DAS ANATOMISCHE WUNDER

(1981)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Martin Walser zu rühmen, bin ich bestellt. Martin Walser zu loben, bin ich, glaube ich, berechtigt und vielleicht sogar berufen – und nicht obwohl, sondern eben weil ich ihn oft auch getadelt habe. Unser täglich Lob gib uns heute – so lautet das heimliche Gebet der Schriftsteller und übrigens auch der Kritiker. Viele Arten des Hungers kennt man, und irgendwie und irgendwann läßt sich jeder stillen – auch der Hunger nach Liebe, nach Macht. Nur dieser nicht. Ja, es ist gerade umgekehrt: Je mehr man von der begehrten Speise bekommt, desto mehr ist man ihrer bedürftig: Je berühmter ein Schriftsteller, desto größer seine Gier nach Ruhm. Der Erfolgreiche will in der Regel noch erfolgreicher sein.

Vor dem alten Goethe verneigte sich die zivilisierte Menschheit. Als aber sein Roman Die Wahlverwandtschaften in einer kleinen Provinzzeitschrift, in dem Morgenblatt für gebildete Stände, respektvoll gewürdigt wurde, da hat Goethe, ungeachtet der Tatsache, daß das Morgenblatt bei seinem Verleger Cotta erschien, sich nicht geniert, auf eigene Kosten einen Sonderdruck dieser Kritik an fertigen zu lassen und ihn an seine Freunde zu verschicken: Alle sollten erfahren, daß man ihn lobt.

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