Gespür für das Unscheinbare

Nadja Küchenmeister hält das Leben in ihrem Gedichtband „Im Glasberg“ in alltäglichen Bildern fest

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer gerne Hölderlin und Rilke liest, ist nicht unbedingt auch ein Freund der jüngeren Dichtung in deutscher Sprache. Und wird sie doch auch nicht pauschal ablehnen, denn in der Lyrik des 21. Jahrhunderts, in der alles erlaubt ist, finden sich neben unerschöpflichen Dekonstruktionen und Neuerfindungen der Gattung immer auch Texte von Autor*innen, die sich wieder stärker auf die Tradition berufen. Zu welcher Sorte gehört nun der neuste Gedichtband der jungen, aber bereits mehrfach ausgezeichneten Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister?

Der Titel Im Glasberg verspricht zwar noch etwas von dem Zauber, den die Klassiker der deutschen Dichtung ihren Texten einzuhauchen wussten. Und auch das gleichnamige erste Gedicht scheint noch in dieser Tradition zu stehen – dicht sind in ihm bedeutungsschwere Motive (Sonne, Mond, Sterne, Brot und Wein, Ring, Schlüssel) aneinandergereiht. Doch schon das zweite Gedicht durchkreuzt diese Erwartung:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran ans wuhletal

Die Kulisse des geheimnisvollen Glasbergs weicht einem weitaus unspektakuläreren Schauplatz, der Stadt, schlimmer noch: Die Reise führt ins wenig poetisch anmutende Wuhletal. Mit diesem Schauplatzwechsel öffnet sich der Raum von Küchenmeisters Lyrik. Inspiration hat sie offensichtlich in den Gedichten Jürgen Beckers gefunden. Davon zeugen neben einem Motto, das dem Band vorangestellt ist, vor allem die Gedichte selbst: Die Alltagsgegenstände und alltäglichen Ereignisse, die in ihnen beschrieben werden, die apathische Sprache, die zahlreichen Nominalsätze, die wie Gesprächs- oder Gedankenfetzen wirken, und die vielen Enjambements lassen den Einfluss Jürgen Beckers erkennen:

helwichstorpp, erste erwähnung, was wissen wir denn
schon davon … überbackene nudeln und ein glas saft
der fernseher läuft seit einer stunde ohne ton

Küchenmeister scheut nicht davor, die Unscheinbarkeit ihrer Gedichtwelten noch durch Wiederholungsfiguren zu steigern. Gehören Bahnfahrten „entlang des strangs, die bahn / bleibt in der bahn“ nicht gerade zu den eintönigen Momenten im Leben, vor denen wir uns in Poesie zu flüchten versuchen? Viele Gedichte Im Glasberg führen in die entgegengesetzte Richtung. Und doch könnte ihre Sogwirkung kaum größer sein.

Wo Nadja Küchenmeister sich dem Nebensächlichen zuwendet, kommt in ihren Gedichten Wesentliches zum Ausdruck. Sie rückt Details in den Fokus, die kaum erwähnenswert scheinen, aber gerade dadurch einen unvergleichlichen Realitätseffekt haben. „du holst die kinokarten, bringst die flaschen / zum container“, heißt es in einem späteren Text und man kann diese Zeilen nicht lesen, ohne sich dabei an bestimmte Orte zu erinnern, an den Geruch von Popcorn und das Geräusch zerbrechender Flaschen im Altglascontainer. Diese Vertrautheit macht sich Küchenmeister zunutze. Wie das lyrische Ich sollen auch die Leser*innen der Gedichte ihre Umwelt neu kennenlernen, das Bekannte intensiv wahrnehmen und von ihm aus das Unbekannte ergründen. Das Gespür, mit dem Küchenmeister solche Motive auswählt, kommt ihr auch zugute, wo sie sich ernsteren Themen zuwendet: „an der garderobe / hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel / ohne muskeln“.

Auch die Gedichte Im Glasberg leuchten, aber unter einer trüben Oberfläche. Was unter ihr als verborgener Sinn aufzublitzen scheint, ziehen sie nicht selten selbst wieder in Zweifel: „ein schatten / unter der tischtennisplatte länger als ein nachmittag / schien nur die lebensdauer der laternen“. Bei dem Versuch, sie zu verstehen, sind wir auf uns allein gestellt. Immer wieder nutzt Küchenmeister solche Drehsätze und führt ihre Leser*innen durch Enjambements in die Irre. So gelingt ihr ein beeindruckender Spagat zwischen der auratischen Lyrik vergangener Jahrhunderte und der Skepsis, die heute einem solchen Schreiben entgegenschlagen muss.

Dieselbe Aufmerksamkeit, mit der sie das Leben in profanen Details und Metaphern ergründet, bringt Küchenmeister der Sprache entgegen. Durch Rhythmus und Satzbau lenkt sie den Blick ihrer Leser*innen auf das, was in scheinbar alltäglichen, manchmal fast tautologischen Beschreibungen durch ungewöhnliche Betonung oder eine Pause zum Ausdruck kommen kann: „jemand / in der leitung sagte, er sei du, das warst du.“ Nur selten meint sie es dabei zu gut: „leben ist genau // so lang, wie es ist … wie es ist, am leben / zu bleiben, weiß doch jedes kind“. Wenn man deshalb einmal einen Vers überfrachtet oder zu pathetisch findet, dann unter dem Eindruck der schlichten Eleganz der übrigen. Und einen wahren Kern haben sowieso auch sie.

Der Band ist in sieben Abschnitte unterteilt. Sie kreisen um Grundthemen wie Kindheit, Liebe und Tod. Eine Bahnfahrt zum Elternhaus eignet sich genauso, um sie zu entwickeln, wie Eindrücke von einer Reise nach Rumänien. Beim „trödeln am rand kleiner straßen“ in Bukarest etwa, dem ein Gedicht gewidmet ist, „zerbellen hunde eine stille / ohne stille“. Der besondere Sinn für unsere Umgebung, den wir beim Schlendern durch fremde Städte entwickeln, ist der poetische Blick, von dem Nadja Küchenmeisters Lyrik durchdrungen ist. Wer schon einmal von der Schönheit eines fremden Ortes überwältigt gewesen ist, wird ein ähnliches Gefühl beim Lesen dieser Gedichte haben.

Auch die Themen des Bandes entwickeln sich unterschwellig, von Text zu Text. Überall muss man genau hinschauen. Dass sich die intensive Lektüre lohnt, deutet die Dichterin an, indem sie zahlreiche Motive immer wieder aufgreift. Man muss nur wissen, wo man sucht, denn zu ihnen gehören Sonne und Mond ebenso wie eine Kommode, Hautschuppen und ein paar Unterhosen. Hat man seine Sinne erst auf diese subtilen Wiederholungen eingestellt, beginnt man, sie überall zu entdecken.

Sehr konsequent schöpft Küchenmeister die Möglichkeiten einer Poesie des Alltäglichen aus. Das Spektrum des Bandes ist allerdings breiter. Wo das lyrische Ich sich selbst mitteilen will, statt nur zu beobachten, rückt auch die betrachtete Umgebung in den Hintergrund. Diese Gedichte sollen durch ihre Sprache wirken, die in der Konsequenz entrückter und melodischer wird:

ist wie ein federkleid so leicht, das traurigumdichsein
ein in der sonne ausgestrecktes bein, mein blick reicht
nicht so weit, wie du in deinem nichthiersein vielleicht
ja meinst, mein blick hat keine strenge in der länge

Küchenmeisters stilistisches Repertoire reicht bis zu komischen Texten, die ganz von einer Lust am Sprachspiel bestimmt sind: „wer pfeift den flur entlang? / es ist der ordensmann, der sich an den orden hält / regeln aufstellt, einen orden, der aus ihm besteht“. Auch sie zeugen von Kreativität und Können ihrer Verfasserin. Man hätte sich allerdings gewünscht, dass sie an anderer Stelle veröffentlicht worden wären. Als Teile des Bandes mit seinem bei aller Unscheinbarkeit ernsten Fokus wirken sie etwas zu unbekümmert. Am anderen Ende des Spektrums stehen Gedichte wie „es beginnt, wo es endet“, das durch seinen philosophisch-reflektierenden Duktus auffällt. Küchenmeister hat es sinnigerweise ans Ende des Bandes gesetzt. Gravitätisch, aber nicht unpassend heißt es dort: „es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür.“

Nadja Küchenmeister ist in allen Aspekten ihres Schreibens authentisch: echten, oft flüchtigen Erfahrungen des Lebens verpflichtet und darauf bedacht, die Mittel der Poesie gezielt einzusetzen, um diese Momente einzufangen. Nicht einmal die konsequente Kleinschreibung kann man ihr als Attitüde ankreiden. Dafür passt das Schriftbild zu gut zu einer Lyrik, die aus dem Unscheinbaren schöpft. Den Band Im Glasberg kann man uneingeschränkt empfehlen, weil Küchenmeisters Gedichte gleichzeitig ganz einfach daherkommen und dabei doch an jeder Stelle virtuos und tiefschürfend sind.

Titelbild

Nadja Küchenmeister: Im Glasberg. Gedichte.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
101 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783895612275

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