Auf der anderen Seite des schönen Scheins

In ihrem Kurzgeschichtenband „Heimweh nach einer anderen Welt“ führt uns Ottessa Moshfegh radikal auf die andere Seite des allgegenwärtigen schönen Scheins

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ottessa Moshfegh ist derzeit eine der außergewöhnlichsten Nachwuchsautorinnen auf internationaler Ebene und steht seit Jahren auf der berühmten Granta-Liste der zwanzig besten jungen US-Schriftsteller. Mit ihrer finsteren Debut-Novelle McGlue, die von einem Säufer und Seemann im 19. Jahrhundert erzählte und den Leser bis an die Schmerzgrenze führte, gelang ihr vor sechs Jahren der Durchbruch. Es folgten die Romane Eileen über ein gedemütigtes Mädchen aus der sozialen Unterschicht und  Mein Jahr der Ruhe und Entspannung über eine gelangweilte und von ihrem Leben entfremdete Frau aus der New Yorker Upperclass. Über die ganz unterschiedlichen Sujets ihrer Romane hinweg zeigte die in Boston geborene Autorin mit kroatisch-persischen Wurzeln ein ebenso atemberaubendes wie abgründiges erzählerisches Talent – und genau dies bestätigt sie nun abermals in ihrer Story-Sammlung Heimweh nach einer anderen Welt.

„Man stelle sich eine leere Straße mit einem Autowrack vor, im Rinnstein vergessen das rostige Dreirad eines Kindes, eine faltige alte Frau, die sich beim Sprengen ihres graubraunen Rasens kratzt, den Gartenschlauch um die geballte Faust gewickelt. Bürgersteige voller Löcher“ – so wie in dieser Szene einer der Geschichten des Bandes sehen die äußeren und inneren Landschaften in den Stories von Moshfegh aus. Sie führt uns hier radikal auf die andere Seite des in unserer Welt allgegenwärtigen schönen Scheins: in öde Vorstädte, ranzige Bungalows oder in ein Behinderten-Wohnheim sowie in Seelenlandschaften voller Schründe, Dellen, Risse und Verwerfungen.

Exemplarisch dafür steht Miss Mooney aus Ich bessere mich, die als Lehrerin an einer ukrainisch-katholischen Schule in New York arbeitet und im Klassenzimmer mit einem Schlafsack übernachtet. Sie säuft, raucht, kokst, erzählt ihren Schülerinnen, dass Ejakulat nicht dick macht, und fälscht die staatlichen Mathetests, damit sie ihren Job nicht verliert. Miss Mooney ist ebenso kaputt wie lakonisch und cool – und irgendwie auch gar nicht so unzufrieden mit ihrem Leben.

Moshfeghs Protagonisten haben ähnlich wie Sisyphos ihr Schicksal angenommen, aber aufgehört sich abzuplagen und auf das große Glück zu hoffen. Sie leben ihr trostloses Leben vor sich hin und nehmen mit, was es an kleinen Momenten des Glücks, der Liebe und Geborgenheit oder des schnellen Sex zu bieten hat. Sie sind selten stark, gut und klug, sondern meistens schwach, stumpf, dumm oder bösartig. Sie sind kurz gesagt Helden des Menschlich-Allzumenschlichen: „Meinen Freund konnte ich nicht ausstehen, aber die Gegend fand ich gut.“

Grell leuchtet Ottessa Moshfegh in ihren souverän erzählten und komponierten Stories den Kosmos der menschlichen Unvollkommenheit aus und verblüfft immer wieder mit drastischen Ver- und Entwicklungen sowie explosiven Pointen. Sie verurteilt ihre Protagonisten dabei nicht, sondern bestätigt mit Heimweh nach einer anderen Welt letztlich Theodor Adornos Diktum aus der Minima Moralia: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Titelbild

Ottessa Moshfegh: Heimweh nach einer anderen Welt. Storys.
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2020.
334 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783954381159

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