Mysteriöse Tiefe

Die deutsche Erstübersetzung von Yukio Mishimas 1968 veröffentlichtem Roman „Leben zu verkaufen“ schließt eine wichtige Lücke bei der Erschließung des Werkes eines der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yukio Mishimas Gesamtwerk bewegt sich stark an der Grenze zur Unübersichtlichkeit; Dutzende Romane, Erzählungen, Gedichte sowie Bühnenstücke hat der japanische Schriftsteller im Laufe seines nur 45-jährigen Lebens veröffentlicht, trotz seines Weltruhms sind bis heute nur verhältnismäßig wenige ins Deutsche übertragen worden. Der Grund für die schiere Menge an Publikationen liegt an der Zweischneidigkeit, mit der Mishima sein literarisches Werk betrachtete.

Einerseits war es ihm Ausdruck seiner innersten Nöte und Gefühle, wie in seinem wohl berühmtesten, autobiographisch gefärbten Roman Geschichte einer Maske auf brillante Weise vorgeführt, sowie seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit japanischer Kultur und Geschichte. Andererseits musste Mishima auch vom Schreiben leben und verfasste nicht wenige Texte, die seine Biographin Margerite Yourcenar als Gebrauchsliteratur kategorisiert; mal spannende, mal bewegende, oft auch klischeestrotzende Romane, die für den allgemeinen Konsum bestimmt waren. Wurde Mishima nach seinem rituellen Selbstmord im Jahr 1970 nicht zuletzt auch zu einer Art Pop-Ikone, so könnte man ihn aufgrund dieses unermesslichen Ausstoßes an Trivialliteratur fast etwas ketzerisch als Pop-Literaten bezeichnen.

Dies hielt vor allem deutschsprachige Verlage jahrzehntelang davon ab, sich abseits des hochkulturellen Mishima-Kanons zu bewegen. Der Schweizer Verlag Kein & Aber startete Ende 2019 eine neue Mishima-Reihe; die ersten zwei Bände stellten mit der bereits erwähnten Geschichte einer Maske sowie mit Der Goldene Pavillon zwei jener kanonischen Werke in neuer Übersetzung dar. Doch der dritte Band der losen Reihe, Leben zu verkaufen, ist, in der Übersetzung von Nora Bierich, die bereits für die äußerst gelungene Neuübersetzung von Geschichte einer Maske verantwortlich zeichnete, eine kleine Sensation – handelt es sich doch um die erste Übertragung ins Deutsche eines Werks, das womöglich als einer von Mishimas Trivialromanen gilt, jedoch beeindruckend unter Beweis stellt, dass für diesen Autor literarische Schubladen nichts galten. Gekonnt gelingt dem Text der Spagat zwischen der literarischen Verarbeitung von Mishimas Leitthemen und einer rasanten Handlung, die an eine gekonnte Thriller-Persiflage erinnert. Abgesehen von den letzten Bänden seines vierteiligen Romanzyklus Das Meer der Fruchtbarkeit handelt es sich bei dem 1968 erschienenen Leben zu verkaufen um seinen letzten publizierten Roman.

Der Nihilismus, der vielen Schriften Mishimas innewohnt, ist in Leben zu verkaufen von Anfang an erkennbar. Der 27-jährige Hario hat trotz eines guten Jobs in der Werbebranche und eines scheinbar sorgenfreien Lebens genug von seinem irdischen Dasein und schaltet eine Zeitungsanzeige, in der er anbietet, sein Leben zu verkaufen: „Leben zu verkaufen. Verfügen Sie frei über mich. Ich bin männlich, 27 Jahre alt und kann Geheimnisse wahren.“ Was er genau damit bezweckt, wird im Laufe des Romans niemals richtig deutlich, denn obwohl die Geschichte von einem personalen Erzähler berichtet wird, dringen die Leser*innen niemals tief in das Gefühlsleben Harios vor. Dieser vollkommene Verzicht auf eine Psychologisierung nimmt der Figur jegliche Gefühlsregung, verleiht ihr damit jedoch gleichzeitig eine mysteriöse Tiefe, die man im Laufe der äußerst vertrackten Handlung immer wieder vergeblich zu ergründen versucht.

Auf die Anzeige melden sich zunächst die üblichen Verdächtigen: Ein reicher Geschäftsmann möchte, dass Hario die treulose Frau eines Bekannten begattet und sich dabei von diesem erwischen lässt. Ein anderer benutzt den Lebensmüden für eine illegale Transaktion, ein dritter wiederum als Spion in geheimer Mission gegen ein befeindetes Staatsoberhaupt. Einmal kommt sogar ein Junge, der behauptet, seine Mutter sei ein Vampir und brauche ein Opfer, dem sie das Blut aussaugen könne (was sich tatsächlich als wahr herausstellt).

Jedes Mal sehnt Hario seinen baldigen Tod herbei, doch stets sterben nur die Menschen um ihn herum, während er in teilweise hanebüchenen Wendungen verschont bleibt. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass hinter all den Aufträgen möglicherweise eine geheime Organisation steckt und Hario bewusst am Leben gelassen wird. Doch wie lautet der Plan? Der stets gleichgültige Hario ahnt zwar, dass irgendetwas nicht stimmt und er mit seiner unorthodoxen Anzeige möglicherweise Dinge in Gang gesetzt hat, von denen er nichts ahnen konnte, doch im Grunde interessiert es ihn nicht. Mit ungebrochenen Stoizismus begegnet er jeweils seinem Schicksal, wird aufgrund der Vielzahl der Aufträge sogar zum reichen Mann.

Leben zu verkaufen weist eine starke Verwandtschaft zu Albert Camus Der Fremde auf, ja, parodiert den Roman des französischen Existentialisten womöglich sogar. Und trotzdem ist das Porträt des lebensmüden jungen Mannes, der einfach nicht sterben darf, berührend, spannend und komisch zugleich. Interessant ist zudem, dass die einzelnen Episoden einen allzu deutlichen Bezug auf James Bond-Filme aufbauen (die Ende der 60er Jahre ja schon sehr beliebt waren), das Gesamtbild aber einen stark nihilistischen Tonfall besitzt, der den Roman zu mehr macht als einer Ansammlung wahnwitziger Erzählungen. Trotz der seriell aufgebauten Handlung verliert Mishima nie den Blick auf das grausame Ganze, und so ist Leben zu verkaufen mit Sicherheit seinen großen Werken ebenbürtig – als Dokument eines Lebens, das im Scheitern begriffen ist, während wir tatenlos zuschauen müssen.

Titelbild

Yukio Mishima: Leben zu verkaufen.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2020.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958248

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