Eine Kundgebung der Künstler und Dichter

Berliner Tageblatt. Jg. 47, 16. November 1918

Von Gerhart HauptmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Hauptmann

Es ist an der Menschheit in einem ungeheuren Maße gesündigt worden. Die zivilisierte Welt wurde zum Kriegslager und zum Schlachtfelde. Millionen der besten Söhne aller Völker ruhen in Gräbern. Die Gefallenen, brüderlich vereint, sind friedlich und stille. Auch bei uns hat der Waffenkampf aufgehört, nicht aber der Kampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes. Dieses Volkes, das einer künftigen gerechten Zeit in einer Glorie erscheinen wird.

Wir Gestalter mit Meißel, Palette und Feder, wir Baumeister und Musiker, Männer und Frauen, die wir vor allem Menschen und von ganzer Seele Deutsche sind, zweifeln nicht daran: unser Volk, unser Land wird bleiben und wird nicht untergehen. Aber wir sehen Volk und Land gerade jetzt auf die schwerste Probe gestellt. Es kommt darauf an, sie zu bestehen.

Wir haben es schaudernd erlebt, daß der Haß nicht fruchtbar ist. Die Liebe aber ist fruchtbar und schaffend, und sie strömt nur aus einem wachen Herzen. Laßt uns also nicht nur unser Brot mit den Brüdern teilen, die aus dem Felde heimkehren, wir wollen ihnen auch unsere wachen Herzen entgegentragen. Es ist endlich Zeit, daß eine große Welle der Liebe die verheerende Woge des Haßes ablöse.

Mit einer klaren und furchtbaren Logik wurde, man möchte sagen, menschliches Planen durch göttliches ersetzt. Aber obgleich es so ist und obgleich vor der Gewalt dieser so bewirkten Umwandlung jedes Volk zu zerbrechlich erscheint, erkennt doch der Sehende schon in dem, was sich, gleichsam von selbst, an neuer Form durchgerungen hat, das alte, kraftvoll besonnene Wesen des Deutschen unversehrt. Und wer lebt, wird in nicht allzu langer Zeit – dessen sind wir gewiß – den deutschen Boden reicher als je in Blüte sehen.

Seit einem Jahrtausend hat die deutsche Nation nichts erlebt, was an Bedeutung dem Ereignis der letzten Tage gleichzusetzen wäre. Wer es versteht, der fühlt seine unvergleichliche Macht. Seine Bedeutung ist unendlich viel tiefer, und es kommt auch aus ganz anderen Quellen her, als vielleicht jene meinen, deren weltgeschichtliche Pflicht es ward, es äußerlich zu vertreten. Wer wollte sich dieser eisernen Bestimmung entgegensetzen?

Heut hat das Volk sein Geschick in die Hand genommen. Keiner wird jetzt zurückstehen, dessen Kräfte im Nationaldienst verwendbar sind. Auch die neue Regierung möge mit uns rechnen, wo sie unser Wirken für ersprießlich hält. Keiner von uns wird zögern, im Wohlfahrtsdienste des Friedens das Seine von Herzen und nach Kräften zu tun.

Peter Behrens. German Bestelmeyer. Leo Blech. Walter Bloem. Lovis Corinth. Ludwig Dettmann. Max Dreyer. Georg Engel. Otto H. Engel. Herbert Eulenberg. Cäsar Flaischlen. Philipp Franck. Ludwig Fulda. August Gaul. Adele Gerhard. Walter Harlan. Gerhart Hauptmann. Hans Herrmann. Dora Hitz. Paul Oskar Höcker. Ludwig Hoffmann. Gustav Kadelburg. Arthur Kampf. Bernhard Kellermann. Fritz Klimsch. Friedr[ich] E. Koch. Käte Kollwitz. Ernst Koerner. Hermann Kretzschmar. Hans Land. Karl Langhammer. Hugo Lederer. Hildegard Lehnert. Arthur Lewin-Funcke. Max Liebermann. Ludwig Manzel. Otto Marcus. Hans Meid. Walter v. Molo. Alexander Roszkowski. Bruno Paul. Rudolph Presber. Georg Reicke. Gabriele Reuter. Fritz Schaper. Max Schlichting. Theo Schmuz-Baudiß. Rudolf Schulte im Hofe. Georg Schumann. Franz Schwechten. Leo Walter Stein. Richard Strauß. Eduard Stucken. Hermann Sudermann. Heinz Tovote. Louis Tuaillon. Clara Viebig. Hugo Vogel. Fedor v. Zobeltitz.

Gleichdenkende Berufsgenossen, denen diese Erklärung wegen der Kürze der Zeit vor ihrer Veröffentlichung nicht mehr zugesandt werden konnte, bitten wir, ihr beizutreten und Namen und Adresse einem der Unterzeichner mitteilen zu wollen.  

Editorische Hinweise von Michael Stark

Textgrundlage

Berliner Tageblatt. Jg. 47, Nr. 587, Morgen-Ausgabe, 16. November 1918, S. (2). Die redaktionelle Vorbemerkung nach der Überschrift lautet: „Uns geht folgende Kundgebung von Berliner Künstlern und Dichtern zu, die von  G e r h a r t   H a u p t m a n n  verfaßt ist.“    

Kommentar

Das kurz nach Kriegsende entstandene Manifest des prominenten Dramatikers, Schriftstellers und Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann (geboren am 15. November 1862 in Ober Salzbrunn in Schlesien; gestorben am 6. Juni 1946 in Agnieszków, dt. Agnetendorf, in Niederschlesien) dokumentiert die umstandslose Fortschreibung des Anspruchs vieler Autoren und Künstler, die durch kriegseuphorische Propaganda und Durchhalte-Publizistik bloßgestellt waren, auf moralisch-politische Autorität und eine geistig-kulturelle Führungsrolle. Acht der Mitunterzeichner, die Schriftsteller Herbert Eulenberg (1876 – 1949), Ludwig Fulda (1862 – 1939) und Hermann Sudermann(1857 – 1928), der Architekt und Maler Peter Behrens (1868 – 1940), die Maler Arthur Kampf (1864 – 1950) und Max Liebermann (1847 – 1935), der Bildhauer und Medailleur Fritz Schaper (1841 – 1919) sowie der Politiker und Autor Georg Reicke (1863 – 1923), hatten im September 1914 gemeinsam mit Hauptmann ihre Unterschrift unter den berühmt-berüchtigten Aufruf an die Kulturwelt! gesetzt. Statt das eigene kriegsliterarische Engagement selbstkritisch zu reflektieren, betrachtet man sich vielfach als schuldloses, durch das kaiserliche Regime irregeführtes ‚Opfer‘, dessen vaterländischer Loyalität und intellektueller Intervention die künftige Republik bedürfe.

Weiterführende Literatur: Klaus Scharfen: Gerhart Hauptmann im Spannungsfeld von Kultur und Politik 1880 bis 1919. Berlin: Tenea 2005.

Erläuterung

Als „neue Regierung“ fungierte nach Ausrufung der Republik der am 10. November 1918 von Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) gebildete Rat der Volksbeauftragten, der das im Amt verbliebene Regierungskabinett beaufsichtigte. Er war bis zum 29. Dezember aus Politikern beider Parteien zusammengesetzt und nach Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 vor allem mit der Demobilmachung befasst. Die Kooperation im Rat der Volksbeauftragten scheiterte am Dissens zwischen den Anhängern einer parlamentarischen Demokratie und den Verfechtern einer revolutionären Räterepublik. Nach den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 löste die neue Regierung unter Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 – 1925) und Ministerpräsident Philipp Scheidemann (1865 – 1939) den Rat der Volksbeauftragten ab.