Mittwoch, 1.4.

Pandemie: sich weit ausbreitende, ganze Landstriche, Länder erfassende Seuche; Epidemie großen Ausmasses. Wenn in früheren Zeiten eine Pandemie ausbrach, griffen die Herrschenden nicht ein. Das Leben wurde nicht heruntergefahren, Kranke nicht isoliert. So verlor England durch die verheerende Pestepidemie um 1350 rund ein Drittel der Bevölkerung.

Mein Blick schweift im Zimmer umher und fällt auf das Foto meines alten Vaters. Es ist vielleicht zwei Jahre vor seinem Tod entstanden. Er ist, wie immer, recht farbenfroh gekleidet: bordeauxfarbener Pullover mit V-Ausschnitt, darunter ein mittelblaues Hemd, eine gemusterte Krawatte, die farblich dazu passt. Er hatte ein Faible für Krawatten, eine komplette Schublade seiner Wäschekommode war bestückt damit. Fein sorgfältig waren sie einsortiert, wie mein Vater überhaupt ein Ordnungsfanatiker war. Es tat mir in der Seele weh, als meine Brüder nach seinem Tod all diese Krawatten in einem grauen Müllsack entsorgten.
Seine Lieblingskrawatte war mit kleinen Löwen bedruckt: Mein Vater war Sternzeichen Löwe, und er liebte Bayern. Wenn er mich in München besuchte, machten wir immer einen Abstecher zu Loden Frey; hier kaufte er seine Lodenmäntel und Trachtenhüte, die er zum Kirchgang aufsetzte. Als er fast erblindet war, fragte er mich oft um Rat, welche Krawatte er zu welchem Hemd tragen sollte. Das waren die schönsten Momente unserer Beziehung.
Mein Vater rührte mich. Je älter er wurde, desto stärker wurde meine Zuneigung. Ich sah ihn auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzen, zusammengeschrumpft auf Zwergen-Größe. Immer lief der Fernseher, obwohl er kaum noch das Bild erkennen konnte. Manchmal wollte er wissen, was denn gerade so passierte im Film. Ich reagierte mit Ungeduld, was mir heute leid tut. Wenn er seine Brille abnahm, sah ich seine winzigen, wasserblauen Augen, die müde in die Welt blickten. Es waren diese fast erblindeten Augen, die mich zu Tränen rührten.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020