Marcel Reich-Ranicki über Ingeborg Bachmann – in einer Sonderausgabe von literaturkritik.de

Der 50. Todestag von Ingeborg Bachmann am 17. Oktober 2023 ist ein Anlass, eine Sammlung von Marcel Reich-Ranickis Publikationen über die Autorin neu zu veröffentlichen, zunächst als digitale „Sonderausgabe“ von literaturkritik.de, bald auch in einer gedruckten Ausgabe. Reich-Ranicki hat sich sein ganzes Kritiker-Leben lang mit ihr befasst, ihre Bücher oft kritisiert, aber vor allem ihre Lyrik vielfach bewundert. In seiner Autobiographie Mein Leben widmet er ihr in dem Kapitel „Die ,Gruppe‘ 47 und ihre First Lady“ etliche Seiten, berichtet, dass er schon in Polen einiges von ihr gelesen hatte, und erzählt dann:

Ich habe Ingeborg Bachmann zum ersten Mal 1959 gesehen, auf der Tagung in Schloß Elmau. Sie war längst berühmt, sie hatte 1953, damals 27 Jahre alt, den Preis der „Gruppe 47“ erhalten. War man sich schon bewußt, daß man es mit der vielleicht bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerin unseres Jahrhunderts zu tun hatte? Jedenfalls wurde sie mit besonderem Respekt behandelt. Sicher ist ferner, daß sie viele Menschen faszinierte, zumal Intellektuelle unterschiedlichen Alters. In manchen Zeitungen konnte man lesen, sie sei die „First Lady“ der „Gruppe 47“.
Auf Schloß Elmau las sie ihr Prosastück „Alles“. Sie wirkte nervös und zerstreut. Bevor sie zu lesen begann, fiel ihr ein Teil des Manuskripts auf den Boden. Drei Herren stürzten nach vorn, um die Blätter rasch einzusammeln und sie vorsichtig auf den Tisch zu legen, an dem die Dichterin saß. Es wurde ganz still im Saal, manche fürchteten, daß es ihr die Sprache verschlagen habe. Schließlich war ihre Stimme doch zu hören.

Die folgenden fünf Seiten über sie enden mit den Sätzen:

Als Ingeborg Bachmann […] 1973 unter nie ganz geklärten Umständen starb, bat man mich einen Nachruf zu schreiben. Er endete mit dem Bekenntnis, daß ich einige Gedichte aus ihren Sammlungen „Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des Großen Bären“ zu den schönsten zähle, die in diesem Jahrhundert in deutscher Sprache geschrieben wurden. Ich fragte mich, schuldbewußt, warum ich dies ihr, Ingeborg Bachmann, nie gesagt hatte.

Reich-Ranicki, der ehemalige Kritiker in der Gruppe 47, wurde einige Jahre nach Bachmanns Tod Sprecher der Jury in einem Literaturwettbewerb nach dem Vorbild der Gruppe 47 – in der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises.

Thomas Anz