Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: Revolution oder Reform?

Ein Jahrzehnt ab 1969

Von Gertrude Cepl-KaufmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrude Cepl-Kaufmann

 
Inhalt

1. Ein Generationenwechsel vollzieht sich
2. Alte Maßstäbe überprüfen und neue setzen
3. Eine demokratische Germanistik auf einem weißen Blatt
4. Eine demokratische Germanistik steht und fällt mit gesamtgesellschaftlich gelebter Demokratie
5. Anekdoten oder wie das Leben sich einmischt

1. Ein Generationenwechsel vollzieht sich

Ein junger, frisch habilitierter Germanist erhält im Frühjahr 1967 seinen ersten Lehrstuhl. Was wird er an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, dieser Hochburg der Werkimmanenz, in der Lehre anbieten? Er zögert nicht: „Erzählungen des Poetischen Realismus“. Just das gleiche Thema, bei dem Hörsaal X, noch größer als die Aula, aus allen Nähten platzt, wenn Benno Georg Leopold von Wiese und Kaiserswaldau, kurz: Benno von Wiese hinter das Pult tritt.

Gleiches Thema, zwei Schulen: Benno von Wiese, Jahrgang 1903, ist an Emil Staiger orientiert und zehrt vom eigenen schier unerschöpflichen Fundus an kongenialen Textinterpretationen. Unser Debütant stammt aus der dezidiert historischen Schule Friedrich Sengles. Der ist gerade dabei, seine kultursoziologischen Forschungen über das Biedermeier abzuschließen.

Er, der Neue, hat keine Berührungsängste mit dem Meister seines Fachs, würde aber niemals eine Kriegserklärung aussprechen. Seine Ziele verfolgt er erstaunlich selbstsicher und unverdrossen, obwohl er ein „Leiser“, ja, manchmal auch der eher Schüchterne ist. Im historischen Moment eines Generationenwechsels stoßen zwei akademische Selbstverständnisse aufeinander. Es geht weniger um das Austragen von Konflikten, als dass der an Jahren Ältere, gänzlich über jeden Selbstzweifel erhaben, das Neue überstehen will, während der Junge, auf Vatermord verzichtend, auf nichts mehr aus ist, als die Zukunft seines Faches mitzugestalten. Gerade haben die Bonner Studierenden „Benno“ mit einer Plakataktion zu attackieren versucht: Der riesige Schädel der Koryphäe in eine Buchdruckerpresse eingespannt, die am laufenden Band markante und sehr bräunlich gefärbte Textstücke ausspeit.

Die beiden ungleichen Kollegen markieren in Sachen Germanistik eine Zeitenwende: Die Deutungshoheit, die ein Benno von Wiese noch wie ein lebendiges Denkmal seines Standes verkörpern konnte, wird es niemals mehr geben, vielleicht mit wenigen Ausnahmen, etwa dem früh ausgeschiedenen Peter Szondi. Manfred Windfuhr hingegen steht für eine Germanistik, die Aushängeschild sein will des erst kürzlich begonnenen demokratischen Zeitalters. Unterm Strich und von heute aus betrachtet hat die fachinterne Demokratisierung aber nur selten funktioniert, ganz sicher nicht zahlenmäßig überzeugend. Im Fall des nachdenklichen Windfuhr glückte, was sich devisengleich in die Worte fassen lässt: Ein Germanist in der Demokratie für die Demokratie.

Windfuhr, 1930 in Remscheid-Lennep geboren, hatte genug an Nazigeist mitbekommen, um dieses Heilsversprechen als Ungeist und Herrschaftsinstrument zu durchschauen. Er war verschont geblieben von den physischen und psychischen Verletzungen durch den Krieg, den die 1927er- und 1928er-Jahrgänge noch unerbittlich miterleben mussten, und er war jung genug, die beginnende Demokratie als hohes Gut zu erkennen und darauf seinen Lebensplan aufzubauen.

Zurück nach Bonn: Im folgenden Semester findet die erste Begegnung mit dem Strukturalismus statt, insbesondere dem für die Literatur wichtigen Prager Strukturalismus, der seinerseits auf den New Criticism einwirkte. Die verschiedenen Strukturalismen und der 1915 entstandene Russische Formalismus setzen alte Wertungsmuster außer Kraft, indem sie die Aufmerksamkeit von einem ontologisch fundierten Begriff von Dichtung auf das Feld der ästhetischen Form, Funktion und Fragen der Wirkungsästhetik lenken. Die Schlüsseltexte des Strukturalismus sind 1967/68 noch nicht ins Deutsche übersetzt.

Zum Sommersemester 1969 nimmt Wundfuhr einen Ruf an die gerade entstehende Düsseldorfer Universität an (gegründet 1965), im Schlepptau einige seiner Doktoranden und Doktorandinnen, darunter die Verfasserin dieses kurzen Rückblicks. Der Hintergrund: Es gilt Residenzpflicht für die auch von der Stadt mitfinanzierte historisch-kritische Ausgabe der Werke des großen Sohnes der Stadt, Heinrich Heine, die Windfuhr als Leiter der „Arbeitsstelle“ übernahm. Noch befindet diese sich in der auf ihren Abriss harrenden, gänzlich maroden Stadtbibliothek am Grabbe-Platz (heute Kunstsammlung NRW). Unter dem wilhelminischen Prachtschinken gurgelt die Düssel und sorgt dafür, wenn auch ungebeten, dass es dem Mauerwerk an Wasser nicht mangelt.

Windfuhr glaubte, nach wenigen Jahren sei das Editionsunternehmen abgewickelt und er dürfe dann wieder „nur“ Hochschullehrer sein. Weit gefehlt. Die „Düsseldorfer Ausgabe“ entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Sehr zu seinem Kummer musste er Prioritäten setzen. Uns, seinen an der Universität inzwischen etablierten Schüler*innen (insbesondere auch Ariane Neuhaus-Koch und Winfried Hartkopf) vertraute er, souverän wie immer, die Tagesarbeit an und sah in uns die Sachwalter seiner Vorstellung von basisnaher Lehre. Für ihn persönlich bedeutete die Entscheidung für die Edition, seine eigenen Erwägungen, wie es mit der Germanistik weitergehen könnte, zu reduzieren. Doch mit dem, was er in den Aufbaujahren anlegte, bleibt sein wichtiger Part im Chor der Reformstimmen. Als Zeitzeugin übernehme ich gerne die Aufgabe, an die von ihm geprägte Reform der Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität zu erinnern. Geplant war, schon an dieser Stelle quellenbasierte Ergebnisse vorzulegen, doch das Corona-Virus machte alle Türen zu Archiven und Bibliotheken dicht. So war das, was aus derzeitiger Sicht (April 2020) hinsichtlich dessen, was in der Landeshauptstadt nach 1969 germanistisch betrachtet an Bemerkenswertem ablief, mit einem eher panoramatischen Blick zu erfassen.

2. Alte Maßstäbe überprüfen und neue setzen

Manfred Windfuhr brachte einiges mit. Und da er an einmal durchdachten Positionen unbeirrt festzuhalten pflegte, ergaben sich, bezogen auf das, was er seit Beginn seiner Tätigkeit in Düsseldorf umsetzte, stabile Größen, auf die man bauen konnte. Wegen seiner klaren, entschlossenen Positionierungen war er für den Reformprozess unentbehrlich:

Mit Fragen der Gleichberechtigung musste man sich erst gar nicht befassen, wenn man, wie er, eine ebenso simple wie bestechende Lösung bereithielt und der Zitatgeber sozusagen zur Familie zählte. Schon Heinrich Heine wusste nämlich, so Windfuhr: „Genie hat kein Geschlecht“ (ursprünglich ein Zitat von Germaine de Staël). Weil er das genauso sah und lebte, machte ihn seine zukunftsfähige Einstellung in seiner Generation zu einer Ausnahmeerscheinung.

Windfuhr hatte entgegen der mit der beginnenden Diskussion über die Ostverträge auf der Kippe stehenden politischen Mehrheitsmeinung keinen Eisernen Vorhang im Kopf. Ideologiefrei und neugierig wusste er, insbesondere angesteckt von seinem kritischen Heine und dessen politischen Stellungnahmen in schwierigen Zeiten, dass das Interesse an Denkbewegungen legitim, ja, sinnvoll und nötig ist, aber nicht verwechselt werden darf mit einem ideologisch-politischen Bekenntnis. Im damaligen Spektrum von linker Politisierung und Radikalisierung, der Suche nach der direkten politischen Aktion oder nach einer ausschließlich fachinternen Reform, vertrat Windfuhr eine eigene Position: Er vertraute einer traditionsbewussten Philologie, wollte sie aber überprüft wissen auf die reale Auswirkungen ihrer Erkenntnisinteressen. Daran haperte es. Ein angemessenes Methodenbewusstsein, insbesondere das Zulassen literaturhistorischer und kultursoziologischer Fragestellungen und die Ausweitung des Gegenstandsbereichs über eine als Höhenkammliteratur kanonisierte hinaus, sollten der Germanistik wieder zu einer kulturellen Kompetenz verhelfen, die jede elitäre Attitüde ausschloss.

Manches, etwa Geschlechterfragen und die Offenheit im Nachdenken über gesellschaftliche Einstellungen, waren, wiewohl Windfuhr genuin eigene Positionen daraus machte, wesentlich mitbestimmt vom engeren Kreis um Friedrich Sengle, expressis verbis Marie Luise Gansberg, Jost Hermand und Hans-Wolf Jäger. Zum Kreis kritischer Frauen gehörten auch Helga Gallas und seine Frau Erika Schmohl, ebenfalls bei Sengle promoviert. Als Schwester der herausragenden, in Konstanz lehrenden Strukturalistin Renate Lachmann beflügelte sie sein Interesse an Theorie- und Methodenfragen. Das Ehepaar war der Meinung, eine Wissenschaft von der Literatur müsse sich immer auch im Diskurs aktueller kultureller Prozesse legitimieren. Allein schon mit dieser gegenwartsbezogenen Anbindung gewann die Germanistik in Düsseldorf eine eigene, eng mit der kulturellen Identität der Stadt verkoppelte Perspektive.

Die weitgehende Absenz einer überprüfbaren theoretischen Fundierung und die Erkenntnis vom Zusammenhang von Theorie und textanalytischer Praxis war an vielen Universitäten, so auch in Bonn, die Norm. Ein übergreifender Zusammenhang wurde an keiner Stelle des Studiums systematisch vermittelt. Stattdessen beherrschte Faktengläubigkeit den Alltag, bis hinein in die abstruse Praxis der gefürchteten Zwischenprüfung. Die Durchfallquote wurde nicht vom Erkenntnisstand der Studierenden abgeleitet, sondern von der Teilnehmerzahl der Hauptseminare diktiert. So konnte das Zufallsprinzip ‒ welche aufeinanderfolgenden Begriffe aus Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur kommen als Nächstes an die Reihe? ‒ über die berufliche Zukunft der Probanden bestimmen.

Manfred Windfuhr aber dachte integrativ und er handelte vernetzt. Dergestalt entstand „seine“ spezifische Germanistik. Seine Schüler*innen, also auch ich selbst, waren Teil dieser Denk- und Arbeitsweise. Mit einigen Mitstreitern und motiviert von Windfuhr entstand so das „Düsseldorfer Modell“, über das ich weiter unten sprechen möchte.

3. Eine demokratische Germanistik auf einem weißen Blatt

In der Phase seines Umzugs nach Düsseldorf sann Windfuhr auf dem Hintergrund seiner vom Großteil der germanistischen Zunft abweichenden Einstellung zu Germanistik und Politik und zum Intellekt von Frauen darüber nach, was vor Ort zu seinem Ideal einer offenen Wissenschaft und ihrer Lehre passen könnte:

Ein demokratischer Wissenschafts- und Diskussionsstil war das Gebot der Stunde

Windfuhr benötige ein Diskussionsforum und um diese Vision wahrzumachen, opferte er Teile der Grundausstattung, die er mit seiner Berufung zugesagt bekommen hatte. Er kollektivierte sie und schuf einen Ort des Austauschs, das „Aktualitätenkabinett“. Hier waren Neuerscheinungen, Forschungstrends und anderes mehr direkt zugänglich. Das Ganze war ein Angebot für den offenen Meinungsaustausch. Schnell war eine Brücke zur Umgebung geschlagen: Die Diskussionen setzten sich außerhalb des Haues fort. Zum damaligen Zeitpunkt war der Campus im südlichen Düsseldorf noch im Bau, die Institute der zukünftigen Phil-Fak in einer Reihe alter Bürgerhäuser zwischen Schwanenspiegel und Altstadt untergebracht, bevor diese später im Zuge der Vervollständigung der Gesamtanlage des Landtags abgerissen wurden. In unmittelbarer Nachbarschaft entstand, fast gleichzeitig mit dem Institut, das „Voltaire“, ideal für die Fortsetzung der Diskursgemeinschaft, mit oft identischer Besetzung. Der Weg vom Institut zur Heine-Arbeitsstelle führte durch die Altstadt; dort gab es bald weitere Trefforte, z.B. die „Destille“ auf der Bilker Straße. Dorthin, ins 1970 gegründete Heinrich-Heine-Institut, in unmittelbarer Nähe zum für seinen exquisiten Markt weit über Düsseldorf hinaus bekannten Carlsplatz, war inzwischen auch die „Arbeitsstelle“ gewechselt. Auf dem anderen Rheinufer wurde es ab 1977 cineastisch: Aus dem Geist der Germanisten und der Philosophen (Heinz Holzapfel und Peter Liese) wurde das Programmkino im Souterrain des legendären „Muggel“ in Oberkassel geboren.

Eine Hochschule in der Demokratie muss mehr bieten als die Addition von Seminarveranstaltungen

Manfred Windfuhr wollte mit seinen Möglichkeiten eine Art akademische Schule begründen, nicht explizit, doch wiedererkennbar: akademische Schule als ein abendländisches Muster, das einst entstanden war bei den Peripathetikern und der Schule von Athen, die es vor die Mauern, in den Hain des attischen Heros Akademos geführt hatte. Für demokratische Zeiten ließ sich einiges aktualisieren: Gleichberechtigung, Hierarchieabbau, Ansätze zu gemeinschaftlichem Leben mit Symposien und Festen. Vielleicht war es ein ebenfalls aus antiken Zeiten tradierter Wert, der in dieser Endphase einer autoritären Erziehung und der beginnenden Politisierung einen Neuanfang setzte, der insbesondere die Studierenden und Doktoranden ansprach: die gleichberechtigte Einbindung in den Prozess der Wissenschaft und Erkenntnis und das damit verbundene Vertrauen in die Kommiliton*innen. War es für das Gros der Schüler*innen das Thema Heine, in das sie mit aktiven Aufgaben im Kontext der Edition einbezogen wurden, verdankte ich selbst Windfuhr eine erste Veröffentlichung, und zwar die Gemeinschaftsedition einer zweibändigen Pestalozzi-Ausgabe. Die in dieser ersten Düsseldorfer Phase noch überschaubare Community hatte diese Vorliebe Windfuhrs für aufklärerische Pädagogik und die Literarisierung von Erziehungsfragen mit einem Bildgeschenk, einem philantropischen Idealentwurf zur Lebens- und Erziehungsgemeinschaft honoriert, das fortan als Anschauungsbild unübersehbar die Abteilung „Neuere Literaturwissenschaft“ zierte.

Die Antrittsvorlesung als Programmofferte für eine eigene „Schule“

Lange vor dem Spacial Turn in den Geisteswissenschaften erkannte Windfuhr, dass sich eine wissenschaftliche Institution ganz wörtlich genommen „verorten“ und sich von den räumlich-historischen Gegebenheiten ausgehend eine spezifische Identität zulegen muss. Sein Ansatz setzte ein hohes Maß an Aktualität und Lebendigkeit voraus und musste zugleich zu seinen eigenen Forschungsschwerpunkten passen. So wurde daraus in seiner Antrittsvorlesung ein Plädoyer für eine „Rheinische Sozialkritik von Spee bis Böll“.[1] Heine eingeschlossen, erschien der Vortrag in der Reihe „Texte Metzler“ des damals renommiertesten Germanistenverlages. Über die fachwissenschaftlichen Ergebnisse hinaus wollte Windfuhr mit der Druckfassung ein Zeichen setzen für seine künftige Forschung und das Erkenntnisinteresse seiner „Schule“. Er fundierte damit einerseits seine editorische Arbeit, andererseits legte er damit das Fundament für die kulturtopographische Erforschung der „Moderne im Rheinland“, die ich selbst seit 1989 als Arbeitskreis und seit 2000 als Institut an der Heinrich-Heine-Universität etablieren konnte. Während Windfuhr sich in großer Selbstverständlichkeit stets auf Friedrich Sengle als seinen Lehrer berief und nach dessen Tod 1994 seinen Gesamtnachlass im Heine-Institut betreute, war es mir wichtig, den von ihm aufgegriffenen und anverwandelten Traditionsfaden weiterzuspinnen, erkennbar in der gemeinsam mit meiner eigenen Schülerin Jasmin Grande seit über einem Jahrzehnt praktizierten Kooperation.

Gastvorträge. Den Geist zum Diskurs werden lassen

Düsseldorf hatte bis weit in die 1970er-Jahre eine vergleichsweise winzige Phil-Fak, entsprechend überschaubar war die Germanistik. Ein Studium Generale war nicht eingerichtet worden. So entstand eine Vortragskultur, die sich zum einen an den Fragen des Fachs und der Zukunft der Universität ausrichtete, zum anderen die Studierenden zu Teilhabern einer kulturaktiven Szene machen sollte. Es kamen Jost Hermand aus Wisconsin, der zu aktuellen Fragen des Methodenpluralismus sprach, Eberhard Lämmert, der seine Kritik am Fach Germanistik als „einer deutschen Wissenschaft“ vortrug, Marcel Reich-Ranicki, der die Kriterien seiner Literaturkritik darzulegen in Aussicht stellte (die aber nicht herauszulocken waren, trotz insistierender Fragen der Studierenden, was zu einer denkwürdigen, argumentationsstarken Demontage des seinerzeit noch nicht ganz so berühmten Großkritikers führte). Und es kamen der Düsseldorfer Schriftsteller und Chronist seiner Zeit, Rolf Bongs, ein Zeitzeuge zum Anfassen, ferner Dieter Wellershoff, der die traditionell starke Achse Rheinland-Paris aktivierte und über den hochaktuellen Poetikdiskurs Nouveau Roman vs. Kölner Realismus sprach. In diesem Geist stand auch der Besuch von Lucien Goldmann. Er referierte ein Jahr vor seinem Tod in den für akademische Veranstaltungen angemieteten Räumen der VHS zum Thema Strukturalismus und politische Theoriebildung (der Strukturalismus war in Düsseldorf durch die Etablierung eines zweiten Lehrstuhls in der Neueren Literaturwissenschaft bestens vertreten). Goldmanns Erscheinen gehörte zu den intellektuellen Highlights dieser frühen Jahre. Nicht minder waren es die Besuche von Peter Weiss und Daniel Spoerri. Dazu weiter unten mehr.

Freiheit der Lehre

Modernierung ist in universitären Kontexten ein zweischneidiges Schwert, besonders wenn sie den jahrhundertelang vertretenen Anspruch der Philosophie, Königsdisziplin sämtlicher Einzelfächer zu sein, verringert oder gänzlich eliminiert. Solche problematischen Entscheidungen hatte es schon vor der Gründung der Universität Düsseldorf gegeben. Zum Beispiel war das „Philosophikum“ abgeschafft bzw. durch die oft erst neu instituierte Erziehungswissenschaft ersetzt worden. Die Düsseldorfer Philosophen saßen, abgehängt von allen Philologien, die sie einst angeführt hatten, fernab am Rhein in einer Villa auf der Cecilienallee und hatten mit der Reform des Studiums nichts zu tun.

Der selbstverschuldete Ausgang in die Kopflosigkeit blieb nur deshalb zunächst aus, weil sich in Düsseldorf eine mit der Geschichte der Stadt verbundene Gemengelage ergeben hatte, zu der die originellen Denker und starken Universitätslehrer unter den Philosophen, etwa Rudolf Heinz und Lutz Geldsetzer, ebenso zählten wie die damals generell zum Studium an der Universität berechtigten Studierenden der Kunstakademie und eine beachtliche Philosophieklasse am Comenius Gymnasium, die reihenweise philosophisch ungewöhnliche Jungsemester nachlieferte. Außerdem kam es zu wichtigen Neuberufungen. Zur mit Marburg, Heidelberg und München verbundenen Sengle-Schule gesellte sich ein zweiter neugermanistischer Zweig, angeführt vom aus Heidelberg ins Rheinland berufenen Arthur-Henkel-Schüler Herbert Anton. Mit ihm kamen aus der Gadamer-Schule Manfred Frank und Gerhard Kurz, auch stieß von Heidelberg der philosophisch-hermeneutisch bewanderte Linguistik Ludwig Jäger als Bereicherung der von Georg Stötzel vertretenen Germanistischen Sprachwissenschaft hinzu. Jäger wurde durchaus stilbildend, nicht zuletzt mit einer aus dem Umfeld seiner Tätigkeit beim Satiremagazin Pardon erprobten Macht der Rede. Er würde, von Aachen aus, der Hochburg der Linguistik, die wesentlich von ehemaligen Düsseldorfer Linguisten bestückt wurde, die zukünftige Neurolinguistik nachhaltig beeinflussen. Kurz: Düsseldorf konnte in diesen Jahren mit einer ambitionierten und hochkarätigen Germanistik aufwarten.

Eine Germanistik in transdisziplinärer Offenheit

Klein, aber fein, könnte man die Situation der Düsseldorfer Germanistik der 1970er-Jahre überschreiben. Nimmt man noch die starke Riege der mit Namen wie Theodor Schieder und Wolfgang Mommsen verbundenen Historiker und auch den zu jener Zeit für zwei Jahrzehnte zum Rektor gewählten Altgermanisten Gert Kaiser hinzu, könnte man post festum sagen: Es war in diesen Jahren ein guter Rat, ein Germanistikstudium an der Universität Düsseldorf zu ergreifen. Wenn ich Höhepunkte für meine intellektuelle Entwicklung und den Stellenwert meiner eigenen den Reformkurs aufgreifenden Veranstaltungen anführen sollte, so waren es die Seminare zur Münchner Räterepublik und die aus Bonner Zeiten nach Düsseldorf getragenen Studien zum Strukturalismus. Das Thema „Münchner Anarchisten“ fand nicht nur Anhänger*innen, es zeitigte auch bis heute gültige Forschungen zu Gustav Landauer und Erich Mühsam. Rolf Kauffeldt, der mit einer umfassenden Arbeit zu Mühsam beschäftigt war, prägte als AStA-Vorsitzender das politische Klima der Universität im Geist dieses libertären Sozialismus; er wurde zu einer der Leitfiguren im Kampf um die Benennung der Heinrich-Heine-Universität.

Das Seminar zum Strukturalismus stützte sich auf das legendäre Kursbuch Nr. 5 aus dem Jahr 1966 und auf den Reader, den die Teilnehmenden erarbeiteten und den man noch heute drucken könnte. Mit dabei, außer einigen der oben Genannten, Wolfram Hogrebe, der schon als Erstsemester in einer Graphik die gesamte abendländische Philosophiegeschichte darzustellen vermochte, ferner Jochen Hörisch, der provokative Mythenkritiker. Im Strukturalismus-Seminar trafen sich Lernende und Lehrende als Diskursgemeinschaft freier Geister.

Institutskonferenz

Je mehr Studierende und Lehrende in der jungen Düsseldorfer Germanistik zusammenkamen, desto dringlicher stellte sich die Frage nach einer Institutsordnung. Die Praxis einer doch erstaunlich gut funktionierenden Solidargemeinschaft sollte den Grundstein legen für paritätische Entscheidungen. Beweise für einen Konsens gab es aus meiner Sicht genug und hatten wir nicht mit einer dieser herrlich schönen Hammel-am-Spieß-Feiereien am nächtlichen Rhein diesen Konsens besiegelt? Vielleicht hätten wir mit dem ausgelassenen Feiern warten sollen, bis der Erfolg in trockenen Tüchern war. Am Ende siegte das Vetorecht, auf das die Professorenriege als letzte Bastion der Allmächtigen nicht verzichten wollte. So recht wollte keine Freude mehr aufkommen.

Hochschullehrer und Hochschüler

Obige Niederlage der Studierenden und des Mittelbaus wurde kein totales Finale, eher wurde aus einem gemeinschaftlichen Vorstoß eine Rückkehr ins eigene Lager. Manfred Windfuhr zumal hatte seine Doktorandentreffen schon längst in ein Forum der kollektiven Lektüre verwandelt. Diese Gemeinschaftsidee in einem Fach, das der NS-Ideologie in Teilen zugearbeitet hatte, musste insbesondere die Gegenwart im Blick behalten. Was ist aus der Gemeinschaftsidee geworden? Zweierlei: Ersten: Der Lektürekreis besteht bis heute. Zweitens: Das monumentale Alterswerk „Zukunftsvisionen“[2] ist die üppige Frucht auseinandersetzungsreicher Jahrzehnte eines Emeritus. Ein „Ruhestand“, der immer noch auf das hinsteuert, was Windfuhr zeitlebens beschäftigte und was er für sein Fach als sinngebend verstand: Die Erkenntniskraft der Literatur wecken.

Hochschuldidaktik

Warum betrachte ich die Reformgermanistik als Ereignis? Begonnen hatte alles mit der Geburt eines bis dahin unbekannten universitären Hilfsfachs: der Hochschuldidaktik. Unter der Vielzahl der Zeitschriften-Neugründungen dieser Tage gab es Beispiele für eine „Alternative“, aber eben auch für „Hochschuldidaktik“ pur. Um ein Ereignis scharte sich fast die gesamte Community aus rund 70 bis 80 jungen Kolleg*innen: Das Treffen der Germanisten in Konstanz im Jahr 1972. Netzwerke entstanden und das generationsspezifische Gefühl griff um sich, für Innovationen auf diesem Terrain mitverantwortlich zu sein. Was die damals aktuell anstehende Neustrukturierung des Fachs angeht, bot Konstanz eine einmalige Situation: Ausnahmslos alle Vertreter der Älteren Abteilung betonten in der Vorstellungsrunde: „Altgermanist, auf dem Weg zur Linguistik“.

Das Düsseldorfer Modell in der Reihe „Texte Metzler“

In den 1970er-Jahren wurde in zahlreichen Fächern das Tutorensystem eingeführt. Schon seit 1969, in den ersten Semestern am Düsseldorfer Germanistischen Seminar, dem Beginn meiner Tätigkeit als Dozentin, gab es konkrete und innovative Pläne für ein didaktisches Konzept, das der Basisstein des Düsseldorfer Germanistikstudiums werden sollte. Die Überlegungen setzten dort an, wo ein besonderer Reformbedarf vorhanden war, am Grundstudium und hier vor allem an der „Einführung“. Das Einführungsseminar sollte neben den Grundbegriffen der Textanalyse und -interpretation die Grundlagen des Textverstehens vermitteln, mit anderen Worten integrales Ziel war eine Einführung in Fragen der Hermeneutik. Und es wurden die produktionsästhetisch relevante Rhetorik, die Gattungstheorie und das Spektrum historisch relevanter Methoden in den Blick gebracht. Ein weiteres Lernziel im Übergang von der Schule zur Hochschule: ein wissenschaftsadäquates Ausdrucksvermögen und Diskussionsverhalten. Insgesamt zielte das Konzept auf einen kritischen Zugang zum Fach und auf praktische Erfahrungen in Kleingruppen, ermöglicht durch Tutor*innen im Sinne von Windfuhrs Schulebildung.

Das Modell wurde über mehrere Semester erprobt und ausdifferenziert. Auf Vermittlung von Manfred Windfuhr wurde daraus eine Publikation beim Metzler Verlag.[3] Bekannt geworden ist unser Ansatz der Reformgermanistik als „Düsseldorfer Modell“. Langfristig gewirkt hat insbesondere der Versuch einer systematischen Erfragung der mitgebrachten Fachkenntnisse der Erstsemester. Jost Hermand würdigte die Veröffentlichung in seiner Geschichte der Germanistik; sie war für ihn auch ein Beleg für die Zeiten einer „bekenntnisfreudigen Germanistik“. Ich stimmte ihm vorbehaltlos zu.

4. Eine demokratische Germanistik steht und fällt mit gesamtgesellschaftlich gelebter Demokratie

Bleibt zum Abschluss noch der kurze Blick auf eine Germanistik, die sich „verortet“ und damit die Stadt Düsseldorf in Erscheinung treten lässt. Eine auf Demokratie setzende Reformgermanistik sollte die Höhe des Diskurses nicht aufgeben, wohl aber die elitäre Deutungshoheit. Düsseldorf war ein idealtypisches Probengelände: Die auf der „Kö“ (Königsallee) ablesbare snobistische Attitude war die eine Seite, dagegen bediente die Altstadt als „die längste Theke der Welt“ die leicht ordinäre und bierselige Klientel. Doch da war auch ein tertium datur, die Kulturgeschichte einer Stadt, die schon in den 1770er-Jahren zu den modernen Kulturzentren zählte. Gerhard Kurz erweckte die Erinnerung an das „geistige Düsseldorf“ mit einer gelungenen Retrospektive. Nicht nur die Heine-Tradition, das Goethe-Museum und insbesondere die Kunstakademie repräsentierten die Erinnerung daran, in Düsseldorf wurde Moderne groß- und immer auch weitergeschrieben. Mittendrin die Studierenden der Universität und die junge Dozentenschaft. Gemeinschaftsbildende Ansätze fanden sich bei den „Klassikern“, dem Kellnerjob in der Brauerei Uel oder im Spoerri, den Gruppenausflügen und Exkursionen in die Kulturregion Rheinland, den Treffen im maßstabsetzenden Lokal Creamcheese oder in der Kultkneipe Ratinger Hof, Urzelle des deutschen Punk.

Neben das Informelle trat die gezielte Aktion: Manfred Windfuhr initiierte eine Öffentlichkeitskampagne, die sogenannte „Uni in der Stadt“-Bewegung. Zwei Flyer, angereichert mit einer forschen Erwartungsliste, wie und was Düsseldorf als frisch gekürte Universitätsstadt alles verändern müsse, lagern noch heute im Archiv der HHU.

Mein Dissertationsthema „Günter Grass“ brachte mich mit dem Bonner Kreis der Sozialdemokratischen Wählerinitiative in Verbindung. Nach einer einwöchigen Wahlreise an der Seite von Grass ins tiefschwarze Niederbayern und Oberfranken war klar, dass es auch in Düsseldorf einen Ableger dieser frühen, von Grass initiierten Bürgerbewegung geben müsse. Lore Lorentz, die schon damals herausragende Kabarettistin des Kom(m)ödchens, stand mit den Germanisten für Gespräche über die Ostpolitik an einem Stand der Wählerinitiative vor dem Kaufhaus Karstadt bereit. Grass kam nach Düsseldorf, um die Aktion „Willy wählen“ zu unterstützen. Von der Idee einer Kunstauktion fühlten sich etliche Künstler angesprochen, so auch ZERO. Die Auktionen halfen, die Aktionskasse zu füllen, einzig eine Lichtinstallation von Heinz Mack war nicht loszukriegen und ruht vielleicht noch heute in den Katakomben eines Bilker Bürgerhauses, weil niemand eine Transportmöglichkeit anbieten konnte. Joseph Beuys stiftete 50 Mark für eine der vielen Bekenner-Anzeigen in der Rheinischen Post, wenig später gründete er sein „Anti-Wahl“-Büro auf der Benderstraße. Aktiv war auch die Akademie: Dammraths „Jour Fixe“, Anatols Work in progress im Foyer der Universitätsbibliothek, die Museumsinsel Hombroich mit der Klause von Ludwig Soumagne, Dialektdichter und Bäckermeister aus Norf, der die Kunst der Litanei auf hohem Niveau zelebrierte. In Schloss Harff bewunderten wir die älteste datierbare Handschrift des Sachsenspiegels, kurz bevor 1972 der Abriss losging, nahe an jener Grube, die später mit dem Ortsnamen Garzweiler unrühmlich Geschichte schrieb.

5. Anekdoten oder wie das Leben sich einmischt

Aus der Vielzahl an Ereignissen und Erlebnisse will ich drei Beispiele herausgreifen ‒ Peter Weiss, Daniel Spoerri und Karin Struck ‒, weil sie anschaulich machen, was keiner am Schreibtisch ausgedachten Reform passieren kann, nämlich von der Realität eingeholt zu werden:

Peter Weiss oder eine Uraufführung stößt auf Widerstand

War die Düsseldorfer Germanistik politisch? Ja, ganz sicher, mit einer erkennbaren Tendenz zur Sozialdemokratie, die in diesen Tagen freilich linker war als heute. Revolutionär war sie nicht. Die meisten wollten den demokratischen Grundkonsens. Es bestand eine große Bereitschaft, die Kraft zopfiger Rituale zu brechen. Groß war die Kritikbereitschaft, die sich gleichermaßen gegen Theorie und Praxis wandte. Warenästhetik und Warenkritik waren In-Themen. Auch die Suche nach einer Literatur und nach Schriftstellern oder Schriftstellerinnen, die wegweisend sein konnten, war verbreitet.

Ein Stück Praxis bot die Eröffnung des Düsseldorfer Schauspielhauses auf dem Gustaf Gründgens-Platz im Jahr 1970. Mit den Prinzipalen Louise Dumont und Gustav Lindemann hatte das Haus Theatergeschichte geschrieben, auch mit den großen Dramaturgen, darunter Gustav Landauer, der von Düsseldorf aus in die Münchner Räterepublik geraten war. Im Krieg zerstört, hatte die Stadt gerade einen aufwändigen Neubau nahe der Kö errichtet. Zur Eröffnung gab es die Uraufführung von Peter Weiss’ Trotzki im Exil. Die Stimmung in der Stadt war aufgeheizt. Der teure Theatertempel stieß auf Kritik. Im Germanistischen Seminar saßen wir beisammen und diskutierten Protestkonzepte. Angeführt von Manfred Frank.

Der Premierenabend nahte, der Platz schwarz von protestierenden Menschen. Wie hätte ich, ausgestattet dank theaterbesessener Freunde mit einer Einladung in die geschlossene Gesellschaft, glauben können, unentdeckt bleiben zu können, als eine in bodenlangen himmelblauen Chiffon gehüllte Sumpfblüte des Spätkapitalismus… Zu spät: Mein Name fiel, die Zeigefinger hatten eine eindeutige Zielrichtung und der Spießrutenlauf war nicht mehr aufzuhalten.

Am nächsten Morgen kam Peter Weiss ins Seminar, wollte über die Aufführung diskutieren, aber niemand war dort gewesen, außer der oben genannten Sumpfblüte. Fast so wie im Stück, wo sich die schillernde Schar des Cabaret Voltaire mit den graugestrickten Lenin-Anhängern in Zürichs Spiegelgasse ein groteskes Stelldichein lieferte. Die Ästhetik des Widerstands hatte es schwer, von sich reden zu machen. Peter Weiss aber ließ nicht ab, sie zu fordern.

Daniel Spoerri im Dada-Seminar oder Endstation Ästhetik

In Dada-Seminaren traf Universität auf Akademie. Eine überaus fruchtbare Allianz, die im Sommersemester 1973 vom Besuch eines Dadaisten gekrönt wurde: Daniel Spoerri. Er war mit seiner Eat-Art in aller Munde und betrieb in der Altstadt, unmittelbar neben einer Beuys-Galerie, in deren Schaufenster rhythmisch aufgeblasene Hasen für Irritationen sorgten, ein Restaurant, in dem Elefantenrüsselsteaks der Hit waren. Einer „unserer“ Studierenden, Günther Horn, kellnerte dort und animierte den Schweizer dazu, uns seine Sicht auf die Ästhetik der Zürcher Dadaisten zu vermitteln. Er kam, in Begleitung einer Muse, die geradewegs dem Spiegelgassen-Cabaret Voltaire entsprungen zu sein schien. Spoerri erwies sich als profunder Kenner und Sammler, begeisterter Erzähler mit Kompetenz und poetischem Elan. Geballte Stille und Ehrfurcht vor solcher Kunst. Am Ende war es an mir, als Seminarleiterin Danke zu sagen für diesen einmaligen Auftritt. Zu diesem Zeitpunkt, es war Anfang Juli, war ich unübersehbar schwanger, im September sollten meine Zwillinge zur Welt kommen. Die Situation sofort im Griff, wechselte Spoerri binnen einer Sekunde den Plauderton, schaute auf das Prachtstück von Bauch, fasste mit ungeheurem Ernst die Studierenden ins Auge und verkündete mit Stentor-Stimme: „Entsorgen Sie sofort und für alle Zukunft die viele Ästhetik ins Nirgendwo, denn es gibt nur ein einziges Moment eines schöpferischen Daseins: Leben schenken.“ Sprach’s, nahm seine Muse bei der Hand und entschwand. Seine Rede hat wohl nicht nur mich nachhaltig beeindruckt!

Karin Struck oder die wundersame Verwandlung vom „Werkkreis“-Mitglied zur Mutter

Karin Struck war schon in Bonner Zeiten auf dem Weg dazu, von Manfred Windfuhr geschätzt zu werden, weil sie sich mit Verve der Erforschung von DDR-Literatur verschrieben hatte. Ihre lauten Beschimpfungen während der Vorlesung, er sei doch nichts anderes als ein „liberaler Scheißer“, konnten Windfuhrs Einstellung zu ihr nichts anhaben.

In Düsseldorf kam aufgrund der kulturellen Tradition der Stadt ein besonderes Bündnis zustande. Es gab hier eine traditionell starke KPD, mit enger Anbindung an Schauspielhaus und Kunstakademie. Der später hauptsächlich in der DDR aktive „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung“ hatte in Düsseldorf seine stärkste Bastion im Westen. Die „Arbeiterkorrespondentenbewegung“ aus der Zeit der Weimarer Republik wurde weitergeführt mit einer sehr aktiven Werkstättenarbeit, insbesondere im Umfeld von Henkel und der Gerresheimer Glashütte. Hier war Karin Struck zuhause. Ihr Mann leitete das Wahlbüro des „Aktionsbündnisses demokratischer Fortschritt“. Es wurden „rote“ Feste gefeiert, bei denen der größte Teil der rheinischen Schriftsteller mit linker Einstellung nicht fehlte. Alles schien intakt. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass diese heile Welt wie ein Kartenhaus zusammenfallen könnte. Der Grund: Das Kreatürliche holte Karin Struck ein, in Form einer Schwangerschaft und dem drohenden Verlust ihrer Zähne. Sie begann zu schreiben. 1973 erschien bei Suhrkamp ihr Bändchen Klassenliebe, das den Wechsel in eine neue Innerlichkeit und den Weg zu den Müttern und verletzten Seelen unumkehrbar machte. Sie schrieb sich damit ein in die Geschichte der Nachkriegsliteratur.

Anmerkungen

[1] Manfred Windfuhr: Die unzulängliche Gesellschaft. Rheinische Sozialkritik von Spee bis Böll, Stuttgart: Metzler 1971 (Texte Metzler Bd. 19).

[2] Manfred Windfuhr: Zukunftsvisionen. Von christlichen, grünen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2018 (882 Seiten!).

[3] Gertrude Cepl-Kaufmann, Winfried Hartkopf: Germanistikstudium. Einführung in das Studium der Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler 1973 (Texte Metzler Bd.15).