„Ich bekenne, ich habe gelebt!“

Zum 50. Todestag von Pablo Neruda

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pablo Neruda, dessen 50. Todestag die literarische Welt in diesem Monat begeht, gehört zu den bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Mit seinem sprachgewaltigen Werk trug er wesentlich zur Weltgeltung der lateinamerikanischen Literatur bei. Als episch-lyrischer Dichter ging er zu den indigenen Ursprüngen ebenso zurück wie zu der unberührten Natur des Kontinents.

Sein Lebensweg vom einfachen Sohn eines Lokomotivführers bis hin zum weltberühmten Literaturnobelpreisträger gleicht wie sein Werk einer spannenden Reise durch den lateinamerikanischen Kontinent. Ricardo Eliecer Neftali Reyes Basoalto (später Pablo Neruda) wurde am 12. Juli 1904 in Parral, im Süden Chiles, geboren. Wenige Monate nach der Geburt starb seine Mutter an Tuberkulose und der Vater heiratete wieder. Bereits im Alter von zehn Jahren schrieb Pablo seine ersten Gedichte; doch sein konservativer Vater war über die Liebesgedichte seines halbwüchsigen Sohnes so erzürnt, dass er ihm die weiteren lyrischen Versuche verbot. Als er zwölf Jahre alt war, ermutigte ihn die Direktorin seiner Schule, die chilenische Schriftstellerin und spätere Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral (1889-1957), seine literarischen Bemühungen fortzusetzen. Ein Jahr später wurde sein erster Artikel mit dem Titel Enthusiasmus und Ausdauer veröffentlicht. Schnell gewann er zahlreiche regionale und nationale Literaturpreise, so dass er endgültig das Pseudonym Pablo Neruda annahm, um einem Konflikt mit dem Vater aus dem Weg zu gehen. Als Vorbild diente ihm der tschechische Schriftsteller und Journalist Jan Neruda (1834-1891) mit dessen sozialkritischen Werken. Pablo Neruda wurde aber auch bald sein legaler Name.

1921 zog Neruda in die Hauptstadt Santiago de Chile, wo er von 1921 bis 1926 Französisch und Pädagogik studierte, um wie seine Mutter den Lehrerberuf zu ergreifen. Seine schriftstellerische Tätigkeit stand aber weiterhin im Vordergrund; zudem gewann er mit dem Gedicht La canción de fiesta (dt. Der Gesang des Festes) einen Hauptpreis der nationalen Studentenföderation. 1923 veröffentlichte er im Selbstverlag mit Crepusculario (dt. Dämmerung) seinen ersten Lyrikband. Mit dem Gedichtband Veinte poemas de amor y una canción desesperada (1924, dt. Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung) begründete er bereits mit zwanzig Jahren seinen literarischen Ruhm in der spanisch-sprachigen Welt und weit darüber hinaus. Er schloss zwar seine Lehrerausbildung noch ab, aber 1927 wurde er aufgrund seiner guten Französischkenntnisse und seiner Popularität in den diplomatischen Dienst berufen. Anschließend wechselten fast im Jahrestakt die Berufungen zum Konsul in Burma, Ceylon, Indonesien, Singapur, Buenos Aires und Madrid.

Nach dem Putsch von General Franco gegen die spanische Volksfrontregierung bezog Neruda Partei gegen die Putschisten. In seinem Gedichtband España en el corazón (1937, dt. Spanien im Herzen) beschrieb er die Gräuel des Bürgerkrieges. Daraufhin wurde Neruda wegen des „Verstoßes gegen die Neutralität“ seines Postens enthoben. Die Ermordung des andalusischen Dichters Federico Garcia Lorca (1898-1936) machte ihn endgültig zu einem unerbittlichen Feind des Faschismus. Ab 1938 besuchte Neruda zahlreiche Länder Lateinamerikas und während seiner Vortragsreisen begann er mit seinem umfangreichen Gedichtzyklus Canto General (dt. Der Große Gesang). An diesem gewaltigen Versepos arbeitete er zehn Jahre, ehe es 1950 in Mexiko erschien. Die 15.000 Verse sind eine Hymne auf die Geschichte, Landschaft und Menschen des südamerikanischen Kontinents. Mit diesem weit gespannten und epochalen Werk wollte Neruda, wie er selbst sagte, „die durch den Feudalismus, durch Rückständigkeit und fremde Ausbeutung hinausgezögerte Geburt eines Kontinents in das historische Bewusstsein des Volkes heben“. Der Große Gesang, später von dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis (1925-2021) vertont, wurde auf der ganzen Welt als völkerverbindendes humanes Bekenntnis für Freiheits- und Menschenrechte geachtet.

1945 trat Neruda der Kommunistischen Partei Chiles bei und wurde zum Senator gewählt. Nach heftiger Kritik an der Politik des chilenischen Präsidenten González Videla (1898-1980) musste er jedoch in den Untergrund gehen, bis ihm schließlich die Flucht nach Argentinien gelang. In Buenos Aires traf Neruda auf seinen Freund, den guatemaltekischen Schriftsteller Miguel Angel Asturias (1899-1974), der ihm seinen Pass aushändigte und ihm damit die Emigration nach Europa ermöglichte. Hier unternahm Neruda ausgedehnte Reisen, auch nach China, Indien und in die Sowjetunion, wo er zusammen mit dem ebenfalls im Exil lebenden türkischen Lyriker Nazim Hikmet (1902-1963) den Internationalen Friedenspreis der UdSSR erhielt. Viele Jahre trat Neruda vorbehaltlos für die Politik der Sowjetunion ein, doch nach Stalins Tod und der Aufdeckung der Verbrechen des Stalinismus 1956 kam es in seinem Werk zu einer Zeit des Nach- und Umdenkens. Nach einer langen Phase überwiegend politischer Dichtung konzentrierte er sich jetzt viel stärker auf existenzielle Probleme.

Erst im August 1952 konnte Neruda nach Chile zurückkehren. Ein triumphaler Empfang erwartete ihn in Santiago, das Volk feierte „seinen“ Dichter, der endlich wieder zu Hause war. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, in denen er viele öffentliche Auftritte hatte und Ämter übernahm, zog sich Neruda immer wieder in sein Haus auf der Isla Negra zurück. Während dieser produktiven Zeiten entstanden solche Werke wie Odas Elementales (1954, dt. Elementare Oden) oder Memorial de Isla Negra (1964, dt. Memorial von Isla Negra). Dieses Spätwerk war eine persönliche Rechenschaft und kritische Abrechnung mit dem Stalinismus. Auch sein einziges Theaterstück Fulgor y muerte de Joaquín Murieta (1967, dt. Glanz und Tod des Joaquin Murieta) über einen chilenischen „Robin Hood“ hatte einen großen Erfolg.

1969 nominierte die Kommunistische Partei Neruda zu ihrem Präsidentschaftskandidaten, doch zugunsten von Dr. Salvador Allende (1908-1973) von der Unidad Popular verzichtete er und unterstützte dessen Wahlkampf. Bis zu seiner schweren Krankheit 1972 war er Botschafter der Regierung Allendes in Frankreich. Am 21. Oktober 1971 erhielt Pablo Neruda den Literaturnobelpreis „für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht“, wie es in der Begründung des Nobelpreis-Komitees hieß.

Mit einer Massenkundgebung ehrte ihn das chilenische Volk im Stadion von Santiago, in demselben Stadion, in das das Pinochet-Regime wenige Monate später Tausende Menschen zusammentrieb. Nur zwölf Tage nach dem gewaltsamen Sturz und dem Freitod Allendes starb Pablo Neruda am 23. September 1973 in Santiago de Chile. Immerhin blieb ihm so das Schicksal vieler anderer linker Intellektueller erspart. Seine Beisetzung gestaltete sich trotz starker Polizeiüberwachung zur ersten öffentlichen Kundgebung gegen die faschistische Militärdiktatur.

Pablo Neruda verstand sich weltweit als politischer und poetischer Botschafter. Mit seiner sinnenstarken Poesie sang er sich in die Herzen der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Stets stand er auf der Seite der Menschen „ohne Schuhe und Schule“. Seine Verse zählen zu den schönsten, welche die Literatur je hervorgebracht hat. Er schuf mehr als vierzig Gedichtbände, die sich durch eine wortgewaltige Bildsprache auszeichnen und zugleich Ausdruck der Leidenschaft und Kraft des Weltbürgers Neruda sind. Posthum erschienen 1974 seine lyrischen Memoiren Ich bekenne, ich habe gelebt sowie weitere acht Lyrikbände. Noch viele Jahre später wurden bisher unbekannte Gedichte entdeckt.

Nerudas Lyrik ist eine erzählende und stimmungsvolle Lyrik mit hymnischen Freiversen, die leidenschaftliche Lebens- und Naturbildern entwerfen. Bekannt ist Neruda vor allem für seine unzähligen Oden – von der Ode an die Luft über Oden an die Zwiebel, an die Teebüchse oder den Thunfisch bis hin zu Oden an die Traurigkeit oder an die Zahlen. Fast alle Dinge des täglichen Lebens werden in den Oden poetisch überhöht.

Obwohl seinen Gedichten mitunter der Hang zum Pathos anhaftet, wirken sie in der Verbindung von politischem Engagement und humanistischer Grundhaltung absolut glaubwürdig. Politik und Poesie waren für ihn kein Widerspruch. Als politisch engagierter Dichter wurde Neruda sowohl gefeiert wie auch verpönt. Ins Deutsche übersetzt (meist von Erich Arendt) wurden seine Gedichte zunächst in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlicht, während es in der Bundesrepublik zu dieser Zeit kaum Ausgaben seiner Gedichte gab. Erst der Literaturverlag Luchterhand brachte 1967 eine zweibändige Ausgabe seiner Dichtungen heraus, die später mehrere Auflagen erlebte und 2009 durch einen dritten Band ergänzt wurde, sodass damit alle großen Gedichtzyklen des Autors vollständig enthalten waren, einschließlich seines postumen lyrischen Werkes. In den folgenden Jahrzehnten erschienen regelmäßig weitere Gedichtbände, ausgewählte Essays und Reden sowie Nerudas Lebenserinnerungen.

Im Vorfeld des 50. Todestages von Pablo Neruda hat der Literaturverlag Luchterhand mit Das Buch der Fragen (span. Libro de las preguntas) ein sehr poetisches Buch herausgebracht, das fern des gewichtigen Pathos und der mächtigen Rhythmen seines Großen Gesangs daherkommt. Das erstmals ein Jahr nach seinem Tod erschienene schmale Bändchen ist zweifellos eines der originellsten Werke aus der letzten Phase des Dichters. Alle 74 Gedichte sind auf der Grundlage von Fragen konstruiert mit jeweils einer Handvoll Zweizeilern. Neruda betrachtet hier die Welt mit dem staunenden Blick eines Kindes und gleichzeitig mit dem Erfahrungsschatz eines altersweisen Mannes. „Wie viele Kirchen hat der Himmel?“ „Wie sollen wir den Wolken danken für dieses flüchtige Gebausche?“ „Wenn alle Flüsse süß sind, wo hat das Meer sein Salz her?“ oder „Sag, kann man dümmer heißen als Pablo und Neruda?“

Die Verse werfen Fragen zu seinem Leben, seinen Träumen, dem Meer, den Flüssen, den Jahreszeiten, dem Himmel oder den Sternen auf, aber auch zu Dichtern wie Charles Baudelaire, José Martí, Paul Éluard oder Francesco Petrarca. Meist sind es poetische Fragen, die noch nie gestellt wurden und auf die es scheinbar keine Antworten zu geben scheint. Neruda hat diese persönlichen Fragen aus seinem täglichen Leben eingefangen; sie drücken seine Neugier, Bewunderung und Emotion für die nächsten, aber auch entferntesten Themen aus. „In vielen der Verse steche eine ,surrealistische Metaphorik‘ heraus“, betont die Übersetzerin Susanne Lange. Da es sich um keine freien Zeilen, sondern um Verse mit einem Versmaß handelt, war die Übersetzung nicht einfach. Die Neuerscheinung enthält farbige Illustrationen von der katalanischen Künstlerin Maria Guitart, die den verborgenen Charakter der einzigartigen Gedichtsammlung enthüllen. Vielleicht fallen den LeserInnen bei der Lektüre auch ein paar neue Fragen ein.

Titelbild

Pablo Neruda: Das Buch der Fragen. Gedichte.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Mit Illustrationen von Maria Guitart.
Luchterhand Literaturverlag, München 2022.
104 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876597

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