragen wird, ohne nach Kollateralschäden zu fragen, denn dort benötigt man den ungehinderten „Zugriff auf die Texte der kulturellen Tradition“, und zwar im Original und nicht als digitales Surrogat. In Abwandlung eines wohlfeilen liberalen Wahlkampfspruchs schlägt Knoche einen alternativen Slogan vor: „Digital first. Mit Vernunft.“

Ein zweites Element der Beunruhigung ist „access“ beziehungsweise das, was seit Jahren als „open access“ propagiert wird. Träger dieser Bewegung sind wiederum die Hochschulbibliotheken, die von den exorbitanten Preisen für Zeitschriften-Abonnements bedrängt werden. Hier sind es wenige global agierende Konzerne, die im Feld der Naturwissenschaften die Szenerie beherrschen. Für den Jahrgang von „Cell“ beispielsweise, einem führenden Organ in den Biowissenschaften, verlangt der holländische Verlag Elsevier sage und schreibe 20.000 Euro. Dessen Marktmacht hat „open access“ allerdings nicht – wie erhofft – gebrochen, sondern gesteigert. Vollmundige Erklärungen von Open-Access-Initiativen, wie 2001 in Budapest und 2003 in Berlin formuliert, haben sich nicht bewahrheitet. Auch für den jederzeit freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bedarf es, wie sich zeigt, der Organisation und der Expertise der Verlage, die ihrerseits dazu übergegangen sind, die Autoren für die Veröffentlichung ihrer Artikel zahlen zu lassen, ein offenbar lukratives Geschäft, denn die Renditen der Unternehmen haben keineswegs gelitten. „Der goldene Weg des Open Access“, resümiert Knoche, „entpuppt sich als goldener Weg für die großen internationalen Verlage.“ Tröstlich immerhin ist, dass von diesen Entwicklungen die Geisteswissenschaften ungleich weniger betroffen sind. Hier dürften die herkömmlichen Publikationswege ihre Positionen auch weiterhin behaupten. Jedenfalls: „Die gedruckte geisteswissenschaftliche Monographie mit ihrer guten Verankerung im Wissenschaftssystem“, mahnt Knoche, „darf nicht vorsätzlich gefährdet werden.“

Im öffentlichen Bewusstsein war lange relativ unterbelichtet, dass Bibliotheken ebenso wie Galerien und Museen verpflichtet sind, über die Herkunft ihrer Bestände Rechenschaft zu geben. Zweimal nämlich haben sie von rechtswidrigen Aktionen in erheblichen Größenordnungen profitiert: von den Beutezügen der Nationalsozialisten im okkupierten Europa und der Enteignungspolitik in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR. Das heißt, die deutschen Bibliotheken sind nicht nur Opfer, die über Kriegsverluste zu klagen haben, sondern auch Täter mit einer Mitschuld am Raub von Kulturgütern. Was in dessen Gefolge entstanden ist, nennt Knoche „kontaminierte Sammlungen“. Provenienzforschung ist daher eine Notwendigkeit. Erschwert wird die Ermittlung der beraubten und enteigneten Besitzer allerdings dadurch, dass Bibliothekare (anders als ihre Kollegen in den Archiven) ihre Bestände nach Sachgesichtspunkten und nicht nach Provenienz ordnen. Es ist deshalb schwierig, den Objekten „ihre Biographie zurückzugeben“, den Vorbesitzern und deren Erben späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hinzu kommt, dass der Marktwert von Gedrucktem bei weitem nicht so spektakulär ist wie der von Kunstwerken. Selbst wenn sie weniger Aufmerksamkeit erfahren, führt jedoch nichts an der Einsicht vorbei, dass Bücher, „an denen Blut klebt, keine vertrauenswürdigen Gegenstände“ sind. Aus ihrer in dieser Hinsicht misslichen Lage können sich die Bibliotheken nur durch „umfassende und methodisch reflektierte Provenienzverzeichnung“ befreien.

Am Schluss des Essays steht das auch sonst schon im Text angeklungene Plädoyer für Vernetzung und Koordination, für ein gleichgewichtiges Neben- und Miteinander von digital und analog, für eine arbeitsteilige und gezielt organisierte Anschaffungspolitik unter den verschiedenen Bibliotheken, außerdem für den Aufbau eines „starken überregionalen Kompetenzzentrums“ für das deutsche Bibliothekswesen. Das erfordert zugleich, die dafür nötigen politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, an denen es bis heute mangelt. Nicht in Vergessenheit geraten sollte, dass „Flüchtigkeit, Nicht-Hierarchie, Ubiquität und Vernetzbarkeit“ als „Merkmale des Internets“ zu gelten haben, „Dauer, Ordnung, Kontext und Konzentration“ hingegen als die der Bibliotheken. „Gepriesen sei die Zeit“, so das Fazit des Autors, „die über beides verfügt und es kombinieren kann.“

Titelbild

Michael Knoche: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
138 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835332362

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