Mittwoch, 18.3.

12.237 Infizierte. Shutdown. Kitas und Schulen sind geschlossen, Geschäfte und Friseure ebenso. Die komplette Gastronomie und alle Hotels. Nur Lebensmittelläden, Apotheken und Drogeriemärkte dürfen geöffnet bleiben, auch die Post. Alle Gottesdienste sind abgesagt.

Ich habe in den letzten Tagen Fotos gemacht von verlorenen Orten. Menschenleere Bars dokumentiert: „Dieser Tisch ist leider zur Sicherung des Mindestabstandes gesperrt!“ Es blieben viele Tische unbesetzt in meinem Lieblingscafé. Der Mindestabstand von 1,5 Metern – mit gelb-schwarzen Leuchtstreifen auf dem Fußboden markiert. „Dieses Lokal bleibt bis auf weiteres geschlossen!“ – „Aus aktuellem Anlass kürzere Öffnungszeiten von 10 bis 15 Uhr.“ Am Schaufenster einer Vorstadt-Buchhandlung klebt eine „Einladung zum Bücher-Hamstern“, mit E-mail und Handynummer. Dazu der launige Satz: „Vermeiden Sie es, den Weltuntergang ohne die passende Lektüre erleben zu müssen!“
Auf Laternenpfählen und Häuserwänden kleben handgeschriebene Zettel: „Hilfe beim Einkauf und Unterstützung im Alltag“. Der von allen Geistern verlassene Marienplatz. „Paulaner statt Corona!“ hat einer, dem noch zum Scherzen zumute war, auf eine Mauer geschrieben.

Noch vor einigen Tagen war ich am Ammersee. Der letzte glückliche Tag in Freiheit. Ein Freund feierte seinen 50. Geburtstag. 20 Gäste, die Höchst-Zahl für eine Feier, keine Party. Filmschaffende, Musiker, Grafiker, aufgeklärte Menschen. Wir aßen selbstgemachte Quiche mit Spinat und erzählten uns Corona-Witze. Frage: „Warum hamstern die Deutschen soviel Klopapier?“ Antwort:  „Wenn einer niest, machen sich 20 in die Hose!“ Das Virus nahm keiner so richtig ernst; bald werden sie nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen.
Ich hatte ein Zimmer in einem sehr alten Hotel gebucht. Ein Fachwerkhaus aus dem 16. Jahrhundert, liebevoll restauriert. Schiefe Böden, verwinkelte Flure. Ich wollte Geld sparen, hatte das kleinste Zimmer im Haus genommen, für 70 Euro die Nacht. Schon beim Betreten des Zimmers spürte ich, dass ich hier nicht gut schlafen würde: Das Doppelbett war in die Nische unterm Fenster gepresst und nahm den halben Raum ein. Wollte ich das Fenster öffnen, musste ich über die durchgelegene Matratze robben. Die Nachttischlampe funktionierte nicht, ich hatte Probleme, den Fernseher einzuschalten. Die Luft war sehr stickig, als wäre sie in den Jahrhunderten verbraucht worden. Ich wälzte mich unruhig hin und her. Ich war froh, als es 6 Uhr war und ich aufstehen konnte. Aus Langeweile machte ich in dem ovalen goldenen Spiegel ein paar Selfies.
Dann inspizierte ich den Aufenthaltsraum am Ende des Flurs. Der Dielenboden knarrte unter meinen Füßen. In einem Körbchen lagen Kondome und Feuerzeuge des Radiosenders egoFM. Ich nahm mir welche und fühlte mich wie eine Freibeuterin. Es war Zeit für eine Zigarette.
Ich hatte Glück: Die Bäckerei gegenüber war schon geöffnet. Coffee to go und ein Mandelhörnchen. Im wunderschönen Hinterhof des Hotels ließ ich mich auf einen magentafarbenen Stuhl nieder und genoss die erste Zigarette des Tages. Ich hatte noch Zeit bis zum Frühstück, schlenderte durch den Ort. Dießen war und ist eine belebte Künstlerkolonie; um diese Uhrzeit begegnete ich nur einer Frau, die ihren Hund ausführte. Punkt 8 Uhr war ich im Frühstücksraum: Antike Möbel, Jugendstillampen, ein altes Klavier. Ich war der einzige Gast. Als ich mein Müsli löffelte, schlurfte ein mittelalter Mann herein. Er trug Birkenstocksandalen mit weißen Socken. Hastig verschlang er sein Frühstück und verließ den Raum grußlos. Ich orderte zwei doppelte Espressi (morgens brauche ich extra starken Kaffee). Später, beim Bezahlen der Rechnung, klingelte das Telefon. Jemand stornierte sein Hotelzimmer. Die Auswirkungen des Shutdown. Ich würde gerne wiederkommen in dieses Hotel „Maurerhansl“ in Dießen am Ammersee, aber wer weiß schon, wann das möglich sein wird?

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020