Gemeinsam denken

Bruno Latour denkt über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik nach

Von Michael FaciusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Facius

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat ein wenig gedauert – etwa sechs Jahre – bis zur Fertigstellung der Übersetzung von Bruno Latours lateinisch betiteltem Werk Cogitamus über die Beziehung von Wissenschaft und Politik im Anthropozän. In der Zwischenzeit hat er sich in Jubilieren (2011) mit der Frage der religiösen Rede in der Gegenwart bereits einem weiteren heftig umkämpften Thema gewidmet. Der zeitliche Abstand zur Originalveröffentlichung 2010 könnte durchaus problematisch sein, geht es in diesem Beitrag doch auch um tagesaktuelle Probleme. Latours zentraler Aufhänger ist „Climategate“, ein Vorfall, bei dem E-Mails von Klimaforschern gehackt wurden, und das darauffolgende Scheitern der Kopenhagener Klimaverhandlungen Ende 2009. Das Buch wirft jedoch grundsätzlichere Fragen auf, die weit in die Geschichte zurück- und über den unmittelbaren Horizont seiner Entstehung hinausweisen.

So wird es Leserinnen und Leser, die zum ersten Mal ein Buch Latours aufschlagen, vielleicht überraschen, dass es auch um Isaac Newtons tausendseitige Abhandlungen über Engel, Archimedesʼ Beitrag zum Verteidigungswesen und andere Arkana der Wissenschaftsgeschichte geht. Genau diese Spannung, könnte man sagen, ist der Kern von Latours Argument: dass sich Erkenntnis nicht von Politik, noch die trockenste und anwendungsfernste Wissenschaft nicht von gesellschaftlichen Zusammenhängen trennen lässt – und noch nie trennen ließ. Dem „cogito ergo sum“ René Descartesʼ, das für die Entmaterialisierung des wissenschaftlichen Denkens steht und das die strikte Absonderung der reinen Wissenschaft von den schmutzigen Aushandlungsprozessen der öffentlichen Sphäre markiert, wirft Latour ein „cogitamus“ entgegen, ein Denken im Plural, das in seine systematischen Operationen eine Vielzahl von Akteuren mit einbezieht.

Der Klappentext verspricht, das Buch liefere eine Einführung in Latours komplexe Theorie, und es lässt sich durchaus so lesen: als ein Panorama seines vielfältigen Schaffens der letzten Jahrzehnte. Es fährt Vertrautes wie seine Konzeption von Übersetzungen und Kompositionen, seine Studien zur Geschichte und wissenschaftlichen Funktion des Labors oder auch das Parlament der Dinge auf. Bei aller Konzentration, die es seinen Leserinnen und Lesern abverlangt, ist es vergleichsweise zugänglich geschrieben, richtet es sich doch in der Form von sechs Briefen an eine imaginäre deutsche Studentin, die Latours Vorlesungen verpasst und der er deswegen die wichtigsten Punkte schriftlich zusammenfasst.

Der imaginäre Ausgangsfrage der Studentin, ob Wissenschaft sich nicht in einer völlig unabhängigen Sphäre bewege, begegnet Latour durch die Beschreibung der vielen notwenigen Umwege durch andere gesellschaftliche Bereiche, die Wissenschaftler vollziehen müssen, um ihre Forschung überhaupt betreiben zu können. Archimedes musste erst dem Herrscher von Syrakus vorführen, dass seine Berechnungen zur Hebelwirkungen zur Verteidigung der Stadt gegen die Römer eingesetzt werden konnte, bevor er sich der reinen Forschung widmen konnte. Erst der Umweg über die Politik, in Latours Worten eine Übersetzung der ursprünglichen Forschungsabsicht, die sie Sponsoren, Regierungen und Kollegen schmackhaft macht, ermöglicht ihre Umsetzung in die Tat. Die Selbstdarstellung der Wissenschaft nach Descartes als bloße Entdeckerin immer schon gültiger universeller Gesetze erklärt er deswegen für hinfällig und insistiert, dass es diese Gesetze ohne die kleinteilige Arbeit im Labor, am Teleskop oder an Gleichungen gar nicht gäbe.

Die Verflechtung von Wissenschaft/Technologie und Gesellschaft skizziert Latour anschließend in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Während Paviane einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit darauf verwenden müssen, ihre sozialen Beziehungen durch direkte Interaktion zu pflegen und aufrechtzuerhalten, hat der Mensch dafür Technologien und Hilfsmittel entwickelt, die Vermittlungsfunktionen wahrnehmen. Diese Vermittlungsfunktionen sind unsichtbar, so lange die Werkzeuge reibungslos funktionieren. Erst in dem Moment, in dem ein Laptop nicht mehr reagiert oder ein Flug wegen technischer Probleme ausfällt, werden wir uns wieder der immensen persönlichen und gesellschaftlichen Leistungen bewusst, die sie erbringen. Nur diese alltägliche Unsichtbarkeit kann erklären, wie sich die Erzählung verbreiten konnte, der Mensch habe sich im Lauf der Geschichte von seiner natürlichen Umgebung emanzipiert. Latour liest die Geschichte von Ötzis Rucksack bis Facebook dem entgegen als einen Prozess stetig zunehmender Intimität von Mensch, Natur und Technik.

In den beiden letzten Briefen wird erkennbar, dass es Latour nicht einfach um einen wissenschaftsgeschichtlichen oder -theoretischen Beitrag geht, sondern auch um eine politische Intervention. Er formuliert dort einen Aufruf zu einer radikalen Veränderung des politischen Diskurses, also des Gesprächs zwischen Politikern, Wissenschaftlern, Experten und einer breiteren Bevölkerung.

Wenn wissenschaftliche Rationalität nicht in der Natur selbst begründet liegt, sondern durch Aushandlung zwischen WissenschaftlerInnen, den Dingen und der Gesellschaft hergestellt wird, lässt sich nämlich die strenge Abgrenzung zwischen diesen Bereichen und damit ihre Aufgabenteilung nicht aufrechterhalten. Politiker, die Klimapolitik mit Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse als alternativlos durchzusetzen versuchen, und Wissenschaftler, die sich mit Verweis auf die Reinheit der Forschung aus gesellschaftlichen Debatten heraushalten, folgen einer Denkweise, die sich zugleich als erkenntnistheoretisch obsolet und angesichts der gesellschaftlichen Realitäten unhaltbar erweist. Klimawandel geht anders als der Fermatʼsche Satz oder Newtons angeologische Abhandlungen nicht nur einen esoterischen Zirkel von Eingeweihten an, sondern potenziell alle. Das gilt erst recht in Zeiten, in denen internetbasierte Technologien von Twitter bis zu Wikileaks praktisch jeder und jedem die Teilnahme an der politischen Debatte wie auch an der Sammlung und Auswertung von Daten ermöglicht.

Angesichts neuer Entwicklungen wie der „Filterblase“ der sozialen Netzwerke, gezielter Desinformation durch „Fake News“ oder Big-Data-basierter politischer Einflussnahme sieht man die Potenziale des Internets heute vielleicht skeptischer als vor sechs Jahren. Auch Latour macht sich keine Illusionen darüber, dass es uns automatisch mit heilsbringenden Technologien segnet. Es geht ihm nicht darum, „per Referendum über den anthropogenen Ursprung des Klimawandels“ zu entscheiden. Doch mag er in der Angst vor der Masse auch keine Lösung für das grundlegende Problem erkennen.

Die Wissenschaftler, die in der Klimadebatte „Skeptiker“ und „Leugner“ als Schimpfworte benutzen, verfehlen nach Latour jedenfalls ihre Aufgabe. Mit dem deutschen Biologen Jakob von Uexküll besteht er darauf, dass jedes Lebewesen seine eigene Welt erzeugt, wir gewissermaßen nicht in einem Uni- sondern einem „Pluriversum“ leben. Der von allen geteilte Kosmos kann nicht einfach vorausgesetzt, sondern muss erst geschaffen werden. Anstatt zu versuchen – offensichtlich ohne große Wirkung auf die so betitelten Skeptiker –, mit Verweis auf die angeblich überlegene Rationalität ihrer Methoden abweichende Meinungen ruhigzustellen, müssten sie durch bessere Daten und bessere Überzeugungskünste Konsens erst erzeugen. Die Software und die Plattformen, die das Internet zur Verfügung stellt, enthalten das Versprechen, diesen auf eine breitere Basis zu stellen als jemals zuvor. In der stetigen Verbesserung digitaler Werkzeuge sieht Latour den einzigen Weg, durch gemeinsames Rechnen („computemus“) und gemeinsames Denken zu einer geteilten Welt gelangen.

Als Mitbegründer des Felds der „Science and Technology Studies“ und als Verfechter von „exakten Humanwissenschaften“, wie er in diesem Band formuliert, hat Latour keine schnellen Rezepte für die großen Probleme unserer Zeit anzubieten. Im Gegenteil lautet seine Empfehlung: Umwege statt Abkürzungen, Kontroversen statt dem Pochen auf Fakten. Im zunehmend polarisierten politischen Klima dieser Tage klingt das wenig verlockend. Doch wenn nach der Lektüre dieses Buches etwas deutlich wird, dann vielleicht dies: dass einfache Lösungen und endgültige Wahrheiten immer schon eine Illusion waren.

Titelbild

Bruno Latour: Cogitamus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
213 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518260388

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