Die Frage ist: Was ist die Frage?

Versuch einer Kritik des positivistischen und funktionalistischen Wissensbegriffs

Von Anne K. BuckaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne K. Bucka und Marvin LuhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marvin Luh

1. Einleitung

In unserem Beitrag wollen wir zeigen, dass mit der Frage nach der Relevanz der Germanistik die Diskussion auf die falsche Ebene geschoben wird. Wir vermuten, dass es sich keineswegs um das Problem einer einzelnen Fachwissenschaft handelt, sondern um ein Resultat gesellschaftlicher Tendenzen, nach denen Wissen und Erkenntnis niemals als Zweck, sondern immer nur als Mittel angesehen werden. Mitunter ist es sinnvoll, eine Fragestellung selbst zu hinterfragen, um nicht Gefahr zu laufen, bestimmte fragwürdige Konzeptionen unreflektiert fortzuführen. Unser Vortrag gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil versuchen wir mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung gesellschaftliche Tendenzen nachzuvollziehen, die zu einer Beschränkung des sprachlichen Ausdrucks auf das logisch und mathematisch Erfassbare führen. Im zweiten Teil wollen wir mit Georg Misch die evozierende Rede als gleichwertigen Bestandteil der logischen Sprache und Erkenntnis einführen und dies auf literarische Beispiele anwenden. Im dritten Teil wird es uns dann um die Rolle der Literaturwissenschaft gehen und wir möchten dafür argumentieren, dass sie als kritische Reflexionsinstanz notwendig ist.

2. Dialektik der Aufklärung

Wir sind der Überzeugung, dass die Infragestellung der Berechtigung von Literaturwissenschaft (und allgemein der Geisteswissenschaften) ein Symptom darstellt und als Symptom nur die Folge einer bestimmten, beschränkenden Sicht auf Wissenschaftlichkeit und Wissen ist. Diese Sichtweise folgt den wissenschaftlichen Idealen der Aufklärung, die letztlich im Positivismus münden.

Aufklärung ist nicht unbedingt der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, sondern stellt unter Umständen seinen Eintritt in dieselbe dar. Das ist – etwas gewagt zusammengefasst – eine der Hauptthesen in der Dialektik der Aufklärung. Das Ideal der Objektivität der Wissenschaft, die Mathematisierung, Technisierung und Instrumentalisierung (unter anderem der Natur und der Vernunft), allgemein der Aufbau auf formaler Logik, führt zu einer Wissenschaft, die von der Herrschaft des Begriffs, der Abstraktion von ihren Objekten und von dem Ziel, die Natur zu beherrschen, geprägt ist. „Aufklärung ist totalitär“[1] in dem Sinne, dass es außerhalb dieses Ideals keine wertvolle Erkenntnis geben kann und darf:

Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.[2]

Wir leiten für den Moment über zu einem kürzlich erschienen, vielbeachteten Essay von Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, der einen Rückgang an Vielfalt in unserer Kultur und Natur feststellt und dies auf die kapitalistische Wirtschaftsweise zurückführt: „All diese Faktoren sind über den Menschen aber nicht schicksalshaft verhängt. Es muss also so etwas wie eine moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt geben.“[3] Er beobachtet eine geringere Toleranz für Mehrdeutigkeit (Ambiguität) und Vielfalt und warnt vor dem Versuch, Ambiguität ganz zu beseitigen, da dies in unserer Welt weder gelingen noch wünschenswert sein kann.

Zurück zu Horkheimer und Adorno: Auf der Suche nach Sicherheit vor der mythischen Angst streicht die Aufklärung scheinbar alle Elemente des Weltbezugs, die nicht eindeutig erfassbar und definierbar sind und die Welt tendenziell zu einem obskuren Ort machen.[4] Der Mythos wird als schädlich verteufelt und alles Uneindeutige zum Mythos und damit zur Irrationalität erklärt. Aus dem Wunsch nach Vorhersagbarkeit folgt die Mathematisierung der Natur und der verwendeten Begriffe; anstatt das Erlebte zum Erklärten auszuweiten, werden die Formulierungen zur Formel ausgeweidet.

Die Mathematisierung führt zu Vereinheitlichung – weil alles, das sogenanntes richtiges Denken sein will, in die mathematische Gleichung eingeordnet werden muss. Aber:

Die Vereinheitlichung der intellektuellen Funktion, kraft welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht, die Resignation des Denkens zur Herstellung von Einstimmigkeit, bedeutet Verarmung des Denkens so gut wie der Erfahrung; die Trennung beider Bereiche läßt beide als beschädigte zurück.[5]

Die Inhalte, d.h. ursprünglich Lebensbezüge, werden zu bloßen Variablen, die sich im formalen Rahmen, den die Vernunft vorgibt, beliebig austauschen lassen. Aus sich selbst heraus reflektiert Vernunft nicht über Inhalte.

Durch den Ausschluss des Mannigfaltigen des Lebens aus dem System werden aber zwangsläufig die grundlegenden Erfahrungen aus der Wissenschaft ausgeschlossen;[6] jeder Versuch, auch dem Gefühl (einerseits als Quelle der Erkenntnis, andererseits als Gegenstand der Betrachtung) Gewicht zu verleihen, muss scheitern, weil es als Negativ sich definieren muss.[7] Das heißt es wird systematisch die Weise des Weltbezugs, die sich nicht auf formale Logik stützt, als sekundär, ja „irr“ gekennzeichnet und damit wird der Umfang der Erkenntnis verkürzt.

Diese gewaltsame Trennung in reale Wissenschaft und irre da irreale Dichtung führt auch zu einer irreparablen Spaltung der Sprache:

Als Zeichen kommt das Wort an die Wissenschaft; als Ton, als Bild, als eigentliches Wort wird es unter die verschiedenen Künste aufgeteilt, ohne daß es sich durch deren Addition, durch Synästhesie oder Gesamtkunst je wieder herstellen ließe. Als Zeichen soll Sprache zur Kalkulation resignieren, um Natur zu erkennen, den Anspruch ablegen, ihr ähnlich zu sein. Als Bild soll sie zum Abbild resignieren, um ganz Natur zu sein, den Anspruch ablegen, sie zu erkennen. […] Die Trennung von Zeichen und Bild ist unabwendbar. Wird sie jedoch ahnungslos selbstzufrieden nochmals hypostasiert, so treibt jedes der beiden isolierten Prinzipien zur Zerstörung der Wahrheit hin.[8]

Wenn bzw. da man glaubt, dass in der Wissenschaftssprache die relevanten Gegenstände des Lebens adäquat bezeichnet werden, wird Sprache undurchdringlich und kann das Gemeinte doch nicht ausdrücken, schlägt also in Magie, Mythologie zurück. Inhalte wie „Wehmut, Geschichte, ja: das Leben“[9] können so nicht adäquat bezeichnet werden. Mit der Reduktion der Sprache auf die Registrierung von Daten

wird das Wort, das nur noch bezeichnen und nichts mehr bedeuten darf, so auf die Sache fixiert, dass es zur Formel erstarrt. Das betrifft gleichermaßen Sprache und Gegenstand. Anstatt den Gegenstand zur Erfahrung zu bringen, exponiert ihn das gereinigte Wort als Fall eines abstrakten Moments, und alles andere, durch den Zwang zu unbarmherziger Deutlichkeit vom Ausdruck abgeschnitten, den es nicht mehr gibt, verkümmert damit auch in der Realität.[10]

Auch Georg Misch kommt zur Beobachtung, dass durch die Aufklärung eine Kluft zwischen Leben und Logik sich auftat, da das Logische von oben her, als rein diskursive Denkform auf die Gegenstände blickt. Damit wird verkannt, dass die Logik nicht in der formalen Logik aufgeht, sondern eigentlich auf dem lebensphilosophischen Boden aufbaut, da die Gegenstände selbst etwas bedeuten und nicht erst durch ihre Einordnung in das formallogische System Bedeutung entsteht.

3. Evozierende Rede und die Literatur als Form der Erkenntnis

Deshalb möchte Misch die Logik erweitern – wobei eigentlich nicht von einer Erweiterung gesprochen werden kann, da die Logik ja nur auf ihren (weiteren) lebensphilosophischen Boden zurückgeführt werden soll. An der traditionellen Logik kritisiert er die Beschränkung auf die rein diskursive Rede, also beispielsweise Feststellungen von Tatsachen und mathematische Definitionen. Rein diskursive Rede bedeutet für ihn allgemein genommen: 1. Das Gemeinte ist im Aussagesatz voll darstellbar und ganz aufgehoben. 2. Die Satzfolge richtet sich auf einen Abschluss hin, das heißt, auf eine abgeschlossene Form. 3. Die legitime Form der Gedankenentwicklung ist allein die eindimensionale im Sinne der formalen Logik. 4. Die rein diskursive Rede konzentriert sich auf Tatsachen und Sachverhalte.[11]

Auch wenn diese Form der Rede ihren Ort vor allem in der Naturwissenschaft hat, weist Misch darauf hin, dass sie auch in der Literatur und im alltäglichen Leben angewandt wird.[12] Wo es um Definitionen oder um starre Begriffe, also eine theoretische Sicht auf die Welt geht, hat die rein diskursive Rede ihre Berechtigung. Misch weist jedoch darauf hin, dass die Begriffslehre nicht auf diese Seite beschränkt werden darf. Stattdessen muss man „demgegenüber auch solche Begriffe anerkennen, die nicht definierbar sind, sondern [die] der Ausdruckskraft des Wortes[,] der Sprache zu ihrem Recht verhelfen […].“[13] Er meint hier den evozierenden Ausdruck, in dem das lebendige Wesen der Dinge ausgesprochen und nachvollzogen werden kann. Hier greift das Gemeinte über das in den einzelnen Worten und Sätzen Gesagte hinaus – so wird es möglich, das ‚Unaussagbare‘ doch auszudrücken. Anstatt die Aussage nach ihrer sachlichen Richtigkeit zu bewerten, bedeutet Wahrheit im evozierenden Ausdruck die treffende Realisierung des Gegenstandes, das heißt, der Gegenstand kommt selbst in treuer und echter Weise zur Aussprache.[14]

Diese treffende Realisierung hält Misch für möglich, wie er an mehreren Beispielen treffend erläutert. Die evozierende Rede hat eine mindestens gleichwertige logische Relevanz wie die rein diskursive, weil sie das eigene Selbst der Dinge zur Aussprache bringen kann. Dieses Selbst besitzen die Gegenstände der Geisteswissenschaft (bspw. Religion, Kunst) im Gegensatz zu den Gegenständen der Naturwissenschaft.[15] Es handelt sich streng genommen natürlich um dieselben Gegenstände, die sich erst in den unterschiedlichen Betrachtungsweisen als unterschiedliche zeigen. Misch zeigt dies in der Unterscheidung der chemischen Bezeichnung des Wassers als H2O und der Weise, wie das Wasser sich im Gedicht Der Fischer von Johann Wolfgang Goethe präsentiert.[16] Selbst das Unaussprechliche, beispielsweise Elemente der Metaphysik, kann so ausgedrückt werden – als einziges und einzigartiges Erlebnis, nicht als nur besonderes Exemplar eines allgemeinen Begriffs. Zunächst ist für Misch alles Ausdruck im Lebensverhalten und erhält erst durch die Distanz der theoretischen Betrachtung (natur-)wissenschaftliche Relevanz, wodurch aber die wissenschaftliche Perspektive, die mit dieser Distanz arbeitet, zwangsläufig die einer lebensfremden Objektivität ist.[17] Die logische Abstraktion ist also nicht die ursprüngliche Weise, in der uns die Gegenstände begegnen, sie ergibt sich erst aus dem Schritt der Distanznahme durch die theoretische Betrachtung. In der unmittelbaren Begegnung mit den Dingen gehen diese uns immer schon etwas an, haben für uns immer schon Bedeutsamkeit. Misch fasst dies so zusammen:

[…] alles hat eine Stelle in unserem Leben, ist uns vertraut oder auch fremd und übt dann ständig einen leisen Druck auf uns aus; die Person vor allem sehen wir gar nicht als bloßes Exemplar der Gattung Mensch, sondern dies ist ein Bekannter, dies ein Freund u.s.f. Und vollends die geistige Welt, die unser Leben trägt. Überall die Lebensbezüge, und wo ein Gegenstand in einem Lebensbezug steht, hat er eine Bedeutsamkeit.[18]

Auch Ulrike Draesner stellt in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen heraus, dass das wissenschaftliche Verständnis von richtig und falsch zu knapp greift, da der Sinn der Welt uns als lebende und erfahrende Wesen immer schon anmutet. Draesner hebt daher die Fähigkeit der Literatur hervor, unsere Lebensrealität narrativ nachzuvollziehen. Dabei geht sie im Gegensatz zur Wissenschaft nicht vom Allgemeinen aus, sondern macht das Einzelne zum Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem Leben. Literatur evoziert ein „Wissen, das wir haben, aber nicht wissen. Ein Wissen an der Grenze zu seiner Verfügbarkeit“[19]; sie macht „[e]twas Unsichtbares sichtbar […], so dass das Unsichtbare erhalten bleibt.“[20] Möglich ist dies durch die besondere Form der Literatur. Wie Misch hebt Draesner hervor, dass im evozierenden Ausdruck der Literatur das Gemeinte über die reine Materialität der Sprache hinausgeht und im Ineinander von Ganzem und Teil sich entfaltet.

An dieser Stelle wollen wir ergänzen, was sowohl bei Draesner als auch bei Misch anklingt, wenngleich über das Ausgesprochene hinausgeht. Natürlich erschöpft sich die Wirkung der evozierenden Rede nicht in der technisch einwandfreien Komposition von Begriffen, sodass das ‚Unaussagbare‘ irgendwie doch wieder mechanisch aus den richtig angeordneten Zahnrädern des Textes hervorgeht. Im Gegensatz zur rein diskursiven Rede vollzieht sich Literatur immer im Dialog, sodass vielleicht im Sinne von Emmanuel Lévinas zwei Unendlichkeiten sich begegnen.

Draesner versucht ein Lasso nach diesem Nichts des Unaussprechlichen zu werfen und fängt erstaunlich viel ein: Literatur sei Beschäftigung mit Geistern und Gespenstern. „Geister wohnen an Grenzen“; „Geister sind, was wir selbst nicht sein wollen“; „Geister sind der Ort in uns, an dem wir singen und uns schütteln vor Furcht. Wo Wahrheiten nicht zumutbar sind, weil sie mit jedem Griff zerspringen, durch die Luft fahren auf Schlitten aus Knochen und Zeit“[21]; „Gespenster gibt es als jene, die es nicht gibt. Nicht-greifbar, nicht-messbar, anders-als …, definiert durch ein ‚nicht‘“[22]; „‚Geist‘ bezeichnet eine Stelle des Erzeugens“[23] (– wobei wir sagen wollen: des Evozierens); „Gespenstererzählen macht hörbar, was keine Stimme hat, sich nicht einfach in Begriffen domestizieren lässt, durch unsere Raster und/oder die Grammatik der Sprache fällt.“[24]

Dies lässt sich faszinierend an Gedichten nachvollziehen. Im Gedicht, so Draesner, kann allem eine Stimme gegeben werden (man denke an Christian Morgensterns Glockenschlag, seinen vegetarischen Hecht oder den Seufzer). Draesner ergänzt, dass man dazu allerdings das Konzept des lyrischen Ich verabschieden muss, da dieses die Frage, wer spricht, verunmöglicht, indem diese Leerstelle so scheinbar bereits besetzt ist.

Der Poesie genügt ein Wahrnehmungssinn ohne Ich, ohne Gesamtkörper, ohne Geschichte. Auf wie es scheint natürlichste Weise mag unmittelbar das Gras selbst sprechen, der Tropfen, ein Schwarm. Oder der eigene Körper […]. / Da sie selbst ein Stimmweg ist, liegt es der Poesie, sich auch im Gegenstand Stimmen zuzuwenden. Stimmen, die wir nicht hören, obwohl es sie unzweifelhaft gibt […]. Stimmen, die vergessen oder verboten sind – dürften oder wollten wir, vernähmen wir sie wohl.[25]

Draesner vollzieht das in mehreren Werken inhaltlich wie formal nach, so in ihren Subsongs, in denen sie Kinder, verschiedene Vögel, den Körper sprechen lässt, oder in Sieben Sprünge vom Rand der Welt, wo sie Menschen aus vier Generationen ihre Geschichten von Kriegs- und Fluchterfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs erzählen lässt.

Hier untersucht Draesner die leibliche, kognitive, emotionale Weitergabe der Traumata und Erfahrungen, die nur literarisch gefasst und vermittelt werden können, z.B. durch das In- und Übereinander von Erzählperspektiven, diverse Leerstellen, sowie die Stimmen von bereits Verstorbenen oder am Ende des Romans Emil, der durch Draesner spricht, fragmentarisch, verdichtet, ergreifend, über seine Erfahrungen der Flucht, des Krieges, des Lebens als Sohn mit Behinderung, als sogenanntes „unwertes Leben“.[26]

Genau wie für Misch schreibt Draesner der Literatur eine Wahrheitsfunktion zu, die sie Wahrhaftigkeit nennt: „Wahrhaftigkeit: die Anstrengung, in einem Prozess zur Wahrheit der Figuren vorzudringen. In ein Höhlensystem, durch Forschung und Lauschen und Fühlen und Erfinden, durch Nichtichsein und. Und.“[27]

4. Literaturwissenschaft

Mit Walter Benjamin versuchen wir nun, Draesner, Angelika Krebs und Silvia Bovenschen zu verknüpfen. Benjamin spricht von der Notwendigkeit, die einzelnen (unterdrückten) Stimmen zu Wort kommen zu lassen entgegen einer Geschichtsschreibung, die von den Mächtigen bestimmt wird.[28] Was Benjamin für die Geschichtswissenschaft herausstellt, lässt sich unserer Meinung nach auch auf die Literatur übertragen: Auch hier bietet sich die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, auch hier kann dem aktuell paradigmatischen Schema eine Alternative abgerungen werden, um so die Herrschaftsstrukturen infrage zu stellen. Denn gerade der evozierende Ausdruck bietet der Kunst die Möglichkeit, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die keine Stimme haben oder haben dürfen.

In einem noch nicht veröffentlichten Aufsatz über die Personifikation der Natur als notwendige Metapher stellt Krebs in Bezug auf Misch das besondere Vermögen der evozierenden Rede heraus.[29] Insbesondere das literarische Mittel der Personifikation der Natur ermögliche es, der Natur eine Stimme zu geben – Krebs veranschaulicht dies am Beispiel der Igel im Roman Vorabend von Peter Kurzeck. Damit zeigt Krebs den Wert und die Relevanz evozierender Rede, indem Literatur als reflektierendes Gegenmoment zur Verdinglichung und Instrumentalisierung der Natur wirkt.

Kunst unterliegt jedoch von sich aus Herrschaftsmechanismen und Ideologien und gibt so nicht unbedingt den Unterdrückten eine Stimme, sondern reproduziert, wie Horkheimer und Adorno für die ‚Kulturindustrie‘ aufgezeigt haben, Schemata der Unterdrückung. Was Literatur erzählt, kann also weder als zuverlässige Quelle für die Zustände der Gesellschaft gelten, noch kann per se von der Wahrhaftigkeit der dargebotenen Stimmen ausgegangen werden. Gerade da, wo vermeintlich Stimmen hörbar werden, die in der Realität stummgemacht werden, bedarf es der vorsichtigen Reflexion, da diese Stimmen immer der Manipulation unterliegen können oder gutgemeinte Einfühlung die tatsächliche Perspektive mitunter verfehlt. Diese kritische Reflexion unternimmt aber die Literaturwissenschaft, zum Beispiel wenn Silvia Bovenschen in Die imaginierte Weiblichkeit mit dem programmatischen Untertitel Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen genau diese untersucht und dekomponiert. Dabei wird klar, dass der Diskurs um Weiblichkeit von imaginierenden Männern (auch: Koryphäen der Literaturwissenschaft!) samt ihren imaginierten Frauen geprägt worden ist, wobei reale Frauen lange Zeit weder als Schriftstellerinnen noch als Bürgerinnen zu Wort kamen.[30] Dies zeigt sich an bestimmten Konzeptionen von Weiblichkeit, beispielsweise an der Idealisierung der Weiblichkeit als erstrebenswerte Einheit mit der Natur, die ebenso wie offensive Misogynie zur Aufrechterhaltung von Unterdrückungsmechanismen beiträgt. Diese Idealisierungen wirken auf reale Frauen, die einerseits stumm gemacht werden und die sich andererseits diesen Interpretationsschemata anpassen müssen. Hier spielt die Literaturwissenschaft als kritische Instanz eine tragende Rolle, wie Bovenschen herausstellt:

Ist die faktische Degradierung der Frauen in der Theorie oft genug affirmativ bestätigt worden, so sollte sich wenigstens die kritische Analyse davor hüten, diese Verwechslung, obschon verdeckt, ihrerseits zu betreiben, vor allem dann, wenn die Spannung zwischen der Wirklichkeit und den Einschätzungsmustern einerseits und den theoretischen Diskursivierungen des Weiblichen und den Weiblichkeitsimaginationen andererseits auf dem Programm steht.[31]

5. Schluss

Wir haben hier versucht, den offensichtlich unpassenden Maßstäben, mit denen die Literaturwissenschaft als Wissenschaft gemessen wird, mit einer Forderung nach einer notwendigen Erweiterung dessen, was wir als Wissenschaft begreifen, zu begegnen, und haben dies hoffentlich anhand einiger Beispiele illustrieren können. Die Beschränkung und damit mangelnde Wertschätzung der Germanistik hat unserer Meinung und Erfahrung nach negative Auswirkungen auf den Studienalltag. Wir meinen aber, dass die beschriebenen Probleme nicht allein auf fachinterne oder persönliche Verantwortlichkeit, sondern als Symptome hauptsächlich auf komplexere gesellschaftliche Fragen verweisen.

Wer die Erkenntnis durch die Literatur wie die Literaturwissenschaft aus dem Diskurs ausschließt oder auszuschließen versucht, beraubt uns dabei eines direkten Zugangs zu unserer Lebenswirklichkeit als fühlende Wesen in einer permanent zu hinterfragenden gesellschaftlichen Realität.

Anmerkungen

[1] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2017, S. 12.

[2] Ebd., S. 22.

[3] Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart: Reclam Verlag 2018, S. 12.

[4] Vgl. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung (Anm. 1), S. 31f. u. 36.

[5] Ebd., S. 42.

[6] Vgl. ebd., S. 88.

[7] Vgl. ebd., S. 98.

[8] Ebd., S. 24.

[9] Ebd., S. 173.

[10] Ebd.

[11] Georg Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 1994, S. 505-511.

[12] Vgl. ebd., S. 508f.

[13] Ebd., S. 510.

[14] Vgl. ebd., S. 511-524.

[15] Vgl. ebd., S. 555.

[16] Vgl. ebd., S. 513ff.

[17] Vgl. ebd., S. 559f.

[18] Ebd., S. 578.

[19] Ulrike Draesner: Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen, Stuttgart: Reclam Verlag 2018, S. 149.

[20] Ebd., S. 151.

[21] Ebd., S. 10.

[22] Ebd., S. 16.

[23] Ebd., S. 49.

[24] Ebd., S. 108.

[25] Ebd., S. 127.

[26] Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. München: btb Verlag 2016, S. 549-555.

[27] Draesner: Gespenster (Anm. 19), S. 103.

[28] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Hrsg. von Gérard Raulet, Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, S. 96f.

[29] Angelika Krebs: „Alles ruft“. Warum und mit welchem Recht personifizieren wir die Natur?, in: Dieter Sturma (Hrsg.): Natur und Ethik, unveröffentlichtes Manuskript. An dieser Stelle möchten wir Prof. Dr. Angelika Krebs für die Zusendung des Manuskripts danken sowie für wertvolle Anregungen, die wir im Rahmen einer Tagung zum Thema Umweltethik der Fachschaftsinitiative Philosophie in Würzburg am 24. November 2018 erhalten haben.

[30] Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 23.

[31] Ebd., S. 23f.

Literatur

Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart: Reclam Verlag 2018.

Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Hrsg. von Gérard Raulet, Berlin: Suhrkamp Verlag 2010.

Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979.

Draesner, Ulrike: Sieben Sprünge vom Rand der Welt, München: btb Verlag 2016.

Draesner, Ulrike: Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen, Stuttgart: Reclam Verlag 2018.

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2017.

Krebs, Angelika: „Alles ruft“. Warum und mit welchem Recht personifizieren wir die Natur?, in: Dieter Sturma (Hrsg.): Natur und Ethik, unveröffentlichtes Manuskript.

Misch, Georg: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 1994.