IA-5-88 – Basisgruppe Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum um 1968

Beitrag zu einem wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsprojekt

Von Klaus-Michael BogdalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Michael Bogdal

In memoriam Burkhardt Lindner, 31.10.1943–7.1.2015

Wir konnten alles, wir wussten alles, schon mit neunzehn: Über Marx und Freud, die Bedürfnis- und Bewusstseinsmanipulateure des Spätkapitalismus, die Nazivergangenheit der Deutschen, über die populäre Musik aus England und den USA, das politische Theater und den unabhängigen Film, über die Provokationen der Aktionskünstler und über alternative Lebensformen.

Was wir nicht wussten: Das alles war weit weg von der Welt unserer Professoren, meist jungen Hochschullehrern, die durch die Neugründung in Bochum einen Karrieresprung machen konnten. Sie kannten nicht, was uns wichtig war, oder es interessierte sie nicht. Deshalb wollten wir eigentlich immer irgendwann nach Berlin.

Wie die meisten Studenten der ersten Generation bin ich dennoch – wie die Mehrzahl der erstberufenen Professoren – in Bochum geblieben.

Den Studienbeginn bestimmten also riskante Größenphantasien mit einem enormen Vorrat an schöpferischen Energien auf der einen und vielfältigen Risiken des Scheiterns auf der anderen Seite. Im Protokoll eines Studentischen Seminars vom 27. Oktober 1969 findet sich eine Handlungsanweisung, die das auf lakonische Weise zum Ausdruck bringt: „[W]ir müssen mit unserem Gegner mithalten können (d.h. streng genommen: wir [sic!] müssen alle professorales Format haben).“ Man hätte sich ebenso gut auf zwei Verse eines in dieser Zeit viel gesungenen Liedes berufen können: „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, / Alles zu werden, strömt zuhauf.“

Mut machte ein Artikel des Berliner Altgermanisten Peter Wapnewski, schon allein wegen seiner Überschrift Die alte Germanistik und die jungen Studenten.[1] Ihn habe ich wie den Band Germanistik – eine deutsche Wissenschaft von Lämmert, Killy, Conrady und von Polenz bis heute aufbewahrt. Einer der bekanntesten und wichtigsten Literaturwissenschaftler dieser Jahre dachte öffentlich über sein Fach nach. Er nahm studentische Interessen ernst und äußerte sich dezidiert zu den Ereignissen vom 2. Juni und zur Tötung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin durch einen Polizisten. Vergleichbares war von Bochumer Germanisten nicht zu vernehmen.

In Münster und Bonn studierte man in Schlössern, in Bochum auf einer gigantischen Baustelle inmitten von Schlamm und Lärm. Der Campus über dem Ruhrtal veränderte sich ständig und wurde, anders als heutige Großbauprojekte, rasch fertiggestellt. Dass Studierende an der Universität ,mitbauen‘ und über Forschung, Lehre und Verwaltung mitbestimmen wollten, lag an diesem Ort nahe. Die Auseinandersetzungen darüber prägten die ersten Jahre und zeugen in der Rückschau von einer hohen Identifikation mit der ersten Ruhrgebietsuniversität. Widersprüche blieben. Man studierte in neuen Gebäuden und konnte in der Innenstadt die Ruinen aus Kriegstagen nicht übersehen. Man wollte über die NS-Vergangenheit reden und suchte vergeblich nach Gedenkorten für die vertriebenen und ermordeten Bochumer Juden. Und in den Vororten häuften sich die neuen Ruinen des sterbenden Bergbaus. In der DDR hätte man über diese Baustelle des Geistes im Reich der Arbeit einen Aufbauroman geschrieben und die Pioniere darin verewigt. In der BRD schrieb man, wenn schon, einen Campusroman. Urs Jaeggi, der Bochumer Soziologe, hat dies getan und seine Erfahrungen der Gründerjahre unter dem Titel Brandeis 1978 der Nachwelt übermittelt. Den Erzähler des autobiographischen Romans zerreißt das Leben zwischen der Selbstzufriedenheit und Ignoranz seines akademischen Umfelds und seinen wissenschaftlichen und persönlichen Aufbruchsversuchen. Als Student erfuhr ich die Widersprüche, von denen Jaeggi erzählt, eher als Antrieb für immer neue Anstrengungen, sie produktiv zu überwinden. Auch dies eine Größenphantasie, nicht nur erträumt, sondern nach endlosen Debatten zu Papier gebracht von der Theoriefraktion der Bochumer Basisgruppe Germanistik: „Beherrschend blieb die Hoffnung oder die Sehnsucht nach der Großen Strategie, die Studium, Freizeit, Beruf und Klassenkampf unter einen Hut brächte und zudem noch von wissenschaftlichem Niveau wäre.“[2]

Zu dem Spagat zwischen Studium und Politik zwei Fundstücke aus einigen Mappen, die ich längst für verloren geglaubt und nun auf der Suche nach Quellenmaterial für diesen Rückblick wiederentdeckt habe. Da ist einmal die zerknitterte Stimmkarte der Frankfurter Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) (vom 29. bis 31. März 1968), auf der u.a. beschlossen wurde, dass die „im vorigen Jahr ausgesprochene Einschätzung der Großen Chinesischen Kulturrevolution im wesentlichen richtig war“, und auf der ein Antrag des Berliner Landesverbandes zur Debatte stand, in dem es heißt: „Der SDS hat daher die Aufgabe, die Formen von punktueller Selbstorganisation der Massen ausserhalb der Wahl im Eingriff [sic!] in den Wahlkampf zu kombinieren und politisch zu strukturieren. Er wird auf Massenveranstaltungen die Illusion über die Repräsentation der Interessen der Arbeiterklasse im Parlament zerstören […].“

Und zum anderen meine erste, im Sommersemester 1968 in einem Seminar von Bernhard Asmuth zur Barocklyrik geschriebene Hausarbeit über die lateinische Marienhymne Ad Divinam Virginem assumptam in eius pervigilio von Jakob Balde. Wenn ich mir meine philologischen Kommentare über Bezüge zum Alten Testament, zur antiken Mythologie und zur frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit anschaue, sind sie von der selben Neugier bestimmt wie das Studium der Schriften von Marx, das durch eine vollgeschriebene Kladde und eine Hausarbeit über die Pariser Manuskripte bei Otto Pöggeler überliefert ist.

Die Mappen entreißen dem Vergessen noch Seltsameres: den freiwilligen (!) Besuch eines Seminars über Altisländisch und die Heldenlieder der Edda, abgeschlossen mit der Note „voll befriedigend“, Seminare über Gotisch, Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch. Überhaupt beanspruchte die Ältere Germanistik noch den größeren Anteil des Studiums. Von der Linguistik wurde sie erst nach 1970 verdrängt.

War das wirklich alles unter einen Hut zu bringen: Klassenkampf, Studium, Privatleben? Karin Struck, Arbeitertochter aus dem Ruhrgebiet, hat 1973 in ihrem Roman Klassenliebe (über ihn haben die Bochumer Germanisten Hans Adler und Hans Joachim Schrimpf einen Kommentarband herausgebracht) den Preis, der dafür zu bezahlen war, eindringlich beschrieben.

Über Universität und Stadt hat sich derweil die Legende verbreitet, dass in Bochum alles ein wenig anders war. Der Altgermanist und frühere Rektor Siegfried Grosse hat sie – nicht zu Unrecht – ebenso genährt wie der Germanistikstudent und frühere ASTA-Vorsitzende Horst Peter Kasper. Nüchternheit, Bodenständigkeit und Arbeitsethos der Umgebung hätten die Entwicklung in den Anfängen nachhaltig mitgeprägt. Für die Germanistik galt dies sicher auf besondere Weise. Ein Bochumer Flugblatt vom 28. November 1968 passte die Berliner Parole „Schafft die Germanistik ab!“ spielerisch der Ruhrgebietsmentalität an. Sie lautet hier: „schafft germanistik germanistik schafft“.

Mit den traditionellen akademischen Hierarchien unvertraut und bei Hilfskraftstellen z.B. mehr am Lohn als an der ,Auserwählung‘ durch einen Ordinarius interessiert, habe ich bis zur Promotion vor allem in der Neugermanistik den so genannten Mittelbau, die Assistenten, Akademischen Räte und Lektoren, stärker wahrgenommen als die Professoren. Jürgen Link, Jochen Schulte-Sasse, Renate Werner und Bernhard Asmuth schrieben viel beachtete Einführungen. Zusammen mit Wulf Wülfing, Marianne Schuller, Jochen Vogt, Manfred Schunicht und Heinrich Mohr präsentierten sie eine Vielfalt von Forschungsthemen, literaturwissenschaftlichen Theorien und Methoden und die Breite der Literaturgeschichte oder stellten wie Gerhard Mensching Bezüge zum Kulturleben der Gegenwart her.

Nicht zu vergessen der Sprachhistoriker Siegmund Andreas/Aaron Wolf, ein schwieriger Außenseiter, Kenner des Jiddischen und des Romanes, für dessen Festanstellung sich die Studierenden erfolgreich einsetzten. Wolf, den die FU Berlin 1964 – nach Eduard Berend und vor Robert Kennedy – durch eine Ehrenpromotion als einen Mann geehrt hatte, „der trotz eines harten und schweren Schicksals sich immer wieder mit zähem Eifer der wissenschaftlichen Forschung zuwandte“, erzählte in seinen Seminaren und danach viel und häufig Abenteuerliches und Widersprüchliches über sein Leben. Wohl niemals äußerte er sich (bei den Gesprächen, an die ich mich zu erinnern vermag) eindeutig über seine jüdische Herkunft. Die Bochumer Germanistik sollte irgendwann zu einer angemessenen Würdigung seiner Person finden.

Vielleicht ist die Stärke des ,Mittelbaus‘ einer der Gründe dafür, dass Hartmut Schnelle, der von 1976 bis 1997 in Bochum als Linguist lehrte, in seinem offiziellen, lehrstuhlorientierten Rückblick zum fünfundzwanzigsten Bestehen der RUB die Namen der Gründergeneration der Neugermanisten nicht mehr für erwähnenswert hielt. Das verwundert dann doch, zählte nicht zuletzt in den 1960ern z.B. die ZEIT Hans Joachim Schrimpf zu den fünf wichtigsten jüngeren Germanisten. Schnelle konzentriert sich auf die Bochumer Zeitschrift Poetica und vergisst die von Jürgen Link gegründete Kulturrevolution (beide bestehen noch heute) oder das von Paul G. Klusmann gegründete „Institut für Deutschlandstudien“ und weiß über die Auseinandersetzungen um Studienstrukturen und -inhalte, über Forschungen und Publikationen (wie die Arbeiten von Schulte-Sasse zur literarischen Wertung) nichts zu berichten.

Die neugermanistischen Professoren, deren Vorlesungen man vom ersten Semester an, deren Seminare man aber erst nach einer Zwischenprüfung besuchen durfte, pflegten ihre Stärken und Eigenarten. Bei Hans Joachim Schrimpf wurde die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts mit Enthusiasmus gelesen und die Sozialgeschichte herangezogen, bei Klaus Günther Just wurde die Sozialgeschichte verdammt, aber die Gegenwartsliteratur mit ästhetischer Verve betrachtet. Paul Gerhard Klusmann, der zuletzt berufene Ordinarius und Wunschkandidat der Studentenschaft, der thematisch zwischen Romantik und Klassischer Moderne wanderte, ließ den Studierenden die größten Spielräume bei der Werkinterpretation und der methodischen Herangehensweise. Ingrid Strohschneider-Kohrs, deren Publikationen aus dieser Zeit ich erst Ende der 1990er zur Kenntnis genommen und fachgeschichtlich gewürdigt habe (worauf sie mit einem Brief freundlich reagiert hat), konnte mit uns Schmuddelkindern aus dem Ruhrgebiet vermutlich wenig anfangen. Obwohl damals erst Mitte vierzig war sie auffällig darauf bedacht, den professoralen Habitus zu kultivieren und darüber hinaus eine Aura des Unzugänglichen und Unerreichbaren zu verbreiten. Sie kontrollierte den Zugang zu ihren Veranstaltungen, ließ sich die Aktentasche in den Hörsaal bringen und die Leselampe anknipsen. Die Sekretärin musste sie dorthin begleiten. In den wenigen Begegnungen, u.a. in meiner Funktion als Fachschaftssprecher, in denen ich zu erklären versuchte, weshalb wir auch in ihrer Vorlesung auf der Möglichkeit beharren würden, Fragen zu stellen und zu diskutieren, traf ich auf sehr enge Vorstellungen von wissenschaftlicher Qualität und auf ein akademisches Ethos, das blind machte für die erkenntnisfördernde Dimension selbst noch von Dialogen unter ,Ungleichen‘. Die akademischen Initiationsriten, auf die sie offensichtlich Wert legte, waren den meisten von uns fremd, sodass man sich trotz ihrer reizvollen Themen wie Georg Büchner, Lessing oder Poetik und Ästhetik am Ende in den Veranstaltungen der anderen Lehrenden wiederfand. Heute ahne ich allerdings, welchem fachinternen Druck sie damals als einzige Frau auf einem Lehrstuhl für Germanistik in der gesamten BRD ausgesetzt gewesen sein muss.

Als 1969 der Zerfall der Studentenbewegung begann und gleichzeitig Arbeiter mit ihren Gewerkschaften (oder auch ohne sie) durch eindrucksvolle Streiks lange aufgeschobene Forderungen nach höheren Löhnen, kürzerer Arbeitszeit und Mitbestimmung durchsetzen, wurde ich zum Sprecher der Fachschaft Germanistik gewählt. Meine ,Amtszeit‘ war neben dem Ringen um paritätische Mitwirkung in den universitären Gremien durch zwei Konflikte bestimmt: Die erfolgreiche Forderung nach Abschaffung der Zwischenprüfung und die Einrichtung einer Kommission für das Grundstudium und die Fundamentalkritik an der Vorlesung als Vermittlungsform. Hinter der Abschaffung der Zwischenprüfung stand die große Mehrheit der Studierenden. Durch ihr Erscheinen auf der entscheidenden Institutssitzung verliehen sie der Forderung unübersehbar Nachdruck. Im Unterschied zu einigen Institutsdirektoren anderer Fächer der Abteilung V hielt sich der Germanist Siegfried Grosse an den Abschaffungsbeschluss und lenkte den Blick pragmatisch auf die Reform des Grundstudiums. In diesem Zusammenhang ist wenig später Jürgen Links Literaturwissenschaftliches Propädeutikum entstanden, von dessen Urfassung ich Lektion 3 aufbewahrt habe, in der die Struktur semantischer Isotopien am Beispiel von Zitaten aus dem Kapital von Marx erklärt wird. Wenigstens hier wurden Theorie und Literatur unter einen Hut gebracht! Erfolgreich gestaltete sich die Zusammenarbeit mit interessierten Assistenten und einigen wenigen Professoren beim Thema „Germanistik und Schule“. Zur Planung möglicher Veranstaltungen fanden sich im Wintersemester 68/69 über vierzig Studierende ein. Die Initiativen zur Änderung der Vorlesungspraxis hingegen wurden nur von wenigen, vielleicht von fünfzig bis hundert Studierenden von mehr als tausend, getragen und führten zu heftigen Konflikten. Bis zum Wintersemester 1969 bildete die Basisgruppe Germanistik, in der Mitglieder unterschiedlichster hochschulpolitischer Gruppen mitarbeiteten, die gemeinsame Plattform für sämtliche studentische Aktivitäten in Richtung Lehre, Forschung und Gremien. Aus ihren Reihen stammten auch die meisten Fachschaftsmitglieder. Das Hauptquartier befand sich im Gebäude IA im Raum 5-88[3], in einem mit Plakaten vollgeklebten (auf den Bochumer Metallwänden nur mit Tesafilm zu befestigen), mit Möbeln vom Sperrmüll vollgestellten, ständig verrauchten Raum. 5-88 wurde manchmal bis in die Nacht hinein frequentiert von engagierten Gruppen, schrägen Einzelgängern und den Verächtern der sterilen Cafeterien auf der Ebene 0, die sich ,oben‘ ihren Pulverkaffee aufbrühten und ihre Zigaretten drehten. Aus dieser Zeit besitze ich außer einem Aschenbecher nur noch drei Nummern der dort entstandenen Zeitschrift der Basisgruppe Germanistik Die Rote Blume. Die erste Ausgabe, die wahrscheinlich Ende 1968 herauskam, erhielt eine Anzeige wegen Pornographie. Den größten Raum des Heftes nimmt eine innerhalb der Basisgruppe von A. K., B. L. und M. K. differenziert herausgearbeitete Kritik am Vermittlungsformat Vorlesung ein, die mit folgender Forderung schloss: „Vorlesungen werden abgeschafft. An ihre Stelle tritt ein Forum, das grundsätzliche Fragen der Germanistik behandelt. Thema und inhaltlich grobe Gliederung werden im vorangehenden Semester festgesetzt. Das Forum tagt 2 x 2 Std. wöchentlich. An die Stelle eines inhaltlichen Kontinuums (Vorlesung) tritt die Auflösung des Themas in einzelne Problemkreise, die einzeln und nacheinander behandelt werden.“[4]

Seit der deutschen Vereinigung nennt man eine solche Form geregelter Auseinandersetzung einen Runden Tisch. Er gilt nicht ganz zu Unrecht als eine erfolgreiche Weise, schwierige Konfliktlagen zu bewältigen. 1968 haben die Bochumer Germanistikprofessoren in ihrer Mehrzahl die Forderung der Basisgruppe als Angriff auf ihre Autorität, ihr akademisches Selbstverständnis und nicht zuletzt ihre Lehrfreiheit gedeutet und ablehnend reagiert. Der Bochumer ,Runde Tisch‘, das Forum, fand deshalb nicht statt. Argumentativ weit ausgreifend, wie es um 1968 bei einer wissenschaftsgläubigen und nach rationaler Durchdringung verlangenden Generation nicht anders zu erwarten war, nennt die Rote Blume als „Wissenschaftliche Veranstaltungen wie wir sie uns wünschen“, „Germanistik und Schule“, „Germanistik und Gesellschaft“, „Literatur und Rezipient“ und „Literatur als Medium“. Ein Forum mit diesen Themen hätte dem Institut nicht geschadet, sondern im Gegenteil zu einer frühen Profilierung gegenüber den anderen Neugründungen in Konstanz, Bielefeld oder Siegen führen können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde offenbar, dass die Bochumer Neugermanistik der ersten Generation kein gemeinsames Profil hervorbringen würde und auch keine Kommunikationsbasis für gemeinsame Forschungen bot. Just antwortete auf die Forderung nach Diskussion am Ende seiner Vorlesung, diese sei ausschließlich ein „Dialog zwischen Lesendem und Text“, und auf den Hinweis, er möge den gesellschaftlichen Kontext einbeziehen: „Die Germanistik muß endlich aufhören, vor der Soziologie zu Kreuze zu kriechen.“ Strohschneider-Kohrs beklagte sich mit einer geschliffenen Formulierung über ein „grelles Zuviel an Direktheit“.

Das zweite und dritte Heft der Roten Blume veröffentlichte Bausteine einer Kritik, deren Ort eigentlich die germanistischen Vorlesungen hätten sein sollen. Die Verfasser berufen sich nun deutlicher auf Veränderungen und Reformen an anderen Universitäten und bemängeln den fehlenden Forschungspluralismus, der in Bochumer Vorlesungen zugunsten der jeweils eigenen Position vernachlässigt werde. Und noch einmal verallgemeinern sie ihre Forderung: „Studieren darf sich nicht länger beschränken auf Einübungsrituale funktionalen Wissens, auf das Beantworten eines Katalogs gestellter Leistungsanforderungen, deren Befolgen durch einseitig festgesetzte Eignungskriterien nach einer hierarchischen Notenskala bewertet wird. Studieren kann nicht heißen: Aperzeption [sic!] vorgegebener Wahrheiten, sondern Beseitigung von Irrtümern aller am Wissenschaftsprozeß Beteiligten.“[5]

Das schrieben Studierende aus dem 4. oder 5. Semester und nicht die für die Lehre verantwortlichen Professoren, die sich, mit Ausnahme des Altgermanisten Grosse, der sich in einem Interview mit den Ruhr Nachrichten positionierte („Das Experiment eines Forums an sich ist begrüßenswert und interessant“), nicht fachöffentlich äußerten. Die Basisgruppe und die Fachschaft beharrten jedoch darauf, in den Vorlesungen auch ohne Erlaubnis Fragen stellen und diskutieren zu dürfen. Dies führte zu Gegenreaktionen und Auseinandersetzungen innerhalb der Studentenschaft: einmal eher unernst in Gestalt der Streitschrift Der Steiger (Nr. 1 vom 28. Januar 1969) und dann in der Studentenzeitung Rot und Schwarz (vermutlich Anfang 1969). Rot und Schwarz vertrat eine große Gruppe von Studierenden, die sich mit dem linken Milieu der Basisgruppen nicht identifizieren konnten, aber dennoch an Reformen des Studiums interessiert waren und einen aus ihrer Sicht sachlichen Ausgleich erreichen wollten. Sie ,baten‘, anders als die Basisgruppe, die stets ,forderte‘, alle Professoren der Germanistik darum, den Thesen der Fachschaft „ausgearbeitete Antwortthesen gegenüberzustellen (etwa über die gesellschaftliche Rolle der Germanistik) […] und […] auf einer vom Germanistischen Institut und der Fachschaft gemeinsam als Podiumsdiskussion (Ordinarien und Fachschaftsvorstand mit Einbeziehung des Auditoriums) veranstalteten Vollversammlung zu sprechen.“[6]

Diese Studierenden, unter denen sich auch einer meiner Freunde befand, wurden zwar von den Hochschullehrern unterstützt, indem sie anstelle der Diskussionen in den Vorlesungen „vorlesungsbegleitende Arbeitsgruppen“ veranstalten durften. Die professoralen Antwortthesen jedoch wurden niemals geschrieben und die Begegnung auf einem Podium fand nicht statt. Bis heute weiß ich nicht, warum auch diese ganz und gar unrebellische, demokratische Form der Auseinandersetzung gemieden wurde und könnte nur Vermutungen darüber anstellen.

Im Sommersemester 1969 wäre die Podiumsdiskussion auch von Seiten der Basisgruppe aus ganz anderen Gründen nicht mehr zustande gekommen. Die Fachschaft, deren Sprecher ich damals war, scheiterte an internen Auseinandersetzungen. Den Hintergrund bildete der Zerfall der Studentenbewegung (und des SDS) in Bochum in zunächst vier Fraktionen: eine antiautoritär-alternative, eine trotzkistische, eine maoistische und den aus dem SDS hervorgegangenen Marxistischen Studentenbund. Die drei zuletzt genannten zog es mit unterschiedlicher Konsequenz aus der Universität hinaus zu Fabriken und Betrieben und zur Unterstützung von Gewerkschaften oder gewerkschaftskritischen Betriebsgruppen. Nur so ist der merkwürdige Satz im Rechenschaftsbericht der Fachschaft zu verstehen, dass „unser Arbeitsplatz nicht die Fabrik, sondern die Universität ist, und daß wir unsere Arbeit hier zu leisten haben“.[7] Ein knappes Jahr zuvor hatte man sich in der Basisgruppe schon nicht mehr „in der Frage der Relevanz kritischer Germanistik, Medienwissenschaften &soweiter“[8] einigen können. Mit dem Auszug derjenigen, die ihre politischen Aktivitäten auf Schauplätze außerhalb der Universität verlegten, war die vom SDS vertretene Zauberformel: „Die Widersprüche in der Hochschule drücken die Widersprüche in der Gesellschaft adäquat aus“, für die an der Universität Verbliebenen wenn nicht unwichtig, so doch zweitrangig geworden. Neben der Arbeit in der GEW blieb als letztes gesellschaftsveränderndes Minimalprojekt nur das richtige Studium im falschen, d.h. – in einer Bochumer Variante der Kritischen Universität – die kontinuierliche Organisierung Studentischer Seminare. Studentische Seminare, welche die eindimensionale Richtung der Lehre durch gemeinsame Planung und den Dialog in der Gruppe und durch intensive Auseinandersetzung mit literarischen Werken und Forschungspositionen ersetzen wollten, gab es schon vor dem Zerfall der Basisgruppe. Sie blühten aber nach 1970 noch einmal auf. Gleichzeitig musste sich die Fachschaft damit auseinandersetzen, dass einige Professoren zur Entlastung ihrer überfüllten Seminare unter der Leitung von Hilfskräften Ablegerveranstaltungen einrichteten und diese als Studentische Seminare deklarierten. Deshalb beschloss die Studentenvertretung, „ab sofort die Koordination sämtlicher studentischer Seminare zu übernehmen. Es wird also zukünftig nicht mehr möglich sein, Seminare unter der Bezeichnung ,studentisch‘ anlaufen zu lassen, ohne zuvor eine Absprache mit der Fachschaft Germanistik getroffen zu haben. Diese Maßnahme soll qua Institutskonferenz institutionalisiert werden.“[9]

Ein letztes Mal wurde, nun schon defensiv, an die ursprüngliche Intention erinnert: „Die studentischen Seminare haben ihre Funktion in der Ausübung von Wissenschaftskritik, die politisch verankert ist, indem sie sich gegen die herkömmliche, bürgerlich-ideologische Form der Germanistik absetzt.“[10]

Im Wintersemester 69/70 erklärten sich drei Professoren, Siegfried Grosse, Werner Besch und Siegmund Wolf, zum ersten Mal dazu bereit, als ,Tutoren‘ für die Anerkennung der in den Studentischen Seminaren erbrachten und dokumentierten Leistungen mit ihrer Unterschrift einzustehen. Aus dieser ersten Serie hob sich die Veranstaltung „Soziolinguistik“ durch eine viel beachtete Publikation ihrer Ergebnisse hervor. Diese Gruppe, in der u.a. Eva Neuland und Johannes Volmert mitarbeiteten, erlangte bei den anderen nicht nur dadurch Anerkennung, dass sie die internationale Forschung zum Thema gründlich aufarbeitete, sondern zu ihren Aufgaben auch die Lernbetreuung von Kindern aus einer Bochumer Obdachlosensiedlung zählte.

Die Liste der Studentischen Seminare vermag ich aus dem Gedächtnis nicht mehr vollständig zu rekonstruieren. Das gilt auch für jene, in denen ich mich engagierte. Wirklich bedeutend wurde für mich die Basisgruppe „Methodologie“, die sich 1968/69 regelmäßig am Freitag um 16 Uhr traf, wenn es keine Veranstaltungen mehr gab und die von den Professoren hoch geschätzten Studierenden längst zuhause waren. Gelesen und debattiert wurden u.a., neben Germanistik – eine deutsche Wissenschaft und den literaturwissenschaftlichen Heften der Zeitschrift alternative,Jost Hermands Buch Synthetisches Interpretieren und Robert Weimanns New Criticism. Bisweilen wurde Protokoll geführt, in erster Linie über die Frage „Was heißt ,Politisierung der Germanistik‘“. Die Diskussionen über Methodologie wurden im Wintersemester 69/70 mit anderer Schwerpunktsetzung im Studentischen Seminar „Literatur – Materialistische Literaturtheorie“ fortgesetzt. Dort beschäftigte ich mich zum ersten Mal auf Anregung des ,Tutors‘ Siegmund Wolf intensiv mit dem Literaturkritiker Franz Mehring, über den ich ein paar Jahre später einen längeren Aufsatz geschrieben habe. Die Seminarprotokolle signalisieren den Beginn der kritischen Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Marxismus und die Öffnung für andere Gesellschafts- und Kulturtheorien von der Frankfurter Schule bis zur Birmingham School. Sie offenbaren aber auch die Selbstüberforderung, wenn lapidar vermerkt wird: „Obwohl generell das Bedürfnis bestand, das zweite Papier ausführlich zu diskutieren, gelang es nicht, das Papier so zu erläutern, daß es allen verständlich wurde.“[11] Ein Jahr später konnte von einer (großen) Gruppe Interessierter nach umfassender Vorbereitung das Studentische Seminar „Literaturentwicklung in der DDR“ auf die Beine gestellt werden. Als ,Tutor‘ stellte sich der inzwischen nach Bochum berufene Paul G. Klusmann zur Verfügung. Aus dieser Veranstaltung gingen nicht wenige Staatsarbeiten und eine Dissertation hervor. Das Seminar festigte aber auch die Zusammenarbeit einer über die Germanistik hinausreichenden ,freien‘ Theorie-Gruppe, die sich systematisch mit dem Strukturalismus, dem Marxismus und der Kritischen Theorie auseinandersetzte und für sich Theoretiker wie Louis Althusser, Michel Foucault, Jacques Lacan, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Roland Barthes und dazu die Europäische Kunstavantgarde entdeckte. Die Germanisten unter ihnen, inzwischen zu Doktoranden geworden, machten ab 1972/73 auch einen großen Teil des Oberseminars von Klussmann aus, das politisch einstmals Zerstrittene wieder friedlich zusammenbrachte. Diese Phase, die für mich mit meiner Promotion 1976 zu Ende ging, war die fruchtbarste und prägendste Zeit meines Studiums. Am engsten gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Burkhardt Lindner, Gerhard Plumpe und Jutta Kolkenbrock-Netz, außerhalb des fachlichen Interesses mit Historikern wie Peter Schöttler, Michael Zimmermann und Detlev Peukert, und im Oberseminar mit Stephan Bock, Marianne Schuller, Margarita Versari und Reinhard Finke. Und allesamt waren wir neugierig darauf, welche Theorien Jürgen Link aus Frankreich exportieren und welche strukturalistischen Schätze der Slavist Hans Günther noch heben würde. Marianne Schuller, Assistentin am Lehrstuhl Klussmann, gab mir die Sicherheit, meinen ersten Aufsatz über die Kunstanschauungen Althussers (1974) ohne Blamage publizieren zu können, und Gerhard Plumpe, bewandert in Ästhetik, achtete darauf, dass mein Artikel über Lukács für das Historische Wörterbuch der Philosophie (1976) schlüssig argumentierte.

Erst jetzt, bei dem Versuch, meine Erinnerungsfragmente in die Gedächtnisgeschichte einer immer noch jungen Institution einzuschreiben, wird mir bewusst, dass sich mein Studium zu dem Zeitpunkt, an dem die bekannten Selbstverständigungstexte des Fachs erschienen – Ansichten einer künftigen Germanistik (1969), Wie, warum und zu welchem Ende wurde ich Literaturhistoriker? (1972) und Neue Ansichten einer künftigen Germanistik (1973) –, schon längst dem Abschluss genähert hatte. Bisher war ich davon überzeugt, dass sie am Anfang gestanden und mich beunruhigt und angetrieben hatten. Nun verstehe ich auch eine Notiz aus der Roten Blume besser, die das Aufblitzen eines versöhnenden Generationenbündnisses festhielt: „,Mit den progressiven Ordinarien gegen die reaktionären Studenten!‘ (Ausspruch eines Basisgruppenmitgliedes kurz nach dem Aufwachen aus einem wunderschönen TRAUM.)“[12] Die Selbstverständigung über das Wie und Warum der Germanistik erfolgte gleichzeitig unter Hochschullehrern und den Studierenden – oder sie erfolgte auch nicht. Falls das zutrifft, war der mäandrierende Weg durch das Studienangebot einer neu gegründeten Universität und durch selbstorganisierte Lernformen kein Umweg, sondern ist ein Teil der Bochumer Fachgeschichte.

Für mich endete diese Geschichte mit einem Buch: dem zusammen mit Burkhardt Lindner und Gerhard Plumpe herausgegebenen Sammelband Arbeitsfeld: Materialistische Literaturtheorie, der 1975 als Fischer Athenäum Taschenbuch erschien. Wenn ich es heute wiederlese, führen mich zahlreiche Spuren zurück auf den Weg, den ich hier in umgekehrter Richtung beschrieben habe. Die Einleitung der drei Herausgeber schließt emphatisch-melancholisch mit dem Satz: „Denn nicht zuletzt darin müßte eine materialistische Kunsttheorie ihre Überlegenheit beweisen, daß sie entgegen der Vergangenheitsfixiertheit traditioneller Literaturwissenschaft eine Zukunftsorientiertheit geltend machen kann.“[13] So führt das Buch noch einmal hin zur Idee, das die Literaturwissenschaft der Gesellschaft ,nützlich‘ sein kann, wenn sie mit ihren Mitteln den Zusammenhang von Macht, Wissen und Herrschaft erkundet. Der Schatten eines Traums, wenn man nicht mehr alles weiß und nicht mehr alles kann.

Epilog

Die Sekretärin des Germanistischen Instituts hieß entgegen meiner Wunschphantasie nicht Rot, sondern „Fräulein Schön“.

 

Hinweis der Herausgeberin: Der Beitrag ist zuerst unter dem Titel „IA-5-88 – Basisgruppe Germanistik“ erschienen in: Carsten Zelle (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Aufbaujahre. Beiträge zur Gründung und Formation der Literaturwissenschaft am germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum – ein germanistikgeschichtliches Forschungsprojekt (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur N. F.; 5), Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang Edition 2016, S. 211222. Ich danke dem Autor, dem Herausgeber und dem Verlag für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung.

Anmerkungen

[1] Die ZEIT, Nr. 34, 1967.

[2] Wochenendseminar der „Basisgruppe Germanistik“ im Reinhold-von-Thadden-Haus. Protokoll der Sitzung vom 27./28. Sept. 69, S. 2.

[3] Bis WS 1970/71 war das Germanistische Institut im Gebäude IA untergebracht. Der Umzug nach GB, wo die Fachschaft dann in GB 3/139 residierte, fand zum SS 1971 statt.

[4] Rote Blume, H. 1, S. 3.

[5] Rote Blume, H. 2, S. 5.

[6] Rote Blume, H. 2, S. 6.

[7] Informationen der Fachschaft Germanistik, Nr. 2, Sommersemester 70.

[8] Wochenendseminar der „Basisgruppe Germanistik“ im Reinhold-von-Thadden-Haus. Protokoll der Sitzung vom 27./28. Sept. 69, S. 2.

[9] Aufruf zur Fachschaftsvollversammlung am 26. Mai 70 im Rechenschaftsbericht des Sprechers Klaus-M. Bogdal, S. 2.

[10] Ebd.

[11] Seminar „Literatur – Materialistische Literaturtheorie“. Protokoll der Sitzung vom 27. Okt. 69, S. 1.

[12] Rote Blume, H. 2, S. 5.

[13] Arbeitsfeld: Materialistische Literaturtheorie. Beiträge zu ihrer Gegenstandsbestimmung. Hg. Klaus-Michael Bogdal, Burkhardt Lindner, Gerhard Plumpe. Frankfurt am Main 1975, S. 27.