Poetischer Luftkutscher und Erinnerungsarbeiter
Ludwig Harig (4.7.1927–5.5.2018)
Von Werner Jung
Was wäre die deutsche Gegenwartsliteratur ohne ihre Alten, die Generation 80+? Ohne de Bruyn, Grass, Kunert, Lenz, Walser, Wellershoff. Ganz ganz arm! Einer, der immer an vorderster Front gestanden hat, Ludwig Harig, ist nun am 5. Mai in seinem Geburtsort Sulzbach (Saar) gestorben. Seine Lebens- und Altersweisheit hat der saarländische Schriftsteller einmal poetisch im Sonett Allein die Liebe beschrieben – widersprüchlich, ja paradox. „Nichts ist von Anfang an“, lesen wir da in der dritten Strophe, die das Erdentreiben des Menschen folgendermaßen zusammenfaßt: „Der Mensch muß spekulieren,/ muß,/ trachtet er nach Sinn,/ Geschichten fabulieren,/ sonst wird er unbemerkt/ von dieser Welt verschwinden.“ Wohingegen dann die vierte und letzte Strophe behauptet: „Die Welt ist öd und leer./ Der Mensch muß phantasieren,/ muß sich das ganze Sein zusammenfabulieren./ Allein die Liebe ist,/ sie muß man nicht erfinden.“
Schreibarbeit ist Lebensarbeit, die poetische Luftkutscherei, worin Ludwig Harig wiederholt den Kern seines Schreibens gesehen hat, ist die einzige ihm probate Möglichkeit, das Leben und die Wirklichkeit spielerisch in den Griff zu bekommen. Denn nur die erfundene Wahrheit mache frei – getreu der Schillerschen Formel, die Harig hartnäckig verteidigt, dass das Reich der Phantasie das einzige sei, aus dem man nicht vertrieben werden könne. So erschreibt und erfindet bzw. erzählt und erschafft sich Ludwig Harig seit den späten 50er, frühen 60er Jahren, damals noch geprägt von Max Benses Stuttgarter Schule und der ‚Konkreten Poesie‘, seit den 80er Jahren dann vor allem als Erzähler von (auto-)biographischer Prosa, einen gigantischen Kosmos.
Eine hübsche Trouvaille ist der Bericht über eine Begegnung zwischen dem schwäbischen Schriftsteller Hermann Lenz und Ludwig Harig bei einer der legendären Lesungen in der Buchhandlung Niedig in Stuttgart, dem ‚Stammsitz‘ von Max Benses Stuttgarter Schule der Konkreten Poesie, irgendwann Mitte der 60er Jahre. Dazu schreibt Lenz in seinem autobiographischen Roman „Seltsamer Abschied“ (1988): „Am Boden hockte ein Mann mit dickem Kopf, geröteten Backen und Goldplomben in den Zähnen. Er lachte und schaute an Eugen vorbei; denn auch er huldigte dem Konstruktivismus, wahrscheinlich weil er als Volksschullehrer ein Gegengewicht brauchte. Zuweilen aber sagte der, Schreiben sei für ihn soviel wie Essen, und Appetit habe er immer.“
Diesen ‚Schreibappetit‘ werden alle bestätigen können, die Ludwig Harig gekannt haben oder zumindest ihm einmal begegnet sind. Und die Lust am Erzählen – auch am mündlichen – hat er lebenslang versprüht, was ihm kein Geringerer als eben der frühe Meister, Max Bense, immer angekreidet hat.
Vor allem in Romanen und Erzählungen, etwa in der autobiographischen Trilogie Ordnung ist das ganze Leben (1986), Weh dem, der aus der Reihe tanzt (1990) und Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf (1996) oder Spaziergänge mit Flaubert (1997), legt er Zeugnis einer Poetik der Erinnerung ab. Freilich nicht – schlechten naturalistischen Eingedenkens – darüber, wie etwas gewesen ist, sondern vielmehr wie etwas hätte gewesen sein können, z. B. das Leben des eigenen Vaters, das mitnichten bloß entlang der dürren äußeren Fakten rekonstruiert und beschrieben wird, sondern das im Akt des Schreibens und Erzählens zum zweitenmal erfunden wird. Dazu heißt es im ersten Kapitel des Vaterromans Ordnung ist das ganze Leben: „Doch die Luft, die er so lebensvoll atmete, zerplatzt mir in lauter Seifenblasen aus Wörtern, und wenn ich den Mund aufmache und zu erzählen beginne, zerstiebt ein halbes Jahrhundert zwischen meinen Lippen in einzelne Silben, die ich immer und immer wieder neu zusammensetzen muß zu Wörtern, die ich jetzt noch gar nicht kenne.“
Zuletzt erschienen ist: Ludwig Harig: Weh dem, der aus der Reihe tanzt. Roman. Kommentierte Ausgabe mit Dokumenten und Fotografien herausgegeben von Werner Jung. München, Hanser, 2017.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen