Nachtstücke in Wolfgang Hilbigs Manier

Clemens Meyers drei Erzählungen in dem schmalen Band „Stäube“ führen in den Untergrund

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So wie mit den Schneeflocken, von denen Leser seit Peter Høegs Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee von 1992 wissen, wie unterschiedlich sie sein können, ist es auch mit dem Staub. „Es gibt so viele verschiedene Sorten Staub, ganz feinen weißen, auch schwarzen aus Kohle, mancher schmeckt bitter, anderer süß; als ich ganz klein war, kannte ich sie alle“, lässt Clemens Meyer eine seiner Figuren in Wo die Drachen wohnen sagen, der letzten von drei neuen Erzählungen im vorliegenden schmalen Sammelband. Stäube hat Meyer ihn, die Erkenntnis dieser Figur verallgemeinernd, schlicht überschrieben. Und staubig geht es in der Tat zu auf seinen Seiten.

Nun weiß, wer sich ein bisschen mit der DDR-Literatur auskennt, dass diese, wo die Oberfläche des Landes mit Parolen und dubiosen Erfolgsmeldungen verstellt war, gern in die Tiefe auswich und dort nach Erkenntnissen schürfte. Franz Fühmann (1922–1984, Im Berg, 1991 aus dem Nachlass), Wolfgang Bräunig (1934–1976, Rummelplatz, Erstausgabe 2007), Horst Salomon (1929–1972, Katzengold, Schauspiel, 1964) oder Wolfgang Hilbig (1941–2007, Alte Abdeckerei,1991) – um nur die bekanntesten literarischen „Bergleute“ aus dem Osten zu erwähnen – wurde sowohl von ihrer eigenen Biografie als auch von ihrem Bemühen, der Gesellschaft, in der sie lebten, auf den Grund (in die Tiefe) zu gehen, die Richtung vorgegeben. Ihnen ist nun der 1977 in Halle an der Saale geborene und heute im benachbarten Leipzig lebende Clemens Meyer gefolgt. Und auch seinem Eindringen in die Tiefe der Erde korrespondiert ein Ausmessen des Inneren seiner Figuren.

Die den Band eröffnende Geschichte Die Glocken erinnert ein wenig an Wolfgang Hilbigs Erzählung Die elfte These über Feuerbach aus dem Band Grünes grünes Grab (1993). Hier wie da ein Mann, der durch die unwirkliche Landschaft aufgegebener Tagebaue per Taxi dorthin unterwegs ist, wo er einst zuhause war. Doch während Hilbigs autobiographisch inspirierter Erzähler von Leipzig nach M. (Meuselwitz, die Kleinstadt, in der er aufwuchs) unterwegs ist, um sich in seiner Funktion als Schriftsteller auf eine Podiumsdiskussion zu Marx’ berühmter Feuerbach-These und der Frage, was von den einstigen Utopien übrig geblieben ist, vorzubereiten, fährt Meyers Protagonist an Heiligabend zurück in den Ort seiner Kindheit, um seine Mutter zu überzeugen, ihre mitten in der Trostlosigkeit stillgelegter Braunkohletagebaue gelegenes Dorf zu verlassen und in ein Heim überzusiedeln.

Dass der Text mit einem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest endet – mitten in der Nacht macht sich Meyers Erzähler auf, im Wald einen Baum zu schlagen – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mutter ihr Wunsch, dort zu sterben, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hat, wohl nicht erfüllt werden wird. Denn der Sohn hat die Papiere der Bank, an die offensichtlich das Elternhaus verkauft werden soll, und jene des für die widerstrebende Frau bestimmten Pflegeheims bereits in der Tasche.

Geben in der ersten Erzählung des Bandes die der Erdoberfläche zugefügten schweren Verletzungen den geografischen Hintergrund für eine menschliche Tragödie ab, nimmt der mittlere und längste Text des Bandes, Dem Grund zu, seine Leser mit tief unter die Erde. In einer sich weit verzweigenden Höhle hat sich ein Mann verirrt, dessen verzweifelte Suche nach einem Ausgang aus dem Labyrinth nach und nach zu einer Suche nach sich selbst, nach dem, was ihn im Innersten ausmacht, wird.

„Der Mensch strebt dem Grund zu. Immer schon. Wir kommen aus den Höhlen und fahren in die Höhlen“, lässt Meyer den verletzten Höhlenforscher sich an eine Bemerkung seiner polnischen Verlobten erinnern. Mit ihr war er einst in den Katakomben von Warschau unterwegs und hat die Spuren gesehen, die verzweifelte Menschen hier während der deutschen Besatzung für die Nachwelt hinterließen. Meyers Text ist durchzogen von literarischen Anspielungen – u. a. auf Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen – und die Chronologie sprengenden Erinnerungsfetzen seiner Hauptfigur an die Kindheit und den Großvater, der den Jungen als Bergmann in die Geheimnisse des Untergrunds eingeführt hat, ihn die Begriffe lehrte, mit denen man sich unter Tage verständigt, und ihn vor den vielen Gefahren warnte, die dort unten auf jeden, der sich ins Reich der „Königin der Tiefe“ hineinwagen sollte, warten.

Und schließlich ist da noch, in der den Band beschließenden und als einzige aus der Ich-Perspektive erzählten Geschichte Wo die Drachen wohnen, ein Mädchen, das es mit seiner Familie aus einem der den Tagebauen zum Opfer gefallenen Dörfer nach Zwickau verschlagen hat. In einer Clique mit Gleichaltrigen lungert sie hier am Bahnhof herum und bietet sich Touristen als Führerin zu dem Ort an, wo Jahre vorher die Geschichte des Jenaer NSU-Trios an ihr Ende kam, als Beate Zschäpe nach dem Doppelselbstmord ihrer Komplizen das Haus, in dem man jahrelang Unterschlupf gefunden hatte, in Brand setzte und sich auf ihre letzte kurze Flucht begab.

Anstelle dieses Hauses klafft nun eine Lücke im Straßenbild, die das Mädchen in Verbindung bringt mit jener Leerstelle, die die inzwischen stillgelegten Abraumbagger – in ihren Gedanken sind es Drachen, die sich durch das Erdreich auf ihr Dorf zugefressen haben – hinterließen. Weil die Sehnsucht nach diesem Ort ihrer Herkunft sie nicht verlässt, fährt sie gelegentlich auf dem Moped mit einem älteren Jungen aus Ex-Jugoslawien, dessen Familie ihre Heimat im Krieg verlassen musste, dorthin zurück. Wo die Drachen wohnen ist die kürzeste und schönste Geschichte des Bandes. Wenn das Mädchen am Ende dafür sorgt, dass ein Obdachloser, der von den Jungen ihrer Clique angegriffen und in seinem Schlafsack angezündet wird, überlebt, zeigt das, dass sie trotz all der Verluste, die sie in ihrem bisherigen kurzen Leben hinnehmen musste, doch ihre Menschlichkeit bewahrt hat.

„Die Idee, gesellschaftliche Brüche als einen ganz normalen Steinbruch für eine (deutsche) Literatur zu sehen, ist anscheinend abhanden gekommen, biografisch/persönliches Klein-Klein, dazu banale Histörchen, biederes Erzählen, keine Reisen mehr ans Ende der Nacht oder meinetwegen an ihren Anfang!“, beklagt Meyer in einem den Band beschließenden Essay mit dem beziehungsreichen Titel Wozu Literatur?. Seine drei Erzählungen versteht er als Gegenentwurf zu diesem weite Teile der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dominierenden Erzählverständnis. Wie er zu seinem spezifischen Schreibstil und den ihn als Schriftsteller interessierenden Themen gekommen ist, welche Leseerfahrungen und Vorbilder sein literarisches Verständnis formten und warum „mein instinktiv angestrebtes Ziel, Bücher zu schreiben wie die, die ich gerne las, mein einzig möglicher Lebensweg war“, findet hier seinen vorläufigen Ausdruck. Der kleine Text endet mit den Worten „Wird fortgesetzt“. Und so darf man wohl weiterhin Auskünfte darüber erwarten, wo Clemens Meyer jene „kleine[n] Erzvorkommen“ findet, „um [die] wir kreisförmig unsere Sätze ziehen“.

Dem Band beigegeben sind 14 Fotografien des in Leipzig geborenen Fotografen Bertram Kober. Da sieht es auf einer der Aufnahmen so aus, als arbeite sich ein Pkw Trabant aus einem riesigen Felsblock hervor. Oder ist es gerade umgekehrt? Parkt das DDR-Automobil gerade rückwärts in unsere steinerne Vergangenheit ein? Gerade noch der oberste Giebel eines Hauses ragt aus einem gefluteten Tagebau hervor und auf einem riesigen Tieflader, dessen eine lange Radreihe der Beobachter sehen kann, zieht eine stolz aufragende Kirche aus einem für die Kohle aufgegebenem Ort fort – Gott sucht sich eine neue Bleibe. Gestein, Schutt, verbogene Eisenteile von Industriebrachen, Höhlen, in die von ferne Licht fällt, unterspülte Straßen und sich hebendes Pflaster, eng beieinander stehende Betonmauern und von Abraumhalden begrenzte Wüstungen, in denen zwei Schienenpaare, ein halbes Dutzend Bäume und ein kleines Haus Leben signalisieren – der für seine Fotoessays vielfach ausgezeichnete Kober illustriert Meyers Erzählungen nicht nur, er fügt ihnen eine ganz eigene Dimension hinzu.

Titelbild

Clemens Meyer: Stäube. Drei Erzählungen und ein Nachsatz. Mit fotografischen Bildern von Bertram Kober.
Faber und Faber Verlag, Leipzig 2021.
128 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783867301589

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