Protokoll eines Gedankenentzugs

Yôko Ogawas „Insel der verlorenen Erinnerung“ ist eine Hommage an Anne Frank und ein labyrinthisches Rätselkonstrukt

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ogawas früher Roman wurde partiell vom Tagebuch Anne Franks inspiriert und beabsichtigt eine literarische Phantasie über Sprache, Erinnern und Identität. Heute schätzen vor allem amerikanische Rezipienten das Buch als Kritik des gegenwärtigen Autoritarismus. Der japanische Originaltext Hisoyaka na kesshō („Geheime Kristallisation“) entstand 1994.

Doppelte Prophetie

Die Schilderung gesellschaftlicher Umbrüche und einer Naturkatastrophe in Insel der verlorenen Erinnerung korrespondiert mit der Situation Japans im Jahr 1995. Damals war es zu einer zweifachen Erschütterung gekommen: Am 17. Februar ereignete sich das Erdbeben von Kôbe, am 20. März der Saringas-Anschlag der neureligiösen Gruppierung Aum Shinrikyô. Im Gefolge der Terrorattacke inmitten der Metropole schwand das Gefühl, das Land und seine Einwohner blieben von den Atrozitäten der restlichen Welt verschont. Der sogenannte japanische Sicherheitsmythos (anzen shinwa) erlitt einen Einbruch. Fünfundzwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung stieß der Roman in der 2019 veröffentlichten englischen Übersetzung auf große Resonanz, erzählt er doch in merkwürdiger Koinzidenz von der Ankunft eines Tsunami und von einer freudlosen Kontrollgesellschaft. Ogawas Text echot die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011, wenn es dort heißt:

Das Meer verschluckte die Boote im Hafen, brandete über den Damm und riss die Küste mit sich fort. All dies geschah innerhalb weniger Sekunden, mir aber kam es vor, als würde sich das schreckliche Schauspiel in einzelnen Szenen vor mir abspielen.

Die düstere Atmosphäre, das Auskundschaften von persönlichen Informationen bis hin zur Genetik des Einzelnen und das unbarmherzige Vorgehen der Polizei, die die Befehle einer totalitären Regierung umsetzt, schienen globale Tendenzen des jungen 21. Jahrhunderts zu echoen, in dem sich Machthaber und Entscheider mit Minikriegen, Drohungen, digitalen Datensammlungen, Freiheitseinschränkungen und anderen offenen oder verdeckten Attacken über die Bedürfnisse der Bevölkerungen hinwegsetzen. Der für den anglophonen Raum gewählte Titel The Memory Police fördert eine solche Rezeption, während der Liebeskind Verlag für die deutsche Fassung die verbindlichere Überschrift Insel der verlorenen Erinnerung bevorzugt.

Wo Erinnerungen verboten sind

Schauplatz der Geschehnisse ist eine namenlose Insel, auf der das politische System scheinbar völlig willkürlich Dingen die Existenzberechtigung abspricht und diese dann – wohl, weil die Untertanen die Anordnungen ohne Widerstand hinnehmen – in der Tat verschwinden. Es handelt sich zunächst um Gegenstände wie Kalender, Hüte, Briefmarken, Brechbohnen, die Vogelwarte, die Fähre, Früchte, Parfüm und Fotografien. Ist die Auslöschung beschlossene Sache, trennen sich die Inselbewohner sofort von den Objekten und haben sie bald darauf völlig aus ihrem Gedächtnis verbannt. Auch Erscheinungsformen der Natur wie Vögel und Blumen werden Opfer eines aus der Machtvollkommenheit der Diktatur erwachsenden negativen Prinzips. Die Erinnerungspolizei überwacht die schnelle Entsorgung und das korrekte Vergessen. Einigen Menschen ist es jedoch gegeben, das Entschwundene in ihren Gedanken aufzubewahren. Diese Personen werden von den Ordnungshütern ausfindig gemacht und deportiert.

Erzählerin der Geschichte ist eine Romanschriftstellerin, deren wissenschaftlich arbeitender Vater, ein Ornithologe, früh starb. Die Mutter, eine Bildhauerin, wurde verhaftet, als die Protagonistin noch ein Kind war, und kam, wie man schließen kann, während der peinlichen Befragungen zu Tode. Als ihr Verlagslektor, der zu den einschlägig Talentierten zählt, unter Verdacht gerät, beherbergt die Hauptfigur ihn in einer eigens angefertigten Geheimkammer in ihrem Haus. Gemeinsam mit dem alten Mann, der ihr bei der Einrichtung des Verstecks half, trifft man sich dort manches Mal in geselliger Runde mit bescheidenem Festessen und Gesprächen unter Gleichgesinnten – stets auf der Hut davor, entdeckt zu werden.

Die junge Frau, die Diktatur, das Schreiben

Ogawa gelingt es ausgezeichnet, das Bedrohliche des Regimes auf der Insel einzufangen. Entscheidend trägt zur Stimmung der Unsicherheit und Angst bei, dass die Bevölkerung desinformiert bleibt. Offiziell wird auf die Geheimhaltungspflicht gepocht. Viele Annahmen gründen sich nur auf Gerüchten. Mindestens seit fünfzehn Jahren treiben die Machthaber „ihr Unwesen“, überlegt die Protagonistin. Für alle gilt, man solle in der Öffentlichkeit nicht über „heikle Themen“ sprechen, damit die uniformierten Spähtrupps mit ihren „blitzenden Abzeichen am Revers“ keinen Grund zum Zugriff fänden. Schilderungen der Enge des Verstecks, Exkurse zu kleinen schönen Festen sowie Berichte über Razzien und Deportationen knüpfen an Das Tagebuch der Anne Frank an, eine wichtige Quelle der Inspiration, wie Ogawa in Interviews verrät. Wohin Arretierte gebracht würden, wisse niemand:

Die Verhafteten wurden einer nach dem anderen auf die mit Planen verhängte Ladefläche des Lastwagens gestoßen. Die Waffen waren die ganze Zeit auf sie gerichtet. Als Letzte war das Mädchen dran, das seine orangefarbene, mit einem Teddybär bestickte Tasche auf die Ladefläche warf (…).

Obwohl das Netz der Überwachung engmaschig ist und die Resignation in der Bevölkerung groß („Die Inselbevölkerung hatte sich längst an Verlust gewöhnt“), spekuliert man über eine Gruppe im Untergrund, die für die zur Erinnerung Fähigen und ihre Familien Orte der Zuflucht bereithielten. In einer vergleichsweise ruhigen Situation lebt zunächst die Schriftstellerin, die über ein Haus verfügt. Sie sucht ihren Lektor öfters im Verlag auf, um sich mit ihm über ihren vierten, gerade im Entstehen begriffenen Roman auszutauschen. Als der Lektor sich in besagte Geheimkammer zurückzieht, wächst die Furcht der Autorin, enttarnt zu werden und ein ähnliches Schicksal wie ihre Mutter zu erleiden. Kurzfristig wird der alte Mann plötzlich verhaftet. Die junge Frau sucht die Behörde auf, damit sie sicher sein kann, dass ihm nichts geschehen ist. Im Zimmer des Beamten fordert man die Abgabe einiger persönlicher Daten und nötigt ihr einen seltsamen Tee auf:

Es roch wie ein Haufen vermodernder Blätter im Wald. Der Geschmack war erträglich, aber es erforderte Mut, dieses Gebräu hinunterzuschlucken, denn ich war mir ziemlich sicher, dass es irgendeine Substanz enthielt. Eine Substanz, die mich betäubte, um mir Geheimnisse zu entlocken oder meine Gene zu entschlüsseln.

Während Ogawa den Argwohn gegenüber dem System geschickt verdichtet, bezieht sie sich immer wieder auf die Arbeit ihrer textinternen Autorin, die kaum Fortschritte macht. Der Text im Text steht in einem osmotischen Bezug zur primären Erzählung. Er handelt von einer Schriftstellerin, die in einem Turmzimmer, genauer in einer Kirchturmspitze, eingesperrt ist. Ihr Wärter, ein seltsamer Dozent für Schreibmaschinenschreiben, ist offenbar ein perverser Kontrollfreak, wahlweise Sadist, der sie beim Essen unablässig beobachtet, ihren Körper wäscht und sie in „bizarre Kostüme“ kleidet. Im Laufe des Unterrichts hat sie mittlerweile die Stimme verloren mit dem Ergebnis, Gefühle und „den eigenen Willen nicht mehr zum Ausdruck bringen“ zu können. Ihr Existenzempfinden richtet sich ganz auf diesen Mann aus. Sie kann nur noch seine Worte verstehen und weiß, eines Tages wird sie sich wie „die nutzlos gewordenen Dinge im Turmzimmer“ auflösen und „eins werden mit diesem Ort.“

Die Struktur des Labyrinths

Als Text der ersten Schaffensphase Ogawas weist die Insel der verlorenen Erinnerung bereits die typischen Schauplätze der Autorin auf. Im Bereich der Motive und Szenarien sind dies die räumliche Begrenztheit und die herrische männliche Figur, die über die weibliche gebietet – die typische ogawaeske Psychodynamik. Die Struktur des Romans ist verzweigt, was für die Literatur der frühen 1990er kennzeichnend ist, einer Zeit, in der man komplizierteren künstlerischen Konstruktionen, hintersinniger Mehrdeutigkeit, sanfter Ironie und der literarischen Anspielung auf historische Stoffe noch viel abgewinnen konnte. In den 1990ern war die Phantastik, japanisch gensô bungaku, zu der man die Insel der verlorenen Erinnerung rechnen kann, ein äußerst beliebtes Genre – bis heute blieb die Sparte vor allem bei Autorinnen die literarische Tonart der Wahl. Ogawas Texte entfalten sich auf der Basis von sorgfältigen, ihren eigenen Reiz entwickelnden, sonderbaren Gestaltungen von Räumen, in denen die Ereignisse stattfinden. Im Fall des vorliegenden Romans beinhaltet das Umfeld, d.h. der Erzählraum der Hauptnarration (Inselversion), als wesentliche Orte die Insel, die alte Fähre, das Haus der Protagonistin, die Vogelbeobachtungsstation des Vaters, die Werkstatt der Mutter und die geheime Kammer. Im sekundären Text im Text (Turmversion) erscheint als die zentrale Lokalität die gefängnisartige Kirchturmspitze. Nicht zufällig besitzen die Örtlichkeiten ein gewisses Eigenleben mit merkwürdigen Absorptionsfähigkeiten, die sie als psychische Zentren ausweisen. 

Offensichtlich ist die Referenz auf Anne Franks Tagebuch, wenn Ogawa die Themen Überwachung und Deportation in einem totalitären Regime aufgreift oder von Razzien, Bücherverbrennung, Passierscheinen und Helfern, die Verfolgte verstecken, erzählt. Erwähnung findet zudem das bekannte Zitat aus Heinrich Heines Tragödie Almansor (1823), die die spanische Vernichtung islamischer Bücher theologischen, philosophischen, historischen und naturwissenschaftlichen Inhalts (mit Ausnahme von Medizin) im Jahr 1499 kritisiert: „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Unterhalb der historisch-komparatistischen Dimension verlaufen nun persönlichkeitspsychologische und allegorische Deutungslinien: Das Motiv der verschwundenen Dinge bis hin zur Selbstauflösung der berichtenden Instanz – die sich schließlich auf beiden Textebenen vollzieht – entspricht einem psychiatrischen Krankheitsbild: Im Falle des sogenannten Gedankenentzugs, einem Symptom der Ich-Störung, erlebt der Patient eine Fremdsteuerung. Sie manifestiert sich als subjektives Fehlen von Gedanken, was in Form eines ‚Wegnehmens‘ zu geschehen scheint. Auch dem psychoanalytischen Schema nach wäre die Konstellation Frau-Alter Mann-Lektor ergiebig: Das weibliche Selbst, die Schriftstellerin, deren männlichen Seelenanteil (Animus) der ‚Lektor‘ darstellt, während der ‚alte Mann‘ die handlungsfähige Rationalität, d.h. positive, selbstschützende Kräfte verkörpert – er stirbt gegen Ende des Romans, bevor sich das Ich der Frau desintegriert.

Als allegorische Ebene innerhalb der Dystopie einer zeitlosen Diktatur ergäbe es Sinn, wenn sich das Verschwinden bestimmter Dinge auf Lebensstile, Professionen und Institutionen bezöge: Das Verbot der Fähre entspräche dann einem Reiseverbot, das das Regime verhängt; das Verbot von Parfüm einer Untersagung von Luxus; das Verbot der Rosen dem Verbot von Schönheit und Poesie; das Verbot der Vogelwarte dem Verbot von Naturwissenschaft; das Verbot der Arbeit der Mutter dem Verbot von (bildender) Kunst. Wird schließlich der Roman verboten, schafft man damit die Literatur und mit dieser die Erinnerung durch Aufzeichnung ab. Konsequenterweise vernichtet eine solche Verbotsorgie die Existenz der Menschen, aber am Ende wohl auch die des Regimes. Ein Plädoyer für Freiheit, Kunst und Wissenschaft?

Um den Blickwinkel erneut vom Systemischen zum Innenleben der Person zu wechseln: Eine selbstironische Lesart empfindet die Situation einer Autorin mit Lektoren-Neurose nach. Ob Ogawa auf die Heine nicht angenehmen Eingriffe des damaligen Regisseurs in das Theaterstück Almansor hinweist, der als strenger ‚Lektor‘ den Dichter kujoniert und den Text in zwei Akte unterteilt, bliebe nur Spekulation. Im Sekundärtext (Turmversion) gewinnt der Lektor mit seiner Allmacht und mechanistischen Präzision, der die ‚Stimme‘ der Autorin in seine Gewalt bringt, die Oberhand. Im Primärtext (Inselversion) sorgt die Autorin für ihren Betreuer, wünscht sich sogar intime Nähe zu ihm, was durch die sexuelle Vereinigung der Schriftstellerin mit dem Lektor gemeint sein könnte, zu der es wenige Male kommt; zum Beispiel übernachtet die Protagonistin in der Geheimkammer, als beide nach der Razzia im Haus unter Schock stehen und dringend des Trosts bedürfen.

Eine umfassende Allegorie des Schriftstellerdaseins legte die Variante nahe, in der das Ich der Schaffenden in den Text eingeht. Oberste Haut der narrativen Zwiebelkonstruktion bildete zuletzt noch die molekularbiologisch-kosmologische Interpretation. An einer Stelle des Romans ist die Rede davon, dass die Inselbewohner kaum etwas hervorbringen könnten, das „es mit den verschwundenen Dingen aufnehmen könnte.“ Mit deren Auslöschung verbinde sich ein „Energieverlust“, der nur schwer aufzuwiegen wäre. Die Insel der verlorenen Erinnerung beschriebe – dieser These nach – eine Zunahme der Entropie, die von der Zerstörung der Ordnung bestehender geordneter Strukturen profitiert: Jedes Objekt absentiert sich, um nur noch die Kälte und Schwärze des Nichts zu hinterlassen. Aus der Kraft des „Herzens“, einer sich stets neu generierenden kosmischen Energie, speist sich dann wieder neues Leben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Yoko Ogawa: Insel der verlorenen Erinnerung.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2020.
352 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783954381227

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