Samstag, 28.3.

70.000 Gedanken schießen täglich durch unseren Kopf. Die meisten davon sind negativ. Wieviel mehr in diesen Wochen. Corona verstärkt das Katastrophen-Denken. Ich massiere meinen Nacken. Manchmal sind Schmerzen besser als Gefühllosigkeit.

Es gibt viele Arten zu sterben; Covid-19 ist vielleicht die schlimmste. Es heißt, die Lunge versteinert. 1000 Menschen müssen derzeit in Deutschland beatmet werden. Wir haben 28.000 Intensivbetten. Das sind die Relationen. Auf meinem Nachttisch liegt immer mein Smartphone. Die Notrufnummer ist als erste eingespeichert, damit ich sofort die Rettung rufen kann. Meine Mutter war ein schlechtes Vorbild für mich: Sie war auf ihren kranken Körper fixiert, beobachtete seine Regungen wie unter einem Brennglas. Ich fürchte, sie hat mich mit ihrer Angst angesteckt. Manchmal schrubbe ich mitten in der Nacht meine Badewanne, um zu testen, ob ich körperlich belastbar bin. Mühsam gewöhne ich mir ab, wie ein Pawlowscher Hund alle Gesundheitssendungen im Fernsehen anzuschauen.

Die letzte Enklave der Ignoranz: Im Big-Brother-Container von SAT.1 wussten die Bewohner lange nicht, was draußen passiert. Dass die Welt wegen Corona rotiert. Dann wurden sie informiert und fielen aus allen Wolken. Vertreibung aus dem Paradies der Unwissenden.

Prinz Charles hat sich infiziert. Er hat zu viele Hände geschüttelt. Das Virus ist bei den Royals angekommen. Queen Elizabeth schottet sich in ihrem Schloss ab. Und wie geht es Prinz Philip? Ein altersschwaches Pärchen mit hohem Risiko zu erkranken. Die Quarantäne der Greise.

Eine Dystopie: Sommer 2021. Söder ist Bundeskanzler, der Virologe Drosten Bundespräsident. Alle arbeiten im Homeoffice. Social distancing ist das effektivste Verhütungsmittel. Ans eingesperrte Volk werden Psychopharmaka verteilt, um es bei Laune zu halten. Die neue Währung ist Klopapier, der Lieblingsvorname für Mädchen Corona. Senioren leben in Dauer-Quarantäne auf den Nordsee-Inseln. Nur Hundehalter dürfen noch auf die Straße. In Deutschland gibt es 40 Millionen Alkoholiker. Angela Merkel arbeitet ehrenamtlich bei der Tafel. Jeden Sonntag um 18 Uhr erklingt von den Balkonen die Nationalhymne.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020