„Menschheitsdämmerung“

Rückblick auf eine Reclam-Ausgabe von 1968 in der DDR

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Vor hundert Jahren, Ende des Jahres 1919, erschien die Lyrik-Sammlung Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung im Rowohlt Verlag. Der Herausgeber Kurt Pinthus (1886-1972) betonte in seinem Vorwort Zuvor, dass es keine Anthologie ist, die den „pädagogischen Ehrgeiz hat, Musterbeispiele guter Poesie zu bieten“. Bereits der Titel markierte die Untergangsvisionen und die Aufbruchshoffnungen der damaligen Zeit. Es sollte eine „Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche“ darstellen. Und so präsentierte die Sammlung knapp 300 Gedichte von dreiundzwanzig dem Expressionismus zugezählten Autoren unter vier thematischen Gesichtspunkten („Sturz und Schrei“, „Erweckung des Herzens“, „Aufruf und Empörung“ und „Liebe den Menschen“) und sah im „motivischen Zusammenklingen“ ganz unterschiedlicher Stimmen die Gesamtheit eines „lyrischen Orchesters“.

Mit der Gedichtsammlung offenbarte sich ein äußeres und inneres Bild des Jahrzehnts 1910-1920, das vor allem durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges geprägt war. Von den dreiundzwanzig Dichtern fielen bereits vier in den Schützengräben: Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz, Ernst Stadler und August Stramm. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 mussten neun (Johannes R. Becher, Albert Ehrenstein, Yvan Goll, Jakob von Hoddis, Else Lasker-Schüler, Rudolf Leonhard, Karl Otten, René Schickele, Franz Werfel) und Kurt Pinthus selbst emigrieren, Walter Hasenclever und Alfred Wolfenstein verübten Selbstmord und die Daheimgebliebenen wurden als entartet und unerwünscht zum Schweigen verurteilt.

Bereits zwischen 1920 und 1922 erreichte Menschheitsdämmerung vier Auflagen mit 20.000 Exemplaren. Der unerwartete Erfolg veranlasste Pinthus, die Sammlung unverändert zu lassen, da sie „nicht nur ein geschlossenes, sondern ein abgeschlossenes, abschließendes Dokument dieser Epoche ist.“ Die 1922er-Auflage sollte allerdings die letzte in den Weimarer Jahren bleiben. 1959, zum 40jährigen Jubiläum der Lyriksammlung, veranlasste der fast achtzigjährige Kurt Pinthus „als einer der letzten Überlebenden jener Generation“, eine Neuausgabe der Menschheitsdämmerung als Rowohlt-Taschenbuch, in der er auch in mühevoller Sucharbeit die Lebensdaten und Veröffentlichungen der Dichter zusammengetragen hatte. Außerdem bestand er darauf, dass auch die Gedichte der Erstausgabe, die später durch „andere der gleichen Dichter (auf deren Wunsch) ersetzt worden waren, wieder eingefügt“ wurden. Mit diesem Neudruck vor sechzig Jahren wurden die expressionistischen Lyriker wieder ins Bewusstsein zurückgeholt und waren dank ständiger Nachauflagen des Taschenbuches für neue Lesergenerationen bis heute verfügbar. Zum 100jährigen Jubiläum hat Rowohlt nun eine bibliophile Ganzleinenausgabe mit einem Nachwort von Florian Illies vorgelegt.

Wenige jedoch wissen – selbst das vielwissende Wikipedia nicht –, dass auch in der DDR die Lyriksammlung verlegt wurde: 1968 – gewissermaßen am Vorabend des 50jährigen Jubiläums als Band 404 in Reclams Universal-Bibliothek (Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig). Eine zweite Auflage folgte allerdings erst 1986. Während sich die 1968er-Ausgabe noch mit einem schwarzen Frontbuchdeckel von den RUB-Bänden abhob, erschien die 1986er-Ausgabe im Reclam-üblichen hellbraunen Outfit.

Der Theater- und Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei (1927-2014) hatte die Reclam-Ausgabe mit einer 20 Seiten umfassenden Einleitung versehen. Zunächst skizzierte er den weiteren Werdegang einiger Dichter: Becher und Leonhard etwa schlossen sich später der revolutionären Arbeiterklasse an, während Werfel, Lasker-Schüler und Heynicke auf der Suche nach einem Gott waren. Trotz aller Unterschiedlichkeit blieb für Mittenzwei der Grundtenor in Menschheitsdämmerung aber „stets menschenfreundlich, humanistisch“. Mit einer Ausnahme: Gottfried Benn, der mit seiner Lyrik der „schrankenlosen Menschenverachtung und Menschenverneinung“ und als ehemaliger Wehrmachtsarzt bis zum Ende der 1960er Jahre ein „unerwünschter Autor“ in der DDR war. Erst danach begann die marxistische Literaturgeschichtsschreibung, sein Werk positiver zu würdigen, und vereinzelt tauchten seine Gedichte auch in Anthologien auf.

Unter der Überschrift Expressionismus – Schlagwort oder Programm? versuchte Mittenzwei den Begriff „Expressionismus“ zu definieren. Dessen Wesen musste man seiner Ansicht nach aus den „eigenartigen gesellschaftlichen Bedingungen und aus der Zusammenballung verschiedener Tendenzen der historischen Phase zwischen 1910 und 1920 ableiten.“ Obwohl die sozialkritischen Motive der expressionistischen Dichtung nicht zu übersehen waren, setzte seiner Einschätzug nach erst die Oktoberrevolution  einen „Neuorientierungsprozess“ in Gang, der faktisch zum Zerfall des Expressionismus führte. Mittenzwei warf den Expressionisten vor, sie hätten nicht erkannt, dass die eigentliche Menschwerdung erst mit dem Sturz des kapitalistischen Systems möglich war. Ihre Bewegung drang nicht sehr weit „über einen kleinen Kreis von Intellektuellen“ hinaus. Aus der expressionistischen Dichtung sprach zwar die Ahnung und Erwartung kommender Umwälzungen, aber noch nicht die „Stimme der Revolution“. Ihr Protest erschöpfe sich „weitgehend in einer Antibürgerlichkeit“.

Auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit des Expressionismus („Ich schwöre ab: / Jegliche Gewalt“, dichtete René Schickele), das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch stärker in Erscheinung trat, hielt Mittenzwei für falsch. Das angestrebte Lebensideal „tolstoischer Prägung“ sei eine unklare, unpolitische Vorstellung, die der Frage, wie die alte Macht zu stürzen sei, ausweicht. Abschließend setzte sich Mittenzwei kritisch mit der Sicht der marxistischen Literaturwissenschaft auf den Expressionismus auseinander, die wesentlich von dem ungarischen Philosophen und Literaturkritiker Georg Lukács (1885-1971) geprägt wurde. Lukács hatte den Expressionismus in seiner Generalabrechnung Größe und Verfall des Expressionismus (1934) unter drei Aspekten angegriffen: als eine literarische Ausdrucksform der USP-Ideologie in der Intelligenz, als Ablenkungsideologie im revolutionären Kampf und als Vorbereiter für den Faschismus. Die rebellischen Auflehnungsversuche bezeichnete er als subjektive Momente, die vom Klassenkampf abgelenkt hätten. Mittenzwei nahm in wesentlichen Teilen Stellung gegen diese dogmatische Sichtweise. Allein die „klassenmäßigen Erkenntnisschranken“ der Expressionisten ließ er gelten.

Einer der entschiedensten Gegner der Position von Lukács war übrigens Bertolt Brecht: „Ich selbst war nie ein Expressionist, aber solche Kunstrichter ärgern mich.“ Erst in den 1950er Jahren ließ der Einfluss der Expressionismuskritik von Georg Lukács auf die marxistische Literaturgeschichtsschreibung nach. Man bemühte sich, so Mittenzwei, um eine Analyse, die die historischen Bedingungen berücksichtigte, und um eine Anerkennung der humanistischen Wesenszüge des Expressionismus, auch wenn dieser „keine direkten Anknüfungsmöglichkeiten“ für die neue, sozialistische Literatur bot.

Eine persönliche Anmerkung: Als junger Student und Lyrikfreund habe ich die Reclam-Ausgabe von 1968 verschlungen und dabei die Einleitung überblättert, wie man es meist mit ideologisch gefärbten Vorworten gemacht hat. Es kam auf den Inhalt an und so war Menschheitsdämmerung der Anfang einer bis heute andauernden Beschäftigung mit der expressionistischen Lyrik – besonders von Paul Zech, Alfred Wolfenstein, Ernst Stadler, August Stramm und (ja auch) Johannes R. Becher.