Was mache ich mit meinem Genette`schen Werkzeugkasten?

Zu den Chancen und Problemen der standardisierten Erzähltheorie

Von Oliver SommerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Sommer

Vorbemerkung

Unter dem Titel „Zukunft der Germanistik“ wurde am 18. und 19. Januar 2019 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München eine studentische Tagung veranstaltet. Der folgende Text ist die überarbeitete Version meines Vortrags zu dieser Tagung. Thematisch habe ich mich mit der ,standardisierten Erzähltheorie‘ befasst, womit ich diejenigen Aspekte der Erzähltheorie bezeichne, die zumeist in den einführenden germanistischen Vorlesungen und Seminaren an den deutschen Universitäten gelehrt werden. Mein Vortrag ist in zwei Teile gegliedert: Zuerst werde ich mich den Problemen widmen, die durch die Vermittlung einer standardisierten Erzähltheorieentstehen. Danach möchte ich mithilfe einer jüngeren Forschungsarbeit zur Erzähl- und Fiktionstheorie skizzenhaft darstellen, inwiefern neuere erzähltheoretische Positionen einen wichtigen Beitrag leisten können, um die Öffnung des Fachs Germanistik zu fördern.

I. Die Vermittlung von narratologischen Schablonen – wer braucht da noch (an andere Methoden) zu denken?

Nachdem im Jahr 2016 die bereits 10. Auflage der etablierten Einführung in die Erzähltheorie von Matías Martínez und Michael Scheffel erschienen ist – die unter neuen Germanistikstudierenden als furchterregendes Terminologiegespenst aufgefasst wird –, soll dessen Bezeichnung als ,Standardwerk‘ für die Einübung elementarer strukturalistischer erzähltheoretischer Praktiken wohl nicht mehr hinterfragt werden. So scheint es zumindest. Vom Schulunterricht, sofern meine Schulerfahrungen noch der aktuellen Lage des Deutschunterrichts entsprechen, grenzt sich die hauptsächlich von Gérard Genette entnommene Terminologie[1] dieser Einführung deutlich ab, da wir es dort noch mit den Begriffen von Franz Karl Stanzel zu tun haben.[2] Das legt die Frage nahe, warum dies der Fall ist und weshalb es keine einheitliche Regelung bezüglich der Terminologie gibt, die sowohl im Schulunterricht als auch in der universitären Lehre eingesetzt wird. Immerhin handelt es sich bei der Einführung in die Erzähltheorie um eine ,standardisierte Theorie‘.

Hieraus ergeben sich zwei zentrale Fragestellungen: Erstens, warum hat sich gerade der strukturalistische Ansatz der Erzähltheorie für die Herausbildung eines Standardwerks für die universitäre Lehre durchgesetzt? Zweitens, was sind die aktuellen Folgen für die Lehre und das Studium der Germanistik, wenn eine Theorie als eine ,standardisierte‘ vermittelt wird? Zur ersten Frage kann angeführt werden, dass uns gerade durch den strukturalistischen Ansatz eine systematische Erschließung von poetischen Texten ermöglicht wird, das heißt Literaturwissenschaftler*innen können präzise ausgewählte Phänomene ihrer Untersuchungsgegenstände mittels dafür geschaffener Begriffe beschreiben. Somit ist in der Analyse nicht nur die Ebene der histoire wichtig, also die Abfolge von Ereignissen in den Texten, sondern auch die Ebene des discours, die das betrifft, wie etwas gemäß einer bestimmten Abfolge von Zeichen dargestellt wird. Gerade für Studierende in den ersten Semestern sollte dies eine wichtige Neuerung in ihren oftmals von den Inhalten gelenkten Interpretationen sein. Indessen können wir uns auf interessante Spurensuchen begeben, die zum Ziel haben, bestimmte (universale) Regeln ausfindig zu machen, die die meisten Erzähltexte kennzeichnen. In gewisser Weise wird auch versucht, sich den Grundelementen von Erzählungen überhaupt anzunähern. Was allerdings nicht vergessen werden sollte, ist der Umstand, dass die Genette’schen Analysekategorien dazu verleiten, sie einfach nur auswendig zu lernen, wie das etwa bei mathematischen Formeln der Fall ist. Wenn Studierende dieses narratologische Repertoire erst einmal für ihre bevorstehenden Klausuren verinnerlicht haben, können sie es nach Belieben abrufen und nahezu problemlos auf alle poetischen Texte übertragen. Sobald die Klausur jedoch schon weit zurückliegt und zwei oder drei weitere Semester vergangen sind, weist ein Großteil der Studierenden, so leider meine persönliche Erfahrung in den Seminaren, erhebliche Anwendungsschwierigkeiten im Bereich basaler narratologischer Bestimmungen auf.[3] Woran kann das liegen?

Damit wären wir bei der Beantwortung der zweiten Frage angekommen, denn eine ,standardisierte Theorie‘, wie sie die Einführung in die Erzähltheorie ist, wird von den beginnenden Studierenden in den meisten Fällen kritiklos angenommen. Man ist erst einmal froh darüber, die Instrumente des Genette’schen Werkzeugkastens verstanden zu haben und richtig anwenden zu können. Das mag bis zu einem gewissen Grad zur Entlastung der Lehrenden beitragen, schließlich kann man sich in den einführenden Seminaren ganz schlicht innerhalb des Genette’schen Begriffsrepertoires von vorne nach hinten durcharbeiten. Und die daraufhin von den Studierenden in einer wissenschaftlichen Arbeit angewandten Begriffe können blitzartig nach dem Schema richtig oder falsch korrigiert werden. Die gravierende Problematik wird allerdings erst später sichtbar, wenn viele Studierende in fortgeschrittenen Semestern über die anfangs vermittelten theoretischen Grundkenntnisse nicht weit hinausgekommen sind und selbst nicht einmal wissen, dass das, was sie in ihren wissenschaftlichen Arbeiten wieder und wieder methodisch reproduzieren, lediglich eine von vielen Methoden ist, die in der Literaturwissenschaft verwendet werden. Eine derartig vermittelte ,standardisierte Theorie‘ wird nicht als Teil des Diskurses, sondern als abgeschlossener Diskurs betrachtet, was letztlich zur Folge hat, dass die Anwendung der strukturalistischen Erzähltheorie unter den Studierenden oft nicht über das bloße Benennen ihrer eigens entwickelten Kategorien hinausführt. Das ist wiederum ein kurioser Selbstzweck, der nur dadurch gerechtfertigt ist, dass in diesem Fall eine Theorie für die universitäre Lehre kanonisiert worden ist. Vergleicht man die strukturalistische Erzähltheorie mit anderen literaturwissenschaftlichen Methoden, erscheint diese Problematik noch auffälliger. Exemplarisch seien dazu kurz zwei andere Methoden angerissen, der New Historicism sowie der Ecocriticism.

Der New Historicism ist eng an die Arbeit des Historikers gebunden, der sich zur Aufgabe gemacht hat, den kulturellen Kontext aufzuarbeiten, in den ein Text eingeflochten ist. In diesem Zusammenhang wird man ebenfalls Erkenntnisse über das soziale und kulturelle Umfeld der Zeit erlangen und insofern auch über andere Texte, die zum jeweiligen Untersuchungsgegenstand in Beziehung zu setzen sind. Weiterhin versteht man dabei die zu untersuchende Kultur als ein Gefüge von Texten, in dem ein einzelner Text nicht mehr autonom in Erscheinung treten und als Spiegel der Geschichte fungieren kann. Im Gegensatz zur narratologischen Analyse, die einen Text von innen her erschließen möchte, stellt der New Historicism eine Methode dar, die präzise historische Quellenarbeit erfordert und einen Text von außen her erschließen möchte. Der neuerdings boomende Ecocriticism besitzt dagegen immer einen aktuellen Bezug zu unserer Lebenswirklichkeit, da diese Methode Diskurse verarbeitet, in denen zentrale ökologische Debatten unserer Zeit anhand ihrer Verhandlung und Verarbeitung in literarischen Texten diskutiert werden. Im Gegensatz zum bloßen Benennen der narratologischen Kategorien, die den Inhalt eines Textes oftmals außen vor lassen, wird hier besonderes Gewicht auf die detaillierte Untersuchung bestimmter Topoi gelegt, die in den aktuellen Umweltdebatten zur Sprache kommen. Ja, auch diese Methoden sind zu kritisieren. Nichtsdestoweniger liefern beide Methoden etwas, das über den Selbstzweck einer theoretischen Systematik hinausgeht. Da sie aber meist nur Randerscheinungen – wieso eigentlich? – in der universitären Lehre bilden und man hier keinesfalls von ,standardisierten Theorien‘in dem Ausmaß sprechen kann, wie es bei der Erzähltheorie der Fall ist, ist die folgende Frage mehr als berechtigt: Was hat die Erzähltheorie außerhalb ihrer geschlossenen Systematik zu bieten?

Um diese Frage eingehend beantworten zu können, ist es zunächst vonnöten, auf ein derzeitig ebenso großes Problem innerhalb der Germanistik hinzuweisen, das die Vermittlung des bzw. eines literarischen Kanons betrifft, also der Texte, die das Basiswissen eines jeden Germanisten und einer jeden Germanistin ausmachen sollen. Kanonbildung ist zweifellos eine der wichtigsten Aufgaben, die der Germanistik zukommt. Wäre es aber nicht viel fruchtbarer, aus den alten Mustern herauszubrechen und Kanonisierungsarbeit mehr als eine Herausforderung an die Germanistik zu sehen, indem sie die komplexe soziale und kulturelle Lebenswirklichkeit, an der wir tagtäglich teilhaben, eindringlicher zu verstehen versucht als immer nur wieder die Hochkultur der Goethes und Kafkas herunterzubeten? Damit ist nicht gemeint, sich vollständig von Goethe und Kafka zu lösen. Ohne das breite Vorwissen, das wir aus den Texten dieser einflussreichen Autoren entnehmen können, wird es sich noch weitaus schwieriger gestalten, unserer vielseitigen kulturellen Lebenswirklichkeit wissenschaftlich zu begegnen.[4] Es geht jedoch stark an unserer Lebenswirklichkeit vorbei, wenn die Germanistik versucht, an einer an den alten Größen gemessenen Hochkultur in den sich ständig aktualisierenden medialen Reizgütern festzuhalten. Denn so baut sich das Fach einen immer höher werdenden akademischen Elfenbeinturm auf, der es irgendwann gar nicht mehr erlaubt, außerhalb seiner Mauern zu agieren. Ein großer Mangel literaturwissenschaftlicher Praktiken besteht demnach tatsächlich darin, dass man trotz der Öffnung des Fachs hin zu neueren Medien die Frage, was denn nun der Gegenstand der Germanistik ist, immer noch sehr zögerlich behandelt. Oder drastischer formuliert: Man weicht dieser zentralen Frage insofern aus, als dass man die sichere Zone der poetischen Texte nicht verlassen will. Wie könnte also, und damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, eine Erzähltheorie aussehen, die sich nicht nur poetischer Texte als ihrer potentiellen Untersuchungsgegenstände bedient? Inwiefern könnte unter Bezugnahme von unterschiedlichsten Kulturtheorien das Potential der Erzähltheorie, auch in der Analyse von poetischen Texten, entwickelt werden? 

II. Es geht nicht nur um Literatur – der Mensch im Spannungsfeld von Fiktions- und Erzähltheorie

Hans Blumenberg trug während eines Gießener Kolloquiums im Jahr 1963 folgende Aussage vor:

Also gerade dadurch, daß dem poetischen Gebilde von allem Anfang unserer Tradition an seine Wahrheit bestritten worden ist, ist die Theorie von der Dichtung zu einem systematischen Ort geworden, an dem der Wirklichkeitsbegriff kritisch hereinspielen und aus seiner präformierten Implikation heraustreten muß. Im Grunde geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht.[5]

Verbleiben wir noch kurz beim poetischen Text. Nach Blumenberg ist es gerade die Dichtung, an der seit Platon immer wieder das verhandelt worden ist, was auch für unsere heutige soziale und kulturelle Welt von größter Bedeutung ist. Das ist die Frage nach der Wahrheit, oder anders gesagt, nach dem, was wirklich und was fiktiv ist. So führt Blumenberg weiter aus, der Anspruch der Kunst sei,

nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. […] vielmehr war jedes sich an dem neuen Wirklichkeitsbegriff messende Werk immer schon die Wirklichkeit des Möglichen, dessen Nicht-Realität die Voraussetzung für die Relevanz seiner Realisierung sein mußte.[6]

Diese „Wirklichkeit des Möglichen“ ist ein interessanter Ansatzpunkt, den es jetzt zu erweitern gilt, indem er aus dem hier noch von Blumenberg diskutierten Bezug zum Roman gelöst und auf menschliche Erzählpraktiken im Allgemeinen gerichtet werden soll. Albrecht Koschorke beschreibt dies unter anderem in seinem Buch Wahrheit und Erfindung, das in gewissen Punkten den Menschen hinsichtlich seiner ästhetischen Praktiken zur Gestaltung einer funktionierenden gemeinschaftlichen Lebenswirklichkeit beleuchtet. Koschorke kritisiert nun genau das an der Erzähltheorie, was sich als unzureichende und theoretisch verfestigte Standardisierung aus dem strukturalistischen Ansatz herausgebildet hat:

Insbesondere ist das Begriffspaar von faktualem und fiktionalem Erzählen nicht hinreichend nuanciert, um Differenz und Ineinanderwirken, Trennungsgeschichte und immer wieder erneuerte Synergien zwischen faktographischen und fiktionalen Darstellungsverfahren nachvollziehbar machen zu können. […] Umso schwieriger gestalten sich die Verhältnisse, wenn man die poiesis der Gesellschaft als ganzer ins Auge fasst, deren schöpferisches Vermögen die res fictae, erfundene und gemachte Dinge, in res factae, sozial unabweisbare Tatsachen, verwandelt. Und dies ist wiederum kein irreversibler Vorgang, denn ebenso schnell kann eine machtvolle soziale Übereinkunft am Ende ihrer Laufzeit zu einem Hirngespinst ihrer Erfinder und Gläubigen zurückschrumpfen.[7]

Wenn die Erzähltheorie auf die „poiesis“ der Gesellschaft – also ihrer fortschreitenden Selbstentwicklung, neue Wirklichkeiten anhand von „sozial unabweisbare[n] Tatsachen“ zu schaffen – übertragen werden soll, dann muss sie eine enge Verbindung mit Fiktionstheorien eingehen, in der von der strikten Trennung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, wie sie noch in der Einführung in die Erzähltheorie deklariert wird, nicht mehr viel übrig ist. Die Tragweite des Erzählens ist in diesen Überlegungen erweitert worden und unabhängig vom poetischen Text, denn

[w]o immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel. Es stellt keinen Funktionscode unter anderen dar, sondern eine Weise der Repräsentation und Mitteilung über alle kulturellen Grenzen hinweg. […] Eine Erzähltheorie, die der Universalität ihres Gegenstands Rechnung trägt, ist ohne eine entsprechende Kulturtheorie nicht zu haben.[8]

Die „Wirklichkeit des Möglichen“ aus dem Zitat von Blumenberg ist damit auf das Erzählen als (ästhetische) Handlungspraktik des Menschen gerichtet, insofern es dafür sorgt, soziale Übereinkünfte hervorzubringen und innerhalb einer Gemeinschaft zur Wirklichkeit werden zu lassen. Auch in diesem Kontext gilt die Voraussetzung der „Nicht-Realität“, die einen Gegenstand im Prozess sozialer Kommunikation hervorbringt, ihn also erfindet. Lenkt man den Blick beispielsweise auf das Geld, so kann man diesen abstrakten Gegenstand als eine Fiktion bezeichnen, der dennoch innerhalb des Rahmens einer sozialen Übereinkunft real ist. Am Gegenstand Geld lässt sich treffend aufzeigen, inwieweit sich „Differenz und Ineinanderwirken“ von Fakt und Fiktion wechselseitig bedingen. Laut Koschorke bilden jene sozialen Übereinkünfte die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen gemeinschaftlich verbinden und sich schließlich unter die daraus entstehenden gesellschaftlichen Normen ordnen.[9] Dem Erzählen kommt somit eine fundamentale Funktion zu. Es hat unsere modernen Gesellschaften mit- und umgestaltet.

Diese Feststellungen sind äußerst hilfreich, um einerseits zu erklären, weshalb fiktive Gegenstände, wie z.B. das Geld, solch eine Macht auf unser alltägliches Handeln ausüben und wir andererseits aber auch gar nicht anders können, als uns dieser Macht zu unterwerfen, sofern wir an modernen Gemeinschaften teilnehmen möchten. Warum wir an das Erfundene glauben, ist damit erklärt, dass wir positive Effekte aus einer sozialen Übereinkunft ziehen, die sich zweifellos aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen ergeben. Jeder einzelne Mensch kann davon profitieren; allerdings oftmals um den Preis, dass die gegenwärtige Lebenssituation von eigens entwickelten Fiktionen bestimmt wird. Diese Fiktionen werden zumeist in Form von Erzählungen verhandelt, die in der Zukunft liegen. Koschorke fasst diesen Punkt folgendermaßen zusammen:

Zukunft ist das plastische Medium, durch das moderne Gesellschaften in Kontakt mit ihrem möglichen Anderssein treten. Zukunftsfiktionen dienen dazu, dieser Ungewissheit einen Ort im gesellschaftlichen Imaginationshaushalt zu geben, sie gleichsam in die Gegenwart einzupreisen und umgekehrt die jeweilige Gegenwart auf das, was kommen wird, hin zu öffnen.[10]

Die „Ungewissheit“ der Zukunft ist wohl eine der größten Hürden von Menschen, die in der globalisierten Leistungsgesellschaft den Wunsch hegen, existentiell abgesichert zu sein. Und wer wünscht sich das bitte nicht? Zukunftsfiktionen bestimmen permanent die Jetztzeit. Und dabei muss es sich nicht immer nur um existentielle Fragen handeln, weshalb mir der Einschub der folgenden Anekdote gestattet sei: Vor wenigen Tagen habe ich diesen Vortrag vorbereitet, und das nicht etwa, weil es während der Vorbereitungen darum gegangen ist, Erkenntnisse für meine gegenwärtige Situation zu erlangen. Wenn ich meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen etwas über meinen Vortrag erzählt habe, dann habe ich stets den zukünftigen Tagungstag vor Augen gehabt. Ich habe mich demnach tatsächlich in der hier und jetzt dargelegten Theorie selbst wiedergefunden. Gleichfalls ist mir bewusst geworden, wie schnell man sich von eigens entworfenen Erzählungen beeinflussen lässt, die in einer imaginierten Zukunft verortet sind. Und selbst die Vergangenheit bleibt von diesen erzählerischen Imaginationen nicht unberührt, wenn Koschorke wie folgt schreibt:

Wenn die Individuen oder Gemeinschaften ihrer Zukunft nur als Prospekt, als Projektion und damit letztlich in einer bestimmten Form von Fiktion innewerden, so ist doch die Vergangenheit demgegenüber nicht einfach die Summe dessen, was faktisch unverrückbar geworden ist. Denn auch die Vergangenheit wird der Gegenwart fortlaufend assimiliert, sie erhält nicht allein ihre Deutungen, sondern auch einen Teil ihrer Strukturen ex post und ist insofern bis zu einem gewissen Grad fiktiv – als Modelliermasse einer retrospektiv zugeschriebenen Signifikanz und als Objekt einer Rekonstruktion, die ihre Kategorien aus der jeweiligen Jetztzeit bezieht und rückwärts anwendet.[11]

Je nach gegenwärtiger Situation bringen die Menschen die Elemente und Fakten ihrer Vergangenheit in eine jeweils andere narrative Struktur, die deshalb als fiktional zu betrachten ist. Zugleich ist dieses Narrativ aber auch real, da es in der gegenwärtigen Situation als Wahrheit verhandelt wird. Bewirbt man sich beispielsweise für ein Praktikum bei einer renommierten Zeitung, so überführt man all die Elemente der Vergangenheit, die sich für das angestrebte Praktikum im Bewerbungsschreiben als positiv herausstellen können, in ein Narrativ. Ob dieses Narrativ nun der Wahrheit entspricht oder fingiert worden ist, kann in diesem Fall nicht mehr entschieden werden, da zunächst geklärt werden muss, was die Begriffe Fakt und Fiktion bedeuten, ob sie zu trennen sind oder, und das ist Koschorkes Punkt, konstant ineinander spielen. Ihre volle Wirkung in der Gegenwart können fiktionale Geschichten nach wie vor jederzeit entfalten, wie uns der Skandal um Claas Relotius eindrucksvoll vorgeführt hat. Ein dermaßen geschickt ausgeführtes Hochstaplertum hat erschreckend deutlich gezeigt, wie schnell wir dazu tendieren, fiktionale Geschichten als authentische Fakten anzusehen.

An diesem Punkt erscheint es mir wichtig, zum Ausgangspunkt dieses Vortrags zurückzukehren. Mit der Absicht, konkrete Aspekte einer umfassenderen Erzähltheorie darzustellen, habe ich mich weit aus dem Feld der ,standardisierten Erzähltheorie‘ heraus manövriert. Es sollte zum einen darum gehen, neue Perspektiven auf eine in den Universitäten sehr festgefahrene Narratologie zu eröffnen. Diese soll keinesfalls nur poetische Texte als potentielle Untersuchungsgegenstände heranziehen. Ebenfalls soll der Blick auf andere Medien und komplexe soziale Zusammenhänge gerichtet werden, ohne dabei zu vergessen, dass unsere kulturelle Lebenswirklichkeit maßgeblich von den alten Texten geprägt worden ist und stets geprägt wird. Andererseits möchte ich an das kritische Bewusstsein meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen appellieren, die sich nicht einfach nur damit zufriedengeben sollten, sich eine durchaus komplexe Terminologie anzueignen. Es geht, wie in allen theoretischen Diskursen, auch immer darum, skeptisch zu bleiben und vor allem das in Frage zu stellen, was man persönlich für sehr gut befindet. Unter keiner anderen Motivation ist dieser Vortrag entstanden. Sicherlich mag es von Universität zu Universität unterschiedlich gehandhabt werden, aber wenn sich Literaturtheorien durch den Austausch von Lehrenden und Studierenden weiterentwickeln sollen, dann ist es kontraproduktiv, eine Theorie in ihrer Vermittlung als standardisiert auszugeben. Oder sollen auch noch in vielen Jahren die immer wieder gleichen wissenschaftlichen Hausarbeiten von Studierenden mit den immer wieder gleichen narratologischen Feststellungen am immer wieder ähnlich rezipierten literarischen Kanon produziert werden? Ich glaube nicht.

Anmerkungen

[1] Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, Paderborn: Wilhelm Fink 2010.

[2] Vgl. Franz Karl Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.

[3] Ich danke Thomas Anz, der in der nachfolgenden Diskussion betont hat, dass eine nachhaltige Einübung narratologischer Grundkenntnisse nur dann funktionieren kann, wenn die sie prägenden Begriffe von den Studierenden wiederholt angewandet werden. An vielen Universitäten fehlt es jedoch an weiterführenden (erzähl-)theoretischen Seminaren, sodass die Narratologie nach den Einführungsveranstaltungen oftmals als schnell abzuhandelnde Nebensache behandelt wird, das in einem einführenden Standardwerk gegebenenfalls nachgeschlagen werden kann.

[4] Ich danke Oliver Jahraus, der in seinem Vortrag diesen für die germanistische Arbeit essentiellen Punkt herausgestellt und nachdrücklich betont hat.

[5] Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: H. R. Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, München: Wilhelm Fink 1969, S. 9-27, hier: S. 10.

[6] Ebd., S. 19f.

[7] Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main: S. Fischer 2013, S. 330f.

[8] Koschorke: Wahrheit und Erfindung (Anm. 7), S. 19-22.

[9] Vgl. ebd., S. 230.

[10] Koschorke: Wahrheit und Erfindung (Anm. 7), S. 230.

[11] Ebd., S. 225.

Literaturverzeichnis

Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. in: H. R. Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, München: Wilhelm Fink 1969, S. 9-27.

Genette, Gérard: Die Erzählung, Paderborn: Wilhelm Fink 2010.

Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main: S. Fischer 2013.

Stanzel, Franz Karl: Theorie des Erzählens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.