Gefühlige Naturrechtsphilosophie?
Martin Mulsow klärt über die Diskussion zu „Naturrecht und Emotion“ in der Frühaufklärung auf
Von Rolf Löchel
Martin Mulsow hat mit Naturrecht und Emotion eine gut lesbare und – soweit möglich – ohne größere Vorkenntnisse verständliche Publikation veröffentlicht, die leicht zwischen Fach- und Sachbuch changiert, jedoch deutlich ersterem zuneigt. Denn er bietet „ein Stück Wissenschaftsgeschichte“ der Frühaufklärung, die er „etwas anekdotisch angereichert“ hat.
Auch verzichtet Mulsow nicht nur auf jedes wissenschaftlich-prätentiöse Gehabe, sondern übersetzt längere lateinische Zitate ins Deutsche, wobei die Originale in Fußnoten nachlesbar sind.
Der Autor hat sich nicht eben wenig vorgenommen: Die frühaufklärerische Geschichte von Naturrecht und Emotionen „sowohl wissensgeschichtlich [zu] dekonstruieren als auch emotionsgeschichtlich [zu] kontextualisieren“. Es gelte, „die Semantik der Grundbegriffe – gerade auch der Affektbegriffe – vor ihrem breiten zeitgeschichtlichen Hintergrund zu prüfen, um das Feld von Assoziationen und Idealen zu begreifen, die mit ihnen einhergingen“.
Entgegen dem inzwischen bereits seit Längerem allerorten gebräuchlichen unscharfen und sozusagen ‚vulgären’ Begriff von Dekonstruktion, benutzt er ihn in einer ursprünglicheren Bedeutung, der zufolge „die einzelnen Portionen an Wissen, aus denen die betrachteten Texte zusammengesetzt sind, auf ihre Herkunft hin zu verfolgen, und dem Typus Wissen zu[zu]ordnen [sind], zu dem sie gehören“.
Emotionsgeschichtlich zu kontextualisieren wiederum verlange, die Bezeichnungen bestimmter Emotionen „nicht einfach in ihrer heutigen Bedeutung […] hinzunehmen, sondern die Färbung und Konnotationen zu rekonstruieren, die sie zu einer bestimmten Zeit besaßen“. Darüber hinaus stellt Mulsow frühaufklärerische Thesen und Theorien in einen Zusammenhang mit den (ökonomischen) Gegebenheiten der Herkunftsländer ihrer Erschaffer, die dem Buch zufolge scheinbar tatsächlich ausschließlich männlichen Geschlechts waren. Zumindest geraten dem Autor frühe Aufklärerinnen wie etwa Maria Gaetana Agnesi, Johanna Charlotte Unzer, Sophie Germain oder Mary Somerville Fairfax nicht in den Blick. Allerdings muss eingeräumt werden, dass sie sich auch kaum zu Naturrechtsfragen und Fragen der Emotionen äußerten.
Dafür aber macht Mulsow die Lesenden mit zahlreichen für die Geschichte der Emotionsforschung nicht unwichtigen Männern der Wissenschaft und ihren Theoremen bekannt, deren Namen allenfalls einigen SpezialistInnen für Fragen der Frühaufklärung geläufig sein dürften. Denn man sollte „nie den Blick auf abseitige Figuren […] sowie auf die Akteure aus ganz anderen Fachgebieten […] vernachlässigen, um eine Vorstellung des Spielraums an Konsequenzen zu bekommen, die es gegeben hat“, begründet der Autor seinen Blick in manchen vergessenen Winkel der Aufklärungsgeschichte. Dieser weite Blick ermöglicht ihm auch, ideen- und philosophiegeschichtliche Filiationen deutlich hervortreten zu lassen.
Dabei erweist sich Mulsow in der einschlägigen Literatur des Forschungszeitraums – also der Jahrzehnte vor und nach 1700 – als überaus bewandert. Gerade daher aber ist es umso befremdlicher, dass er die nichtzitierwürdige Quelle Wikipedia ausführlich zu Wort kommen lässt, um den heutigen Stand der Forschung zu der Frage zu belegen, ob der spätantike Kommentator von Platons Timaios Chalcidius ein Christ war oder nicht.
Kritisch anzumerken ist auch, dass der Untertitel zwar „Eine Geschichte der Gefühle im 18. Jahrhundert“ verspricht, Mulsow jedoch weder die Geschichte der Gefühle, noch das gesamte 18. Jahrhundert untersucht. Vielmehr bietet er eine Theorie- und Ideengeschichte der Gefühle des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts.
Dies alles hat unter anderem zur Folge, dass geschlechtsspezifische Zuordnungen oder Wertungen einzelner Gefühle wie sie etwa bei Immanuel Kant zu finden sind, keine Rolle spielen. Überhaupt ist die (tatsächlich oder vermeintliche) geschlechtliche Spezifik von Emotionen weitgehend absent. Dabei waren Affekte und Gefühle bereits in der Frühaufklärung – und nicht erst dort – geschlechtsspezifisch konnotiert. Dies lässt sich auch an einer im vorliegenden Band abgebildeten „Ausdrucksstudie“ von Charles Le Brun ablesen, die zornige, missmutige und aggressiver Gesichter von Männern zeigt, während die weiblichen Gesichter erstaunt, leidend oder lachend sind.
Diese Vernachlässigung geschlechtlicher Aspekte bedeutet aber keineswegs, dass Mulsows Ausführungen zu Fragen des Naturrechts der Frühaufklärung und der mit diesen zusammenhängenden Theoriegeschichte der Emotionen nicht erhellend wären. Das sind sie nämlich in hohem Maße. Zumal „die Forschung zum Naturrecht […] bisher mit der neueren Geschichte der Emotionen nicht gerade in besonders engem Austausch [stand]“. Gleichwohl räumt Mulsow bescheiden ein, dass sein Buch „nur eine Geschichte der Emotionen im 18. Jahrhundert“ erzählt und „nur ein erster Schritt zu einer umfassenderen Analyse“ sein kann.
Was aber verbindet nun die beiden titelstiftenden Substantive des Buches? Dies beantwortet der Autor, indem er „die naturrechtlich verwendeten Emotionsausdrücke behutsam in ihrer historischen Semantik und der damaligen realen Verwendungsweise [annähert]“. Denn damit „ein unverzerrter, vielleicht auch produktiver Dialog mit einer Philosophie der Gegenwart entstehen“ könne, müsse zunächst eine „konsequente[] Historisierung der im Naturrecht vorausgesetzten Emotionen“ erarbeitet werden.
Die Verbindung zwischen frühaufklärerischen Naturrechtskonzeptionen und dem „Affekthaushalt des Menschen“ besteht nun genauer darin, dass die Regeln ersterer mit diesem „vermittelt“ werden mussten. Wie dies zu geschehen habe, wurde beispielsweise von August Friedrich Müller als Frage der Klugheitslehre behandelt. Doch war Müller keineswegs der einzige, der sich mit diesem Problem befasste. Vielmehr wurden „um 1700 Vorurteilstheorien und Temperamentenlehren en masse entwickelt“ – woraus sich ablesen lasse, mit welcher „Dringlichkeit“ die klugen Köpfe der Frühaufklärung die als notwendig erachtete „Gesellschaftskritik naturrechtlich fundieren“ wollten.
Überdeutlich wird an dieser Stelle auch die damals noch immer enorme Macht der christlichen Religion, mit der sich kaum ein Frühaufklärer wirklich anzulegen wagte. Vielmehr wurde lavierend versucht, die je eigenen Erkenntnisse und Theorien in Einklang mit christlichen Glaubensätzen zu zwingen. Alles andere hätte zwar nicht mehr unbedingt das Leben kosten können, aber doch Reputation und Anstellung. Denn bei dem „sich zwischen so unterschiedlichen Polen wie […] theologischer Gnadenlehre einerseits und medizinisch-physischen, ja mechanistischen Ausprägungen andererseits“ aufspannenden „Problemfeld von Naturrecht und Affektenlehre“ hatte die Kirche nicht nur ein gehöriges Wörtchen mitzureden, sondern war auch eine Macht, die Karrieren beenden konnte.
Johann Adolf Hoffmann unternahm es in den 1720er Jahren dennoch, die von christlicher Seite den Sünden zugerechnete „Eigenliebe und die Lust auf Reichtum für die staatliche Wirtschaft ein[zu]spannen, statt sie abzulehnen“. Damit gelang es ihm tatsächlich, das religiöse „Verdikt“, „Geld anzuhäufen“ zu lockern.
Mulsow hebt jedoch nicht nur die antiaufklärerische Rolle der Kirche hervor, sondern arbeitet vor allem heraus, „wie Emotionsgeschichte, Therapie und Medizin zusammenhängen“, wobei er aus guten Gründen einen besonderen Blick auf die von ihm sogenannte „Holsteiner Schule“ wirft, zu der etwa der „über die menschliche Stimme und ihre Wirkungen auf den menschlichen Körper“ forschende Kieler Professor für Eloquenz und Poesie Daniel Georg Morhof zählte.
Christian Thomasius, einer nicht dieser Schule angehörenden, sondern in Halle lehrenden „Zentralfigur der deutschen Frühaufklärung“ zufolge ist hingegen der Wille das „Schlüsselkonzept […] zwischen menschlicher Natur und Recht“. Mit seiner „pessimistische[n] Anthropologie, nach der der Wille das Entscheidende im Menschen sei“, hat er bereits um 1700 Arthur Schopenhauers Willensmetaphysik in – allerdings nichtmetaphysischen – Ansätzen vorgedacht. Ist Schopenhauers ‚Weltwille’ blind, so zielt der menschliche Wille (nur von dem spricht Thomasius), nach Ansicht des Frühaufklärers auf „Lust, Geld oder Macht“ beziehungsweise deren Steigerung und Vermehrung. Nur der Wille bestimmt nach Thomasius das menschliche Handeln, während der Verstand „keine Macht“ auf es ausüben kann. Auch hier geht Schopenhauer einen Schritt weiter. Denn ihm zufolge ist der Verstand gegenüber dem Willen nicht nur machtlos; er ist sogar dessen Erfüllungsgehilfe.
Auffällig ist weiterhin, dass Thomasius mit seiner Temperamentenlehre ein von Else Jerusalem in den 1930er Jahren entdecktes und von dem Philosophen Reinhard Brandt einige Jahrzehnte später in die Formel 1, 2, 3 / 4 gefasstes Ordnungsschema bedient, dass in der westlichen Ideen- und Philosophiegeschichte seit der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein subkutan virulent war. Von den vier Temperamenten gelten Thomasius das sanguinische, das cholerische und das melancholische als lasterhaft, wohingegen das phlegmatische als einziges einer „lasterfreien moralischen Einstellung“ entspricht. August Friedrich Müller greift ebenfalls zu dem genannten Ordnungsprinzip, wenngleich auf andere Weise. Ihm zufolge „überwölbt“ die „Kategorie der Eitelkeit“, die „drei Fehlhaltungen des Geldgeizes, der Wollust und des Ehrgeizes“.
Thomasius’ „Meisterschüler“ Nikolaus Hieronymus Gundling ging einen entscheidenden Schritt weiter als sein Lehrer und strebte an, der Temperamentenlehre „von der bloßen Analogie“ den „Weg zu wirklicher Kausalität“ zu weisen. Hierzu konzipierte er eine „quasi-materialistische[] Grundlegung der Affektenlehre“. Damit habe er Thomasius „vom Kopf auf die Füße“ gestellt, so wie Marx es rund anderthalb Jahrhunderte später für sich Hegels Dialektik gegenüber in Anspruch nahm.
Johann Nicolaus Pechlin, ein weiter „würdiger Repräsentant für die Aufklärungskraft moderner Wissenschaft“ entwickelte wiederum lange vor Georg Groddeck nicht nur eine „frühe Form der Psychosomatik“, sondern konnte zudem zeigen
daß die schwarze Haut der Afrikaner eine Sache der Oberfläche ist, daß sie aber sonst Menschen wie alle anderen sind, so daß protorassistische Phantasien […], mit denen die Sklaverei gerechtfertigt wurde, jeder Grundlage entbehrten.
Anzumerken ist hierzu allerdings, dass rassistische Begründungs- und Rechtfertigungsversuche für Sklaverei nicht zuerst vom europäischen Sklavenhandel, sondern von arabischer Seite bereits um das Jahr 1000 erdacht wurden.
Ähnlich wie Pechlin wandte sich auch der mit ihm befreundete Mediziner Günter Christoph Schelhammer den körperlichen Effekten von Affekten zu. Dabei interessierte ihn insbesondere, welche „pathogenen Auswirkungen“ sie haben können. Einerseits wollte er Therapien für durch sie ausgelöste Erkrankungen finden, umgekehrt dacht er auch an mögliche therapeutische Wirkungen von Emotionen. Von seinem Freund Pechlin unterscheidet ihn zudem, dass er „viel systematischer“ vorging.
Johann Gottlieb Heineccius entwickelte wiederum eine frühe Theorie der Körpersprache und versuchte, den Charakter eines Menschen aus dessen Gang abzulesen. Auch Julius Bernhard von Rohr beschäftigte sich mit der (emotionalen) Körpersprache und publizierte auf deren Grundlage 1717 unter dem Pseudonym Germanus Constans einen Liebesratgeber mit dem barocken Titel Neue[s] moralische[s] Traktat von der Liebe gegen die Personen andern Geschlechts, darinnen so wohl überhaupt die Regeln der Klugheit so bey Liebes-Affairen vorzukommen pflegen, vorgestellet werden, als insonderheit die christliche, eheliche, Freundschaffts- Galanterie-, Socielitäts-, Concubinats- und Huren-Liebe moralisch abgehandelt werden veröffentlichte.
Bedeutender aber war Heineccius. Gewann die „Debatte um Naturrecht und Emotionen“ mit ihm doch noch einmal „eine neue Tiefe“. Zwischen dem, was jemand vorgibt zu glauben und dem, was er wirklich denkt, zog Heineccius eine neue Reflexionsebene ein – eine gerade in religiösen Fragen nicht unbedeutende Unterscheidung.
Einer der außergewöhnlichsten Denker der Frühaufklärung war jedoch Johann Andreas Planer, der – was zu seiner Zeit fast undenkbar war – gegen die Todesstrafe eintrat. Dabei argumentierte er – nicht nur für seine ZeitgenossInnen noch überraschender – sowohl theologisch wie auch mithilfe der damals neusten Forschungen der Embryologie. So machte er sich die Präformationslehre zu nutze, der zufolge – vereinfacht gesagt – alle Menschen und ihre Seelen bereits entweder in Evas Ei (so die ovulistische Ansicht) oder (wie der Animakulismus behauptete) in Adams Samen vollständig vorhanden waren; und zwar jede Generation einer Matrjoschka gleich verschachtelt in der vorhergehenden. Nur, dass in jedem weiblichen Ei beziehungsweise jedem männlichen Samen nicht ein weiterer kleinere Mensch sei, sondern unzählige gleichwertige enthalten waren, die über alle künftigen Generationen hinweg bis zum jüngsten Tag reichten. Richtet der Staat also einen Verbrecher oder eine Verbrecherin hin, so tötet er zugleich alle in seinen Spermien respektive alle in ihren Eiern bereits vollständig vorhandenen unschuldigen Nachkommen – und deren Seelen. Das sei nicht zu rechtfertigen. Interessant sei nun, und da schlägt Mulsow einen Bogen zu gegenwärtigen Diskussionen, dass Planer mit seiner Theorie bereits die heute brennende Frage der Rechte zukünftiger Generationen aufwarf.
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