„Lateinamerika hat die Tendenz, sich in Literatur aufzulösen“

Ein Gespräch mit Stefan Kutzenberger

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der österreichische Schriftsteller Stefan Kutzenberger ist ein Meister des autofiktionalen Romans. In seinem neuesten Buch Kilometer Null schickt er seine Figur ‚Stefan Kutzenberger‘ nun in ein Südamerika, das ausschließlich aus fiktionalen Städten aus der Weltliteratur zu bestehen scheint. Das Buch erzählt eine an die großen lateinamerikanischen Erzähler*innen anglegte Geschichte über die manchmal auch zerstörerische Kraft von Fiktion und ist gleichzeitig eine Hommage an die Literatur des Kontinents. Sascha Seiler sprach für literaturkritik.de mit dem Autor Stefan Kutzenberger über die Figur ‚Stefan Kutzenberger‘.

 

literaturkritik.de: Sie kommen ursprünglich aus der Literaturwissenschaft, sind Kurator und haben erst relativ spät begonnen, fiktionale Texte zu schreiben – oder zumindest zu publizieren. Wie kam es zu Ihrem ersten Roman Friedinger (2018)?

Stefan Kutzenberger: Ich habe gerade letztens meinen ersten Roman im Keller meiner Eltern gefunden. Den habe ich geschrieben, als ich vierzehn Jahre alt war. Dann kamen mit sechzehn, siebzehn die ersten Liebeskummerromane. Ich schreibe eigentlich schon mein ganzes Leben lang. Deswegen habe ich auch angefangen, Literatur zu studieren – weil ich mir mein Leben außerhalb der Literatur nur schwer vorstellen konnte. Es war eigentlich Feigheit, dass ich nie probiert habe, ein Manuskript wegzuschicken, da ich wusste, dass unangefragt zugesandte Manuskripte sowieso fast nie gelesen werden. Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien zu unterrichten und meine Arbeit als Literaturwissenschaftler im Allgemeinen machte mir ohnehin auch große Freude, und ich dachte, als Komparatist müsse man doch irgendwann Menschen aus dem Verlagswesen kennenlernen, was aber nie passiert ist. Der akademische Bereich und die Verlagswelt sind vollkommen voneinander getrennt, in zwanzig Jahren Tätigkeit als Literaturwissenschaftler gab es da keinerlei Berührungspunkte. 

Und dann war ich fünfundvierzig Jahre alt, hatte schon wieder einen Roman fertig geschrieben und habe mir gesagt, dass ich mich nicht mein Leben lang eigentlich als Autor sehen kann, aber nichts veröffentliche. Ich habe einen Brief an die Chefin des Deuticke Verlags in Wien geschrieben, weil ich fand, das sei der beste österreichische Literaturverlag. Darin schrieb ich, ich sei Literaturwissenschaftler und habe einen Roman fertiggestellt, und fragte, wie ich mich von der Masse der unverlangt eingesandten Manuskripte abheben könnte. Sie hat zurückgeschrieben: „Schicken Sie es mir persönlich“. Dann habe ich es ihr geschickt und zwei Wochen später kam eine Mail zurück, in der stand: „Wir nehmen es“. Ich habe mir also quasi zu Beginn der Midlife-Crisis meinen Lebenstraum erfüllt und darf seitdem Autor spielen. Das macht großen Spaß.

literaturkritik.de: Sie sind mit dem zweiten Buch Jokerman (2020) direkt beim Berlin Verlag gelandet. Wie kam es dazu?

Kutzenberger: Der Deuticke Verlag war eine Hanser-Tochter. Hanser hatte mit Zsolnay eine weitere Wiener Tochter und als die Verlagschefin von Deuticke in Pension gegangen ist, wurden diese beiden zu Zsolnay fusioniert, wodurch Deuticke praktisch aufgelöst wurde. Also stand ich, kurz nachdem ich mir meinen Traum erfüllt hatte, wieder ohne Verlag da. Das habe ich zum Anlass genommen, mir einen Agenten zuzulegen. Der hat mich an den Berlin Verlag weitervermittelt.

literaturkritik.de: Jokerman wurde mitten in der Pandemie veröffentlicht. Hat es der Rezeption des Buchs geschadet, dass Sie es nicht wie andere promoten konnten?

Kutzenberger: Ja. Man sieht das ganz deutlich, ich habe nämlich gerade die Verkaufsstatistik bekommen. Das Buch ist im August erschienen, und im August und September hat es sich richtig gut verkauft. Dann kam der zweite Lockdown, und mit ihm sind die Verkaufszahlen massiv heruntergegangen. Mit Lesungen war es auch sehr mühsam, die sind immer hin und her verschoben und dann abgesagt worden. Aber ich bin natürlich trotzdem froh, dass ich die Chance hatte, meine Bücher auf den Markt zu bringen, dass sie existieren. 

literaturkritik.de: Sie schreiben in einer Form, die in der Literaturwissenschaft gerne als ‚Autofiktion‘ bezeichnet wird, d. h. Sie schreiben eigentlich immer über diese Figur namens „Kutzenberger“. Wie kamen Sie dazu, dass Sie sich selbst bzw. diese (halb-)fiktionale Version von sich selbst als Hauptfigur nehmen?

Kutzenberger: Ich habe einen Nachbar, der Schreibschulen besucht und auch versucht, Schriftsteller zu werden. Er gibt mir immer wieder seine Manuskripte zu lesen. Einmal hatte er Eheprobleme, die fanden sich dann in sehr dünn verkleideter Form im Geschriebenen wieder. Ich habe ihm ehrlich gesagt, dass das keinen Menschen interessiert. Wenn man Eheprobleme hat, muss man das irgendwie anders aufarbeiten. Man kann nicht einfach sich selbst anders nennen, die Frau anders nennen und dann einen Roman darüber schreiben. Es wäre interessanter, das direkt anzusprechen und die Umstände anders zu zeichnen. Während ich das gesagt habe, bin ich darauf gekommen, dass das auch für mein eigenes Schreiben gilt.

Ich habe damals einen Krimi über Linz geschrieben, wo ich aufgewachsen bin. Meine Eltern sind nach Wien übergesiedelt, haben ihr Haus verkauft, und auf einmal gab es den Ort meiner Kindheit nicht mehr. Komischerweise hat es mich sehr berührt, dass diese Familienbasis nicht mehr da war. Das wollte ich literarisch aufarbeiten, und ich begann mit einem Krimi über meine Heimatstadt. Beim Schreiben habe ich aber gemerkt, dass irgendetwas nicht passt. Als ich dann zu meinem Nachbar gesagt habe, dass er sein Buch in der Realität verankern muss, weil es sonst niemanden interessiert, habe ich gemerkt, dass das genau das ist, was bei mir gefehlt hatte. Ich musste meine Geschichte in der Realität verankern, sonst würde sie ein fiktiver Luftballon bleiben. Also habe ich die Figur ‚Stefan Kutzenberger‘ eingeführt. Dadurch hatte ich einen Fuß in der Wirklichkeit und konnte umso lustvoller in die Fiktion abgleiten. Die Idee war, statt eine dünn verkleidete Version der Realität in der Fiktion zu schaffen, meine äußere Hülle zu nehmen – Name, Geburtsdatum, Beruf, Wohnort, das alles ist gleich –, diese Hülle aber mit neuen Inhalten zu füllen. Das ist ein Experiment: Ich habe diesen Kutzenberger als Figur, schicke ihn in die weite Welt und schaue, wie er reagiert, wenn er zum Beispiel in eine Krimi-Handlung verfrachtet wird. Oder in Jokerman in eine Thriller-Weltverschwörungshandlung. Oder bei Kilometer null nun sogar in einen Weltkrieg.

literaturkritik.de: Dadurch, dass die Figur in diese teils recht absurden Handlungen reingeschmissen wird, verschwimmt für den Leser auch zunehmend die Gleichsetzung von Ihnen als Autor und der Figur Kutzenberger. Ansonsten ist es bei Autofiktion häufig sehr schwer, als Leser eine Grenze zu ziehen, finde ich. Wo hört die Realität auf, wo fängt die Fiktion an? Das ist bei Ihren Romanen etwas einfacher. Wie nehmen Sie die Lesereaktionen darauf wahr?

Kutzenberger: Es sind ja nicht meine Romane absurd, sondern unsere Realität. Diese löst sich doch tatsächlich immer mehr auf, und die Grenze zur Fiktion, zu fake news, zur virtuellen Welt, zur plumpen Lüge, ist kaum mehr nachvollziehbar. Genau deshalb lasse ich in meinen Romanen eine Figur mit meinem Namen auf diesen schmalen Grat zwischen Realität und Fiktion balancieren, wobei die Welt der Literatur naturgemäß genauso real ist wie die sogenannte Wirklichkeit. Der Name ist ja wahrscheinlich das einzige Ding, was man problemlos aus der Realität in die Fiktion mitnehmen kann, ohne dass es sich verändert. Das macht dieses autofiktionale Spiel mit der Figur Kutzenberger auch so problematisch und unheimlich. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wo genau verläuft also diese Grenze? Sie ist doch immer verschwommen. Das Alltägliche ist oft Fiktion, und das Abstruse vielleicht sogar Realität. Ich habe mir vorgenommen, das nicht direkt zu beantworten. Obwohl ich selbst keine Hemmungen habe, mein Intimleben öffentlich zu machen. Aber man ist ja keine Insel, sondern mit anderen Menschen verbunden. Ich will meine Familie nicht in dieses Spielchen mit hineinziehen, das ich begonnen habe. Darum ist Kutzenberger in den Romanen ja gescheiterter Familienvater, ist geschieden, sieht seine Kinder kaum und hat keinen Kontakt zu seiner Frau. Das habe ich eigentlich gemacht, um die Familie zu schützen. Gerade das hat aber bei Freunden meiner Eltern zu Verwirrung geführt, sie sagten: „Was, der Stefan ist geschieden? Was ist da los?“ Es ist also ganz unterschiedlich: Die Leute, die mich gar nicht kennen, haben andere Probleme damit als die Leute, die mich und meine Familie gut kennen. Man merkt auch an den Fragen, die man gestellt bekommt, dass sich die Rezeption da völlig verschiebt. Auch geografisch: Je näher Sachen an meinem Lebensumfeld sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie als real gelesen werden, weiter weg wird es fiktiv. Es ist sehr interessant, wie diese Linien sich verschieben.

Meine Romane spielen aber vor allem Möglichkeiten durch, was man im echten Leben ja leider nie machen kann: Wie reagiert Kutzenberger, wenn ihm jemand mit einer Giftspritze in der Hand gegenübersteht? Wie handelt eine so alltägliche Figur in einer Extremsituation? Wie entwickelt sie sich dadurch? Das sind die Fragen, die beim Schreiben aufkommen. Ich bin da sehr instinktiv. Auch wenn es immer heißt ‚der Literaturwissenschaftler Stefan Kutzenberger‘, ich bin reiner Instinkt-Schreiber und lasse mich von der Geschichte treiben.

literaturkritik.de: Was mir in Kilometer null sehr gut gefallen hat, ist die Schlüsselszene, in der Kutzenberger in Ecuador ist, zwischen Riobamba und Guayaquil eine Serpentinenstraße entlangfährt und dabei fast tödlich verunglückt. Haben Sie diese Szene tatsächlich selbst erlebt? Aus der Szene heraus wird ja ein Großteil der Vorstellung von Fiktion entwickelt, die für das Buch eine Rolle spielt.

Kutzenberger: Das ist autobiografisch, ja. Es kann schon sein, dass das irgendwo der Ursprung des ganzen Romans ist. Wir sind damals in einem orangenen Käfer mit zwei Studienfreundinnen diese Serpentinenstraße runtergefahren, und plötzlich ist der Motor abgestorben und die Bremse hat versagt. Irgendwie ist es gut gegangen. Ich weiß nicht mehr, was eigentlich passiert ist. Aber ich kann mich noch erinnern, dass ich damals gesagt habe – weil wir echt nicht gewusst haben, wie wir das überstanden haben –, dass wir vielleicht gar nicht mehr leben. Schon damals haben wir überlegt, ob nicht vielleicht alles, was jetzt kommt, nur die letzte lange Sekunde vor dem Tod ist. Diese Gedankenexperimente haben wir also bereits als Zwanzigjährige durchgespielt. Dreißig Jahre später habe ich diese Idee jetzt in den Roman aufgenommen: Vielleicht ist es immer nur diese eine Sekunde vor dem Tod, die wir erleben. Und es ist alles nur Schein.

literaturkritik.de: Juan Carlos Onettis Das kurze Leben ist sicherlich ein großes Vorbild für dieses Buch? Die Form der Kapitelnamen ist ja sehr deutlich daran orientiert, auch dieses Konstruieren einer aus fiktiven Orten bestehende Parallelwelt. Gleichzeitig schafft  Kutzenberger es nicht, Onetti zu lesen, und als er endlich damit begonnen hat, wird er erschossen. Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Onetti?

Kutzenberger: Leider ähnlich, auch das ist autobiographisch. (lacht) Ich wäre so gern ein Ehrenbürger von Santa María, aber ich habe wirklich wenig Onetti gelesen, was eine Schande ist. Ich finde ihn als Person so großartig. Ich habe mehr über ihn gelesen als von ihm. Es gibt ja diese Schriftsteller, die einen als Person fast mehr faszinieren. Das kurze Leben habe ich schon gelesen, einige Erzählungen und El astillero, aber das war es.

Zu den fiktiven Orten: Die waren der eigentliche Ausgangspunkt des Romans. Vor einigen Jahren war der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee in Österreich und ich hatte die Möglichkeit, mit ihm einen Tag in Wien zu verbringen. Ich war mit ihm im Leopold Museum, wo ich auch immer wieder Mitarbeiter war, und habe ihm die Wien 1900-Ausstellung gezeigt. Das war für mich ein großes Erlebnis. Ich hatte schon viel von ihm gelesen, er ist einfach ein ganz großer Schriftsteller. Auch eine interessante Persönlichkeit, die alles sehr ernst nimmt. Es war sehr schwer, Smalltalk mit ihm zu führen, weil jede noch so harmlos gemeinte Frage ihn in existentielle Krisen gestürzt hat und er versucht hat, ganz genau zu antworten und ja nichts Falsches zu sagen. Das war ein tolles Erlebnis, und wir haben uns schließlich gut verstanden und den ganzen Tag miteinander verbracht. Danach habe ich gedacht, jetzt muss ich auch die letzten Bücher von ihm lesen. Zu dem Zeitpunkt ist gerade seine Jesus-Trilogie erschienen. Das sind ganz seltsame Werke, sehr parabelhaft, und es ist auffällig, dass Jesus darin gar nicht vorkommt. Es ist so ein Fall, in dem der Titel die ganze Rezeption verändert. 

Der erste Band beginnt in Lateinamerika in einem Flüchtlingslager in einer Stadt namens Novilla. Ich fand es großartig, wie er da eine fiktive lateinamerikanische Stadt errichtet. Ich habe ihn angeschrieben und ihn gefragt, ob ich mir diese Stadt ausborgen darf und auch eine Geschichte dort erzählen darf. Er hat sofort zurückgeschrieben und das Vorhaben unterstützt. Er meinte: „Die Literatur ist frei, nimm dir die Stadt, die Personen und mach etwas daraus.“ Ich habe also quasi von einem Nobelpreisträger den Auftrag bekommen und kam da so leicht nicht mehr heraus. Da hat es angefangen, dass ich dachte, ich könne den Kutzenberger in ein fiktives Lateinamerika schicken, ohne dass er weiß, dass es fiktiv ist. Ich habe darüber nachgedacht, was es sonst noch für fiktive lateinamerikanische Städte gibt, und da ist natürlich Santa María gekommen, Macondo von Gabriel García Márquez, wahrscheinlich die berühmteste, Costaguana von Joseph Conrad, aber auch La Matosa aus Saison der Wirbelstürme (2017) von der jungen Mexikanerin Fernanda Melchor. Es gibt so viele fiktive lateinamerikanische Orte, dass das eigentlich ja auch etwas bedeuten muss. Dass Lateinamerika irgendwie die Tendenz hat, sich in Literatur aufzulösen. Das war der Ausgangspunkt der Entstehung des Buchs.

literaturkritik.de: Ich finde, das setzt sich zu einem ganz intelligenten Spiel mit unheimlich vielen Motiven aus der lateinamerikanischen Literatur zusammen, die allerdings für den gemeinen Leser – selbst für den in der Richtung gebildeten Leser – nicht unbedingt immer so zugänglich sind. Glauben Sie, dass es da ein gewisses Rezeptionsproblem mit dem Roman geben könnte? Auf der einen Seite ist es ja ein Unterhaltungsroman, in dem Sinne, dass es spannend ist, eine mitreißende Handlung hat etc., auf der anderen Seite ist es ein sehr komplexes literarisches Vexierspiel. Oder glauben Sie, dass man das Buch auch gut lesen kann, ohne die Verweise zu verstehen?

Kutzenberger: Ich hoffe es. Ich habe öfters gehört, dass man spürt, dass viele Anspielungen drinnen sind, die man nicht versteht, dass das aber nichts ausmacht, denn das Buch funktioniert auch so, ist auch so spannend und interessant. Das sind natürlich schöne Rückmeldungen. Literatur muss ja immer auf mehreren Ebenen funktionieren. Sonst wäre sie auch gar keine Literatur.

literaturkritik.de: Sie arbeiten sowohl mit sehr direkten Verweisen als auch mit eher gröberen Parallelen. Beispielsweise das Kapitel mit dem Israeli, der seine Geschichte erzählt, hat mich stark an Roberto Bolaño erinnert, weil plötzlich eine Figur auftaucht, die eigentlich gar keine Rolle spielt, und eine Geschichte erzählt, die noch gar keine Relevanz hatte, in sich aber schon kongruent und spannend ist und die dann mittendrin aufgebrochen wird. Haben Sie so etwas bei dem Kapitel auch im Kopf gehabt?

Kutzenberger: Bewusst nicht, aber Bolaño ist neben Jorge Luis Borges sicher der Autor, der mich am meisten beeinflusst, begeistert und mein Leben als Leser bestimmt hat. Bolaño wird man also, wenn man ihn selbst gerne liest, ab und zu durchspüren, ob ich das will oder nicht. Weil er mich als Leser so beeinflusst hat, hat er mich vermutlich automatisch auch als Schreiber beeinflusst. Und an das System Bolaño habe ich beim Schreiben oft gedacht: Daran, dass er einer der größten Meister des Erzählens ist und dass er mit dieser Begabung teils so achtlos umgeht. Dass er etwas zu erzählen beginnt, und es bewusst wieder boykottiert, torpediert. Ich musste daran denken, dass es im Leben eben auch häufig so ist, dass Geschichten stehen bleiben, man sie aus den Augen verliert. Dass Geschichten nicht immer ein Ende haben.

literaturkritik.de: Wobei das Ende Ihres Buches natürlich ganz anders funktioniert, da kommen alle Fäden noch einmal zusammen.

Kutzenberger: Ich hatte bis zum Schluss keine Ahnung, wie das Buch ausgehen wird. Ich habe schon mit dem Rücken zur Wand geschrieben, weil ich wusste, dass es auf das Ende zugeht, ich aber noch nicht wusste, wie dieses Ende sein wird. Kurz hatte ich auch überlegt, ob ich es offen lassen soll, aber letztendlich wollte ich doch, dass die Fäden zusammen finden und es ein echtes Ende gibt, im weitesten Sinne sogar ein Happy End. Das war auch eine meiner schönsten Schreiberfahrungen, wie es plötzlich gelungen ist, dass alles doch wieder aufgegriffen wird und Sinn ergibt. Es hat sich ein richtiges Hochgefühl daraus ergeben, dass der orangene Käfer vom Anfang wieder auftaucht, genau wie der Israeli, der dann eine zentrale Rolle spielt, und alles plötzlich mit allem verbunden ist. Genau so, wie es sein soll.

literaturkritik.de: Aber ist es nicht blöd, sich am Ende des Romans selbst sterben zu lassen?

Kutzenberger: Ja, sehr blöd ist das. Und nicht nur am Ende, sogar eigentlich schon im ersten Satz. Wie gesagt, ich bin ein sehr instinktiver Schreiber. Ich habe den ersten Satz geschrieben und war begeistert und bin während des zweiten Satzes darauf gekommen, dass Kutzenberger dadurch ja sterben muss. Und dass ich auch keinen Erzähler mehr habe. Die anderen beiden Bücher waren ja noch in Ich-Form geschrieben. Diese Änderung hat mir dann aber einen Riesenspaß gemacht, weil diese Figur des Erzählers, der kein Autor ist und der noch nie einen längeren Text geschrieben hat, so viele Möglichkeiten bietet, das Erzählen selbst zu thematisieren und den Erzähler als zweiten Protagonisten aufbauen zu können. Mir kommt es so vor, als sei der neue Erzähler der bessere Schriftsteller, er hat eine schönere Sprache als der Kutzenberger der ersten beiden Romane. Darüber hinaus habe ich mir gedacht, dass ich nicht mein Leben lang Kutzenberger-Romane schreiben kann, auch wenn das zu einer Art Markenzeichen geworden ist. Wie Sie sagten, die Literaturkritik springt darauf an und nennt es Autofiktion. Aber das geht nicht ewig, also habe ich Kutzenberger geopfert, ohne zu wissen, wie es weitergeht. Kurz war ich auch wirklich verzweifelt. Ich glaube ja an die Literatur, an die Kraft der Literatur, und wenn ich Kutzenberger jetzt in der Literatur umbringe, habe ich etwas Angst, dass damit mein tatsächliches Leben als Autor wieder zu Ende ist und mir nichts mehr einfällt. Aber natürlich geht es weiter, es geht immer weiter. Das nächste halbe Jahr übersetze ich nun ohnehin einen Roman aus dem Spanischen für den Berlin Verlag, was eine schöne und demütige Arbeit ist, ein Dienst an der Literatur. Ein Drahtseilakt zwischen Treue und Lesefluss. Lästige, aber schöne Arbeit.

literaturkritik.de: Können Sie schon verraten, was Sie übersetzen?

Kutzenberger: Ja, Kirmen Uribe, ein baskischer Schriftsteller. Er hat einen autofiktionalen Roman geschrieben, der gleichzeitig ein historischer Roman über eine Friedenskämpferin aus dem Ersten Weltkrieg ist. Rosika Schwimmer heißt sie. Er verwebt die historische Seite sehr schön mit den autofiktionalen Spielereien. Das könnte auch auf Deutsch gut funktionieren.

Titelbild

Stefan Kutzenberger: Jokerman. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2020.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014245

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stefan Kutzenberger: Friedinger. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2018.
255 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552063648

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stefan Kutzenberger: Kilometer null.
Berlin Verlag, Berlin 2022.
400 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014412

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