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Neue Gedichte von José F.A. Oliver

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die hohe Kunst des eminenten Dichters und großartigen Essayisten José F.A. Oliver kennenlernen möchte, sollte nicht mit diesem Buch anfangen. Man könnte mit seinem schönen Band 21 Gedichte aus Istanbul 4 Briefe & 10 Fotow:orte (2016) beginnen, auch mit früheren Gedichtsammlungen, oder mit den klugen Essaybänden Mein andalusisches Schwarzwalddorf (2007) und Fremdenzimmer (2015). „Der einzigartige Zusammenklang seiner außergewöhnlichen Wortkreationen und das Echo verschiedenster Sprachräume fasziniert am lyrischen Werk von José F.A. Oliver“, hatten Immacolata Amodeo und Heidrun Hörner schon 2010 festgestellt: „In seiner verdichteten Lyrik treibt er die deutsche Sprache über ihre Grenzen hinaus und fordert Gefühle und Gedanken des Lesers heraus.“

Auch in wundgewähr treibt der im Schwarzwald lebende Autor, Chamisso-Preisträger von 1997 und Erfinder des Hausacher „LeseLenz“, die deutsche Sprache über ihre Grenzen hinaus. Doch zu oft läuft seine überdrehte Sprachmaschine leer, und nur selten fordert er Gefühle oder Gedanken seiner Leser heraus. Ob der auf Seite 18 erwähnte Großvater seine Aufforderung „Spiel mit der Sprache, spiel“ wirklich so gemeint hatte? In wundgewähr ist aus den nicht nur seiner „Göttin“ Friederike Mayröcker verpflichteten, im kritisch-subversiven Sinne anregenden Sprach- und Sprachenspielereien der vorangegangenen Gedichtbände eine weitgehend sinnfreie Marotte geworden, eine fast schon manisch durchgezogene „Masche“.

Sprachzertrümmerung um jeden Preis wird zur Mechanik, und das geht auf Kosten der Inhalte. Wenn man existentiell Bewegendes wie Flucht, Tod, Liebe oder Glauben so zurichtet wie hier, beansprucht die sprachliche Form alle Aufmerksamkeit und lässt den Inhalt zweitrangig werden – ob es um Weihnachten geht oder um eine Zugverspätung, ist dann nicht mehr wirklich wichtig. Oliver kann alles, aber er will zu viel. Es braucht Geduld und Disziplin, um wundgewähr bis ans Ende durchzustehen. Der sinnlich-ästhetische Genuss hält sich in Grenzen, der intellektuelle Ertrag ebenfalls. Oder, um die ersten Zeilen des auf Seite 73 stehenden Texts zu zitieren: „was mir ab- / fiel am heutigen gewahr / sam NACHT, die / 1 martinisommer war & / als bett- / lektüre lag ‚Der Steppenwolf‘. Ich / habe mich & habe mich / & nicht als trost / im kaffee (im satz / um satz) erotisch fort- / gelesen (was immer das be / deuten mag)“.

Durchaus ähnlich klingen die meisten der hier versammelten Wortgebilde. Das Spanische, öfter und intensiver eingesetzt als in den früheren Gedichtbänden, erhält eine das gesamte Buch fast schon tragende Rolle, weitere Sprachen und Kulturräume treten hinzu, und selbstverständlich hat das Textgeschehen immer mit „meiner mehrkulturellen Wahrnehmung der Dinge“ zu tun – „& versuche zu ahnen was das heißt / das eigene im fremden & das fremde im eigenen“. Ja, der lustvolle Sprach(en)spieler Oliver findet oft überraschende Auswege aus dem „wort- / losen dickicht der sprachwurzelblindheit“. Auch das politische Weltgeschehen bleibt, wie immer bei diesem Dichter, keineswegs ausgeklammert: „1000 russische soldaten in der Ukraine“ tauchen ebenso auf wie „die namenlosen die SIN-PAPELES“, derer mit verrätselten Versen wie „‚1 hochrisiko 1 kapital‘ & im altw:ort neugeschöpft / die nachertrunkenen die heuer / gen Lampedusa. Dort / kentert was b:leibt“ gedacht wird.

Einige Gedichte verweisen auf Größen der Weltliteratur oder der Philosophie, ohne dass der inhaltliche Bezug zu ihnen immer deutlich wäre. Federico García Lorca ist allgegenwärtig. Mehrfach wird auf Kolleginnen und Kollegen angespielt, auf Daniela Seel etwa oder auf Lutz Seiler. Andere Texte sind ihnen explizit gewidmet, Joachim Sartorius zum Beispiel, Jürgen Brôcan, Sabine Gruber, Ulrike Draesner, Nora Gomringer, Artur Becker oder Volker Sielaff, dem der Fünfzeiler Im Schwarzwald, an einem geordneten Tag zugeeignet ist: „Volker war in den Wald gegangen. / Dort traf er zwei Jäger auf der Pirsch / & fragte, wonach sie jagten. / Es sei Schonzeit, sagten sie. / Sie ließen ihn gehen.“ Die meisten der hier versammelten Gedichte könnten den nachdenklichen Leser für sich einnehmen – wäre da nicht das ungezügelt überbordende und ihn letztlich ermüdende Füllhorn oft kaum nachzuvollziehender sprachlicher Eigenheiten: nach dem Zufallsprinzip mittig, rechts- oder linksbündig gesetzte Texte, merkwürdige Zeilenumbrüche, abrupte und unmotivierte Wechsel von Groß- und Kleinbuchstaben, willkürlich verstreute Klammern und Ziffern, durchgestrichene Wörter oder inflationär gesetzte „&“-Zeichen.

Es gibt auch Ausnahmen, die dem in orkangepeitschten Wörterstrudeln heftig herumgewirbelten Leser eine kurze Rast gewähren – das Gedicht weihnachtsmarkt, für das man seinen Autor umarmen möchte, geht so: „die schönen dinge / sind nicht mehr / schön, wenngleich // die schönen dinge / damals andere / waren, als du sie noch // die schönen dinge / haben ihren namen / verloren, weil // Du / nicht mehr bist / der sie benennen würde“. Dennoch: Mit dieser fugenlos Text an Text reihenden Sammlung, die sich selbst zu genügen scheint und keinerlei Brücken zum Leser bauen möchte, hat sich José F.A. Oliver keinen Gefallen getan. Der oft ratlose Leser findet keine wirklich stichhaltige Antwort auf die Frage „was b:leibt?“, die über folgenden Versen steht: „im dunkel / k:ein dunkel / im licht / k:ein licht / im licht / k:ein dunkel / im dunkel / k:ein licht / das b:liebe“.

Titelbild

Jose F.A. Oliver: wundgewähr. Gedichte.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
222 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575654

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