Programm am Vorabend der Revolution

Die Weltbühne. Jg. 14, November 1918

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Programm, das am Vorabend der Revolu­tion,
Freitag, am achten November, fertig vorgelegen hat.

Leitstern aller künftigen Politik muß die Unantastbarkeit des Lebens sein. Die Schöpfung zu heiligen, das Schöpferische zu schützen, die Sklaverei in jeglicher Gestalt vom Erdball zu fegen: das ist die Pflicht. Der Rat geistiger Arbeiter kämpft daher vor allem gegen die Knechtung der Gesamtheit des Volkes durch den Kriegsdienst und gegen die Unterdrückung der Arbeiter durch das kapitali­stische System. Er will persönliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Entschlossen zu rasche­ster und radikaler Durchsetzung der Gebote menschlicher Vernunft, ruft er auf gegen die Lau­en, die Vorsichtigen, die Verzögerer und begrüßt alle Methoden der Umwälzung, die nicht zur Anarchie, das heißt: zur Vernichtung der Kulturgüter und zur Blutherrschaft einer Minderheit führen. Aus dieser Gesinnung fordert der Rat geistiger Arbeiter

I.

Als Bürgschaften für die unbedingte Verhinderung des Krieges: Den Völkerbund mit Völkerparlament, das Zwangsschiedsgericht und, über diese Vorschlä­ge des Pazifismus hinaus, auf Grund eines Völkervertrages die Abschaffung der Wehrpflicht in allen Ländern und das Verbot aller militärischen Einrichtungen. Die internationale Exekution gegen den Friedensstörer hat allein durch wirtschaftliche Maßnahmen zu erfolgen. Die planmäßige Umwandlung der Gesinnung, insbesondere durch gründliche Änderung des Geschichtsunterrichts, der von freien Volksausschüssen kontrolliert werden muß.

II.

Förderung des Ausleseprozesses durch gerechte Verteilung der äußern Lebensgüter. Handarbeitern und Kopfarbeitern gebührt der volle Ertrag ihrer Arbeit, unverkürzt um den „Mehrwert“, den der kapitalistische Unternehmer bisher eingesteckt hat. Progressive Verkürzung der Arbeitszeit nach dem jeweiligen Stande der Produktionstech­nik; Wohnungs- und Siedlungspolitik; Arbeitslosenversicherung. Abschaffung aller indirekten Steuern; stärkste Progression der Einkommen- und Erbschaftssteuer. Vergesellschaftung von Grund und Boden; Konfiskation der Vermögen von einer bestimmten Höhe an; Umwandlung kapitalistischer Unternehmungen in Arbeiterproduktivgenossenschaften. Schutz der Konsumenteninteressen.

III.

Freiheit des Geschlechtslebens in den Grenzen der Verpflichtung, den Willen Widerstreben­der zu achten und die Unerfahrenheit Jugendlicher zu schützen. Beschränkung des Strafrechts auf Interessenschutz; durchgreifende Herstellung des Rechtes aller Männer und Frauen, über den eigenen Körper frei zu verfügen. Strengere Bestrafung vorsätzlicher und fahrlässiger Über­tragung von Geschlechtskrankheiten. Rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der un­ehelichen Kinder nicht nur, sondern auch der unehelichen Mütter mit den ehelichen.

IV.

Abschaffung der Todesstrafe; Recht des Verurteilten auf Freitod. Tötung auf ausdrückli­ches und ernstliches Verlangen des Getöteten bleibt straflos. Vermenschlichung des Strafvollzugs; durchweg Beschäftigungszwang anstelle der Zwangs­arbeit.

V.

Radikale Reformation der öffentlichen Erziehung. Einheitsschule: Unmechanische Auslese der Begabteren aller Stände für die Kulturschule. Ihr Besuch: unentgeltlich. Ihre Aufgabe: weniger Lern- als Denkschule zu sein, weniger Historie zu treiben als die Wege der Zukunft zu weisen, weniger zu praktischen Beru­fen als zu ideelichem Leben anzuleiten. Beseitigung des Vorgesetztenverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler. Weitgehende Beteiligung der Schüler an der Verwaltung der Schule. Beaufsichtigung des Unterrichts durch Ausschüsse hervorragender Universitätslehrer. Fakultativität der alten Sprachen. Abschaffung des Abiturientenexamens. Die Absolvierung der Kulturschule berechtigt zum Besuch der Universität. Durch Abtrennung von Fachhochschulen für angewandte Wissenschaften, durch Einordnung der Theologie in die philosophische Fakultät, durch freie Dozentur, durch Wahl der Professoren seitens studentischer Ausschüsse, die auf Grund gleichen, direkten und geheimen Verhältniswahlrechts gebildet sind, durch Beseitigung des Trink- und Duellzwanges, durch unbeschränkte Freiheit der politischen Diskussion und Aktion sämtlicher Hochschul­bürger, durch allgemeine Entgreisung des Lehrbetriebs soll die Universität wieder zur Hoch­burg des Geistes werden. Neben den Universitäten Volkshochschulen in möglichst großer Zahl, jedermann zugänglich. Säuberung der Presse vom Unrat der Korruption, von nationalistischer Verhetzung und feuilletonistischer Verdummung. Preßgerichtshöfe, bestehend aus bewährten Publizisten gei­stiger Richtung, zur Aburteilung über jeden unanständigen journalistischen Akt. Preßfreiheit; Vereins- und Versammlungsfreiheit; Freiheit der Schule, der wissenschaftli­chen Forschung, der philosophischen Lehre und der Kunst von jeder staatlichen Bevormun­dung.

VI.

Trennung von Kirche und Staat. Beseitigung des konfessionellen Unterrichts an allen Schu­len. Dafür Morallehre; philosophische Propädeutik.

VII.

Sicherung und Ausbau der gesamtdeutschen sozialen Republik. Auflösung der bundesstaat­lichen Sonderformationen; weitgehende Selbstverwaltung der deutschen Stämme; ebenso der Kommunen und ihrer Verbände. Der Reichstag: Nach wahlkreislosem Verhältniswahlrecht zu wählen. Gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht aller über zwanzig Jahre alten Reichsangehörigen beiderlei Geschlechts. Wählbarkeit der Frauen. Dreijährige Legislaturperiode. Daneben, zur Beseitigung der Gefahr einer Beeinträchtigung der Kulturpolitik durch einsei­tig wirtschaftliche Gesichtspunkte und zur Ausgleichung der Schäden parteibürokratischer Erstarrung: Der Rat der Geistigen. Er entsteht weder durch Ernennung noch durch Wahl, sondern – kraft der Pflicht des Geistes zur Hilfe – aus eigenem Recht, und erneuert sich nach eigenem Ge­setz. Die Regierung: In den Händen eines Ausschusses von Vertrauensleuten des Reichstags und des Rates; bevor der Rat zusammentritt, eines Ausschusses von Vertrauensleuten des Reichs­tags. Der Präsident der Deutschen Republik: Auf begrenzte Zeit vom Reichstag auf unverbindli­chen Vorschlag des Rates zu wählen; vor Konstituierung des Rats allein vom Reichstag. Der Rat geistiger Arbeiter glaubt, daß unter dieser Verfassung, welche den demokratischen Gedanken vollendet und die Führung durch die Besten gewährleistet, eine Politik der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Vernunft am ehesten möglich und am wirksamsten gesichert ist. Der Rat geistiger Arbeiter sucht alle Menschen zu sammeln, die sein Ziel bejahen. Kamera­den, unterstützt uns! Vorbedingung zur Durchführung dieses Programms ist die Einberufung einer konstituieren­den Nationalversammlung, auf Grund des allgemeinen gleichen, direkten und geheimen Ver­hältniswahlrechts. Sie ist nach Herstellung der Ordnung sofort mit aller Kraft zu verwirkli­chen. Kameraden, unterstützt uns! Kameraden, bildet Ortsgruppen! Kameraden, sagt uns Eure Vertrauensleute, die sich zum Geist dieses Programms bekennen. Krittelt nicht! Es kommt nur auf den Geist an. Kameraden, unterstützt uns! Helft uns die kulturpolitische Radikale durchsetzen auf dem Boden der sozialen Republik!

Editorische Hinweise

Erstdruck und Vorlage für die erneute Veröffentlichung ohne den hier vorangestellten Titel: Rat geistiger Arbeiter. In: Die Weltbühne 14 (1918), Nr. 47,21. Novem­ber, S. 473-475. Mit geringfügigen Änderungen wurde das Programm wieder abgedruckt in: Das Ziel. Jahrbücher für gei­stige Politik. Hg. von Kurt Hiller. Jahrbuch 111. 1. Halbband. – Leipzig: Kurt Wolff 1919, S. 219-223. Folgende Unterzeichnerliste hat Hiller hier dem Dokument beigefügt:

Zum Geist dieses vorläufigen Programms haben sich u. a. bekannt:
Lou Andreas-Salome (Hannover), Lucian Bernhard, Bund der geistig Tätigen, Wien (Vorsitzender: Dr. Franz Kobler), Dr. Richard Nicolaus Graf Coudenhove (Pöstlingberg bei Linz a. D.), Kasimir Edschmid (Darmstadt), W. E. Axel von Fielitz, Dr. Hans W. Fischer (Hamburg), Otto Flake (Zürich), Dr. Alfred H. Fried (Bern), Dr. Manfred Georg, Dr. Alfons Goldschmidt, Prof. Dr. Albert Görland (Hamburg), Willi Handl, † Wilhelm Herzog, Werner Richard Heymann, Dr. Kurt Hiller, S.-R. Dr. Magnus Hirschfeld, Ar­thur Holitscher, Willy Jaeckel, Dr. Rudolf Kayser, Annette Kolb (Bern), Berta Lask, Moritz Lederer (Mannheim), Rudolf Leonhard, Dr. Leo Matthias, Dr. Walter Meckauer (Breslau), Ludwig Meidner, Mo­ritz Melzer, Carlo Mierendorff (Darmstadt), Alexander Moissi, Robert Müller (Wien), Max Freiherr von Münchhausen (Burg i. Spreewald), Dr. Robert Musil (Wien), Hans Natonek (Leipzig), Heinrich Nienkamp, Dr. Kurt Peschke, Dr. Kurt Pinthus, Politischer Rat geistiger Arbeiter München (Vorsitzender: Heinrich Mann), Hermann Rahtien (Bremen), Dr. Hans Reichenbach, Walther Rilla (Breslau), Rene Schickele (Bern), Hermann Schüller, Egmont Seyerlen, Dr. Hugo Sinzheimer (Frankfurt a. M.), Dr. Martin Sommerfeld (München), Franz H. Staerk (Sigmaringen), Dr. Friedrich Sternthal (Dresden), Dr. Helene Stöcker, Bruno Taut, Dr. Frank Thieß, Fritz von Unruh, Prof. Dr. J. M. Verweyen (Bonn), Gustav von Wangenheim, Carl M. Weber (Coblenz), Prof. Dr. Eduard Wechssler (Marburg), Dr. Armin T. Wegner, J.-R. Dr. Johannes Werthauer, Willi Wolfradt, Kurt Wolff (Leipzig), Dr. Gustav Wyneken, Paul Zech.

In seiner Präsidialrede Wer sind wir? Was wollen wir?, die Kurt Hiller am 2. Dezember 1918 vor einer vom „Politischen Rat geistiger Arbeiter“ einberufenen Versammlung im Berliner Blüthnersaal hielt, be­richtete er von der Genese des Dokuments und der Namensänderung der Gruppierung:

Der 9. November traf uns nicht unvorbereitet. Am 8. war unser punktiertes Programm (Sie kennen es; sein Kern stand schon 1915 fest) durchberaten und textlich fertiggestellt; am 10. konstituierte sich im Reichstag der Aktivistenbund als ‚Rat geistiger Arbeiter‘. Der Name, den wir aus der Situation heraus rasch gewählt hatten, gab dann leider zu Mißverständnissen Anlaß; man verwechselte ‚Rat‘ mit ‚Bera­tungsstelle‘ und hielt uns für ein Stellenvermittlungsbüro (Kurt Hiller: Ratioaktiv, Reden 1914-1964. Ein Buch der Rechenschaft. Wiesbaden 1966, S. 21).

Zur Vermeidung weiterer Fehleinschätzungen setzte Heinrich Mann, der Vorsitzende des Rates, daraufhin die Kennzeichnung „politisch“ vor den Namen der Organisation. Einen kritisch-informativen Überblick über Entstehung und Funktion dieser In­tellektuellenräte gibt Moritz Geiger: Die Räte geistiger Arbeiter. In: Süddeutsche Freiheit 1 (1918/19), Nr. 21 vom 7. April 1919, S. 3:

Nach dem Vorbild anderer Arbeitergruppen haben sich auch die „Kopfarbeiter“ – Musiker, Universi­tätsprofessoren, Schriftsteller, Rechtsanwälte, bildende Künstler, Ärzte und die Vertreter vieler anderer geistiger Berufe – zu „Räten geistiger Arbeiter“ zusammengeschlossen. Vom allgemein theoretischen Ge­sichtspunkt aus kommt dieser Tatsache keine besondere Bedeutung zu; – diese politisch neutrale Berufs­organisation der „Geistigen“ ist eine Berufsorganisation unter vielen anderen, die nur insoweit eine beson­dere praktische Wirksamkeit gewinnen kann, als sie imstande ist, der Allgemeinheit Sachverständige für alle möglichen Fragen zur Verfügung zu stellen. Zu beanstanden ist nur, daß diese Berufsorganisationen der Geistigen sich gerade den Namen „Räte“ beilegten (in neuester Zeit haben sie freilich vielfach ihren Na­men geändert). Wenn der Rätegedanken irgendeinen spezifischen Sinn haben soll, so muß er an die Einheit des Betriebes, nicht an die Einheit des Berufes anknüpfen. Nur als Angehörige desselben Betriebes finden die Schlosser, Monteure, Schreiner, Maurer, Bureauangestellte sich zur Wahl von Räten vereinigt; als An­gehörige ihres Berufes dagegen verbleiben sie in ihren Gewerkschaften – dem Metallarbeiterverband, dem Holzarbeiterverband usw. Wo aber ist der Betrieb, in dem der Musiker und der Arzt, der Bildhauer und der Professor für Sanskrit in gleicher Weise beschäftigt sind? So sollten sich die Berufsgemeinschaften gei­stiger Arbeiter nicht hinter den Namen von Räten verstecken, sondern als Gewerkschaften Farbe beken­nen.
An einigen Orten hat sich jedoch noch ein anderer Typus von Räten geistiger Arbeiter herausgebildet. Sie nennen sich „politische Räte geistiger Arbeiter“, um darzutun, daß sie nicht bloße Standesvertretungen sein, sondern politische Gesinnungsgemeinschaften darstellen wollen. Den Namen „Rat“ führen sie frei­lich ebenso zu Unrecht wie die geistigen Gewerkschaften.
Diese „politischen Gemeinschaften geistiger Arbeiter“, wie ich sie am liebsten nennen möchte, wollen Sachwalter des Geistes im öffentlichen Leben sein –; und als solche könnten sie eine ungeheure Bedeutung für das Werden einer neuen Zeit gewinnen. […] Sie besitzen die geistige Schulung, die den einen fehlt, sie können sich freimachen von der Routine, welche die anderen beengt. Und so sind sie die Berufenen, die neuen Ziele aufzuspüren, die neuen Pfade ausfindig zu machen, welche die Praktiker gehen können, und in den Gemütern der Menschen diesem Neuen den Weg zu bereiten.
Wenn der Berliner politische Rat geistiger Arbeiter es als eine seiner Hauptforderungen aufstellt, zu­sammen mit der Nationalversammlung das Reich regieren zu wollen, so fehlt ihm die Bescheidenheit jener Geistigen, welche die neue Zeit heraufführen sollen. Woher nehmen diese Journalisten, Schriftsteller und Künstler das Recht, sich vor aller Leistung als zur Herrschaft berufen anzusehen? Auch der Geistige muß erst beweisen, daß er Träger des wahren Geistes ist – durch sein Wirken muß er es offenbaren, nicht aber durch seine Ansprüche.
Was uns not tut, ist die Gemeinschaft von Geistigen, bei denen der Geist aus dem Herzen und nicht nur aus dem Kopfe stammt, aus dem Charakter und nicht aus der Schulung, aus dem Rückgrat und nicht aus der Regsamkeit. Wir brauchen Weise, nicht Vielwissende, die Wahrheit Suchende, nicht die Wahrheit Be­sitzende, Schaffende, nicht Machende. Aus Gemeinschaften des Geistes, die solchen Herzens sind, fremd allem Hochmut, sachlich, suchend und verantwortungsbewußt, kann die innere Führung der neuen Zeit entstehen – mögen sie sich Bünde oder Räte oder Gemeinschaften nennen oder wie sonst.

Anmerkung der Redaktion: Das Dokument und die Editorischen Hinweise sind entnommen aus: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Mit Einleitung und Kommentaren herausgegeben von Thomas Anz und Michael Stark. Stuttgart: Metzler Verlag 1982 (Nachdruck 1990). Online auch als Sonderausgabe von literaturkritik.de erschienen und für Online-Abonnenten zugänglich seit dem 11.2.2016.