Unruhe ist die erste Studentenpflicht!

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Quellennachweis: Auditorium ‒ Hamburger Studentenzeitung, Jg. 8, Nr. 45, Februar 1967, S. 14. Schütts Beitrag erschien in der Rubrik „Nachrichten, Kommentare“.

 

„auditOrium“, hrsg. vom AStA der Universität Hamburg, Nr. 1‒59, 1960‒1969, hier Nr. 45, 1967.0
Das digitalisierte Titelblatt ist dem MAO-Projekt entnommen, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/NOR/HBG/009/Hamburg_VDS_Auditorium_1967_45.shtml.

Unruhe ist die erste Studentenpflicht!

Es hat sich herumgesprochen, daß die Schüler wieder frech werden. Die Lehrer haben es nicht mit einzelnen Dummejungenstreichen zu tun, sondern mit planvollem Widerstand gegen die Schulgewalt: ganze Klassen weigern sich, ein verordnetes Aufsatzthema zu bearbeiten, boykottieren geschlossen die Religionsstunde und lehnen es ab, an der obligaten Mauerreise teilzunehmen.

Erfreuliche Anzeichen. Auch die Professoren haben ihren verdienten, längst überfälligen Ärger. Aufsässige Studenten verlangen Sitz und Stimme im akademischen Senat, protestieren gegen Willkürentscheidungen der allmächtigen Rektoren und Fakultäten und wagen es, die exkathedralen Vorlesungen der Spektabilitäten unverblümt zu kritisieren. Das Gespenst der freien Meinungsäußerung geht in den Seminaren um.

Ausgerechnet auf dem deutsch-amerikanischen Bollwerk der Freiheit haben ein paar Unbelehrbare, die nach zwanzigjähriger Schulung noch nicht begriffen haben, was christlich, sozial, liberal und demokratisch in der polizeilich kontrollierten Wirklichkeit zu bedeuten hat, am eigenen Leib erfahren, daß frei nur sein darf, wer die bestehende Ordnung verteidigt, die Restauration nach Kräften fördert und dem Kommunismus alles in die Schuhe schieben hilft, was die Regenten versäumt und verfehlt haben.

Zum erstenmal seit dem Spanischen Bürgerkrieg gibt es unter der Jugend eine Internationale der Solidarität, die gegen die amerikanische Aggression in Vietnam gerichtet ist. Am imperialistischen Krieg gegen den Versuch eines Volkes, ein Feudalregime durch egalitäre Neuverteilung der Besitzverhältnisse zu beseitigen, scheiden sich die Geister. So wie der Faschismus in Spanien sein Gesicht verloren und seine entscheidende moralische Niederlage erfahren hat, ebenso demaskiert sich der Kapitalismus in der Polizeiaktion zum Schutz der unternehmerischen Freiheit. Die einhellige Verurteilung der amerikanischen Vietnampolitik zeigt, daß die heranwachsende Generation den Glauben an die Heilige Allianz verloren hat.

Die Jugendlichen aller Länder sammeln und verstehen sich als eine neue Klasse und setzen sich sichtbar und hörbar, durch Miniröcke, Beatlefrisuren, Frivolität, Protestsongs und Gammelei, von der etablierten Gemeinschaftsordnung ab. Sie sind gegenwärtig die einzige Gruppe außerhalb des Systems, die ein aktives, wenngleich unpolitisches Klassenbewußtsein entwickelt. An der Spitze der weltweiten Jugendrevolte agieren die chinesischen Kulturrevolutionäre.

Die spärlichen Funken der Aggressivität gilt es behutsam zu schüren. Nicht um einen vergeblichen Umsturzversuch der bestehenden Ordnung in die Wege zu leiten, sondern um einen Rest an Widerspruchs- und Widerstandsgeist über die Jahrzehnte kraftstrotzender Stabilität, Konstruktivität und Positivität, die uns bevorstehen, hinüberzuretten. Es wird schwer sein, sich aus dem allgemeinen Etablissement von Bonn bis Paris und von New York bis Moskau herauszuhalten und aus der totalen Restauration der scheinheiligen Welt mit einigermaßen intaktem Gewissen davonzukommen. In den westlichen Ländern bestehen vorerst keinerlei Aussichten, durch revolutionäre Aktionen die Welt zum Besseren zu verändern ‒ die entscheidenden Prozesse vollziehen sich in Asien, Afrika und Südamerika, wohin man besser Agitatoren statt Missionare, Rebellen statt Entwicklungshelfer entsenden sollte ‒; es bleibt nur, dafür zu sorgen, daß die größte Koalition aller Zeiten noch einige Lücken und Löcher behält, in denen sich ein wenig Sprengstoff und die Gründungsurkunden des Sozialismus verstecken lassen. Um die Hohlräume der in der Illegalität überwinternden Vernunft aufzuhalten, gibt es nur eins: nichtmitmachen, negieren und zersetzen, Destruktion auf Biegen und Brechen, Vaterlandsverrat auf Gedeih und Verderb!

Als demonstrative und grundsätzliche Infragestellung der Obrigkeitsverfassung haben die studentischen Aktionen und Proteste ihren Sinn. Wenn heute überhaupt irgendeine Gruppe zur Ausbildung eines gesellschaftlichen Bewußtseins bereit ist, dann am ehesten die Studentenschaft. Als geistiges Proletariat hat sie nichts zu verlieren als die Ketten der Bevormundung durch die akademische Hierarchie, deren ständische Struktur dem Feudalismus entstammt: Wenige durch Geist geadelte und Patronage ordinierte reges in regno suo herrschen, assistiert von geisteigenen Kärrnern, auf denen die Hauptlast der Regentenpflichten ruht, über eine entmündigte und entrechtete Masse von Hörigen. Die Universität, deren Rang- und Titelfreudigkeit noch das Militär übertrifft, rühmt sich, daß 1918 und 1945 ohne Folgen an ihr vorübergegangen sind. Es ist Aufgabe der Studenten, dafür auf die Barrikaden zu steigen, daß die Ereignisse von 1918 ‒ die Abschaffung der Monarchie ‒ und von 1945 ‒ die Vernichtung des Faschismus ‒ an den Hochschulen nachgeholt werden.

Peter Schütt