Mein Berlin 1968
„Two Cultures“ und Wege zur Mediengeschichte. Ein Erinnerungsversuch
Von Helmut Schanze
Inhalt
I „Das paßt mir nicht“ ‒ die unterbrochene Debatte der „zwei Kulturen“
II Two Cultures
III Zwischen den Stühlen
IV Kulturelle Konstellationen 1968
V Epilog: Wege und Umwege zur Geschichte der Digitalmedien
Den unmittelbaren Anlass zum nachfolgenden Erinnerungsversuch bot ein jüngst wiederentdecktes Textzeugnis aus der Geschichte der Germanistik: das im Telegrammstil abgefasste Protokoll von Eva D. Becker zum berühmten und berüchtigten Germanistentag in Berlin 1968. Becker war seit 1967 Assistentin von Helmut Kreuzer (s.u.), der damals noch an der Universität Saarbrücken lehrte.
Im Becker’schen Protokoll ist unter Mittwoch, dem 9. Oktober 1968, vermerkt:
15 Uhr Allgemeine Diskussion. 1 Stunde über Themenvorschläge
und deren Gliederung. Lämmert als vorläufiger Disk.leiter (+ Weil[an]d.
etc.), fragt ungeschickt bei Abstimmungen („..ob..“)
1. Thema: Schul- u. Hochschulgermanistik (?)
(Beginn 1/2 17, bis 18 Uhr!)
(Podium: Frau Böse, Glinz, Schanze, X)[1]
I „Das paßt mir nicht“ ‒ die unterbrochene Debatte der „zwei Kulturen“
Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte, die im obigen Zitat angeführte „Allgemeine Diskussion“ sogar mehrere. Auch hatte sie Nachgeschichten, auf die sich die Erinnerungsarbeit beziehen kann. Die erwähnte Podiumsdiskussion („Podium: Frau Böse, Glinz, Schanze, X“) wurde angesetzt nach einem veritablen Eklat, der in breitem Maße Eingang in die Berichterstattung der überlokalen Presse fand. Am Vortag hatte der Aachener Lehrstuhlinhaber für theoretische Physik Wilhelm Fucks (1902‒1990, Emeritierung 1970) zum Thema „Analysen formaler Eigenschaften von Texten mit mathematischen Hilfsmitteln“ gesprochen. Laut Programmheft trug er zum Tagungspunkt „Germanistik und Mathematik“ (Wilhelm Fucks, Klaus Baumgärtner) bei, welchem der Punkt „Germanistik und Naturwissenschaft“ (Walter Heitler, Albrecht Schöne) vorausgegangen war.[2]
Zum Vortrag von Fucks am 8. Oktober notierte Eva D. Becker: „Fucks […] beginnt patriarchalisch-humoristisch, anekdotisch, wird dann immer gereizter, da er dauernd von den Studenten unterbrochen wird. Zeigt Dias, spricht nur von den Details, nicht von grundsätzlichen Fragen. Beweist indirekt Berechtigung der stud. Forderungen.“ Auf eine Diskussion ließ sich der Referent nicht ein. In der Presse ist von ihm jenes Diktum überliefert, mit dem er den Saal verließ: „Das paßt mir nicht.“[3] Wer beklagte sich hier?
An der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) „las“ der Direktor des I. Physikalischen Instituts regelmäßig vor gut 1.200 Hörern im 1954 (einige sagten sogar: eigens für Fucks) erbauten Audimax. Seine Vorlesungen waren ein absolutes multimediales Event für die Studierenden, auch wenn sie sich dabei von oben gelegentlich mit selbstgebastelten Flugkörpern bemerkbar machten. Die Maßzahl für naturwissenschaftliche Vorlesungen lautete seinerzeit „1 Fucks“ = „ein Dia pro Minute“, sozusagen PowerPoint vor seiner Erfindung. Andere wie die Maschinenbauer und die Elektrotechniker kamen auf maximal 0,5 Fucks, die trockenen Mathematiker auf 0,1 Fucks oder sogar weniger. Zu denen, die in dem Ruf standen, gewohnheitsmäßige Tafelnutzer zu sein, gehörten die Literaturhistoriker.
Der Experimentalphysiker Dr.-Ing. Wilhelm Fucks, hochgeehrt, war einer der Gründer des Kernforschungszentrums Jülich, heute Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ). Sein Forschungsschwerpunkt lag im Bereich Plasmaphysik. Die RWTH und das FZJ betreiben bis heute in Europa neben dem CERN in Genf, an dem Tim Berners-Lee (Erfinder des World Wide Web) tätig war, die jeweils leistungsfähigsten Großrechenanlagen. Interdisziplinarität war für Fucks selbstverständlich. Eine seiner vom Land Nordrhein-Westfalen großzügig geförderten Arbeitsgruppen arbeitete auf dem Gebiet der quantitativen Textanalyse – heute unter dem Schlagwort „KI-Forschung“ bekannt. In der Einleitung zu Nummer 8 der LiLi, die Wilhelm Fucks zum 70. Geburtstag gewidmet ist, führte der Informatiker Rul Gunzenhäuser 1972 aus:
Wilhelm Fucks hat schon sehr frühzeitig die Notwendigkeit einer interdisziplinären Forschung erkannt und im weiten Feld seiner Interessen und Aufgaben verwirklicht. Die exakte Literaturwissenschaft und Linguistik verdankt seinem Einfallsreichtum und seinem Blick für größere Zusammenhänge wesentliche Methoden und wichtige Gesetzmäßigkeiten. […] Mit der Gründung der „Gesellschaft zur Förderung der Erforschung von Grundlagen der Anwendung von Methoden der Mathematik und der Naturwissenschaften auf andere Sachgebiete“ und deren „Institut für mathematisch-empirische Systemforschung (MESY)“ in Aachen [wurde] unter seiner Leitung die Grundlagenforschung auf dem Sektor der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften gefördert und in einem eigenen Institut betrieben.[4]
Zu dem von Helmut Kreuzer in Verbindung mit Rul Gunzenhäuser herausgegebenen Band Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft, erschienen in der Reihe „Sammlung Dialog. Bildung durch Wissenschaft“ der Nymphenburger Verlagshandlung München (1. Aufl. 1965, 2. Aufl. 1967, 3. Aufl. 1969, 4. Aufl. 1971), hatte Fucks gemeinsam mit seinem Mitarbeiter, dem Mathematiker Josef Lauter, einen Beitrag zum Thema „Mathematische Analyse des literarischen Stils“ beigesteuert.[5] Die zweite Auflage von Mathematik und Dichtung war um eine „Einführende Bibliographie“ (S. 347‒357) ergänzt worden, die der junge Wolfgang Klein (* 1946) erstellt hatte. In den „Bio-bibliographischen Notizen“ zu Mathematik und Dichtung wird Klein mit den Worten vorgestellt: „[…] arbeitet bei Professor Eggers, Germanistisches Institut der Universität des Saarlandes, an der syntaktischen Analyse deutscher Sätze mit Hilfe von Elektronenrechnern.“ 1970, in dem Jahr, in dem Helmut Kreuzer (1927‒2004) Ordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Bonn wurde, gründete dieser zusammen mit Gunzenhäuser, Wolfgang Haubrichs und Wolfgang Klein „LiLi“, die „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik“. Mit ihr war ein programmatischer Brückenschlag zwischen den Teilfächern der Germanistik intendiert.
Am 8. Oktober war es auf dem Germanistentag um „grundsätzliche Fragen“ gegangen, die am nächsten Tag in einer „Allgemeinen Diskussion“ verhandelt werden sollten. Im Protokoll von Becker wird die „Schul- und Hochschulgermanistik“ erwähnt, womit vor allem der problematische Praxisbezug der germanistischen Wissenschaften angesprochen wurde. Hierzu hatten der Aachener Linguist Hans Glinz und Ursula Böse, Oberstudienrätin aus NRW, Grundlegendes beizutragen. Keine Berücksichtigung fanden dagegen jene mit den Forschungen von Wilhelm Fucks, seinem Vortrag und den studentischen Forderungen verbundenen „grundsätzlichen Fragen“, die u.a. die „Frage einer exakten Literaturwissenschaft“ und Stichpunkte wie „Interdisziplinarität“, „mathematische Hilfsmittel“ und deren „Methodik“ in den Fokus gerückt hätten.
II Two Cultures
Im Hintergrund stand eine internationale Debatte. Sie war von Charles P. Snow (1905‒1980) in seiner berühmten und umstrittenen „Rede Lecture“ ausgelöst worden, die dieser 1959 in Cambridge gehalten hatte.[6] In ihr ging es um die Dichotomie zweier Kulturen, die literarische und die naturwissenschaftliche, zwischen denen eine Verständigung nicht mehr möglich sei.
1968 hatte der Karlsruher Ordinarius für Nachrichtentechnik Karl Steinbuch (1917‒2005) die These von Snow in seiner Streitschrift Falsch programmiert (1968) aktualisiert und politisiert.[7] Steinbuch verwies die Geisteswissenschaften in eine „Hinterwelt“. Helmut Kreuzer, wie Eberhard Lämmert eine der Leitfiguren der neuen „progressiven Universalgermanistik“,[8] Vertreter eines erweiterten Literaturbegriffs, und Wolfgang Klein, später Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik, dokumentierten 1969 die Debatte unter dem Titel Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die „zwei Kulturen“ (Stuttgart: Klett 1969).[9]
Der Berliner Germanistentag sollte, so die erklärte Absicht der Veranstalter, zu einem Forum des „Dialogs“ zwischen geisteswissenschaftlichem „Verstehen“ und naturwissenschaftlichem „Erklären“ werden.[10] Aber spätestens nach dem Vortrag von Fucks kam es nicht etwa zu dem prognostizierten kreativen Moment, sondern zum Clash of Cultures. Oder um es noch deutlicher auszudrücken: Ein Dialog zwischen den „zwei Kulturen“ fand nicht statt.
III Zwischen den Stühlen
Was qualifizierte jenen Aachener Assistenten, der sich als Literaturwissenschaftler unversehens und ungeplant aufs „Podium“ in der „Staatlichen Ingenieurakademie Gauß“[11] gesetzt sah, außer vielleicht seine Jugend? Er gehörte wie der Linguist Hans Glinz der 1965 gegründeten Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen an, verfügte folglich über Erfahrungen mit der anderen Kultur. Für ihn boten sich besondere Möglichkeiten, in den „Dialog der Geisteswissenschaften mit den technischen und Naturwissenschaften“[12] einzutreten.
Er war 1965 in Frankfurt am Main an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität promoviert worden. Gutachter der „Probefahrt“ mit dem Titel „Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis“ waren der Literaturhistoriker Heinz-Otto Burger und der Philosoph Theodor W. Adorno. Letzterer hatte das Dissertationsvorhaben 1962 angeregt. Gedruckt erschien die Dissertation im Herbst 1966 in der Reihe „Erlanger Beiträge“, in zweiter Auflage 1976.
In Aachen waren ab 1966 noch „Tagesreste“ aus der Frankfurter Zeit abzuarbeiten. Siegfried Unseld hatte den alten Insel-Verlag übernommen. Wenig später entstand der Plan für die neue Reihe „Sammlung Insel“ (mit Theodor W. Adorno als Ratgeber und Walter Boehlich als Cheflektor). Bei einer Einladung in das Verlagshaus in der Frankfurter Lindenstraße erhielt der frischgebackene Doktor phil. vom Verleger persönlich einen Auftrag, auch dieses Mal vorgeschlagen von Adorno: die Herausgabe eines Bändchens mit dem Titel „Die andere Romantik. Eine Dokumentation“. Im Klappentext werden die Ziele des Unternehmens knapp umrissen:
Die hier veröffentlichten Schriften und Briefe entwerfen ein kritisches, gesellschaftliches Bild der Romantiker, das dem landläufigen durchaus widerspricht. Absicht dieses Bandes ist es, die Romantik dem trüben Feld deutschtümelnder Ideologie zu entziehen. Stattdessen soll eine „andere Romantik“ gezeigt werden, die weder wirklichkeitsfremd noch nationalistisch empfand. Die Affinität zum progressiven europäischen romantisme wird durch F. Schlegels universales Postulat vollends deutlich: „Vereinigung der Schönheit, Wahrheit, Sittlichkeit, Gesellschaftlichkeit“.
Als „Sammlung Insel 29“ konnte der Band 1967 erscheinen – rechtzeitig vor dem Göttinger/Berliner Transparent „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot“. Wie Studenten aus Paris mitteilten (anlässlich eines Geburtstagsgeschenks 1969), soll es einen Raubdruck in französischer Übersetzung gegeben haben – gesichert ist das allerdings nicht.
1967 folgte ein weiterer Auftrag: In dem auf vier Bände geplanten „Insel Heine“ war der Band „Schriften über Deutschland“ zu besorgen – dem Philosophen Wolfgang Harich war von den Herren in der „Hauptstadt der DDR“ Publikationsverbot auferlegt worden. Die neue Ausgabe nahm Heines Anordnung der französischen Edition seiner Texte auf. Sie erschien ‒ im roten Einband ‒ rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse 1968, quasi parallel zum Germanistentag in Berlin.
In Aachen hatte Wilhelm Fucks den ausgewiesenen Romantikforscher 1966 zu seinem Projektkolloquium eingeladen. Anlass war ein mathematisch-statistisches Dissertationsvorhaben seines Mitarbeiters, des Mathematikers Dieter Wickmann, zur Verfasserfrage der Nachtwachen von Bonaventura (1805).
1968 hatten der Dialog mit der Technik und den Naturwissenschaften und die vorhandenen Möglichkeiten in Aachen bereits zu vorzeigbaren Ergebnissen geführt. 1968 erschien als Band 1 der Reihe „Indices zur deutschen Literatur“ der Index zu Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Es ging um die Nutzung von mathematischen Hilfsmitteln zwecks Erstellung eines traditionellen Hilfsinstruments der philologischen Forschung.[13] Dazu musste das Romanfragment „abgelocht“, d. h. digitalisiert werden; anschließend wurden die „Wortkörper“ im Rechenzentrum mit einem eigens dafür adaptierten Programm maschinell alphabetisch sortiert. Zur Unterstützung richtete der Leiter des Rechenzentrums, der Mathematiker Dr. Dieter Haupt, eine kleine Arbeitsgruppe ein, genannt „Nicht-Numerische Datenverarbeitung“. Motti des Rechenzentrums waren: „Unmögliches wird sofort erledigt. Wunder dauern etwas länger. Auf Wunsch wird auch gehext“ und „Muss es Datenverarbeitung sein oder darf es etwas schneller gehen“. Neu war, dass das Ergebnis so formatiert wurde, dass damit schon eine Druckvorlage existent war (Grundoperation „Print“). Die Arbeitsgruppe im Rechenzentrum und der „Maschinengermanist“ standen in engem Kontakt zur Arbeitsgruppe von Wilhelm Fucks zur „Exakten Literaturwissenschaft“, auch wenn bei den „Indices“ nur die datentechnische Grundoperation „Sort“ als Voraussetzung für „Search and Find“ angewandt wurde.
Der Aachener Assistent saß auf dem Podium, virtuell eingeklemmt zwischen den „zwei Kulturen“, die von den Veranstaltern des Germanistentags als dialogfähig erklärt worden waren. Er saß quasi zwischen den Stühlen. Ob er etwas zu sagen hatte, „das wissen die Götter“. Der Dialog war von beiden Seiten, unter Bestätigung ihrer gegenseitigen Vorurteile, abgebrochen worden. Er war, in der aufgeregten Atmosphäre, durch eine „Allgemeine Diskussion“ am Folgetag nicht mehr kommunikativ einzulösen. Das Protokoll hält, wohl zu Recht, eine Leerstelle fest. Die Nutzung der Flüstertüte (des Megaphons als „heißen“ Mediums) war den Demonstranten vorbehalten. Die abendliche aktuelle Berichterstattung im Medium Fernsehen zeigte nur die Störung und die „Störer“.
Aus meiner Aachener Sicht handelte es sich 1968 durchaus um einen kreativen, zukunftsweisenden Moment. In Berlin war dies vor allem Eberhard Lämmert zuzuschreiben, „der sich vier Tage lang als Moderator ein Maximum an Geduld, Disziplin und Umsicht abverlangte“.[14] Für die Veranstalter von „Berlin 1968“ und für die Beteiligten auf dem Podium sollte der Dialog zwischen den Wissenschaften, innergermanistisch zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft,[15] allgemein zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften stattfinden. Die Aktualität der „studentischen Forderungen“ wurde als „Störung“ im Fortschritt der Wissenschaft erfahren. Ex post wurde die „Störung“ zum Ereignis der Fachgeschichte.
IV Kulturelle Konstellationen 1968
Hervorzuheben sind noch weitere damals aktuelle Konstellationen. Im Suhrkamp-Verlag kamen 1961 unter dem Titel Ausgewählte Schriften 1. Illuminationen (Herausgeber: Siegfried Unseld) Texte von Walter Benjamin heraus, darunter der epochemachende Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 1966 folgten mit Ausgewählte Schriften 2. Angelus Novus weitere Benjamin’sche Essays zur Geschichte der Medien, z.B. die Kleine Geschichte der Photographie.
1968 erschien unter dem reißerischen Titel Die Magischen Kanäle die deutsche Übersetzung von Understanding Media (1964) des kanadischen Literaturwissenschaftlers Marshall McLuhan, 1970 Hans Magnus Enzensbergers Aufsatz mit dem genialen Titel Baukasten zu einer Theorie der Medien (Kursbuch 20, S. 159‒186).
1967 hielt der Kölner Happening- und Fluxus-Künstler Wolf Vostell im Foyer des Reiffmuseums, Sitz der Architekturfakultät der RWTH Aachen, den Vortrag „Vorschlag für den Umbau des Aachener Kaiserdoms“. 1968 veranstaltete der Wiener Performance-Künstler Günter Brus auf Einladung der Architekturstudenten die Aktion „Die Architektur des hellen Wahnsinns“. Seit 1968 brachte das Sammlerehepaar Peter und Irene Ludwig in Zusammenarbeit mit dem Gründungsdirektor der Aachener „Neuen Galerie – Sammlung Ludwig“, Wolfgang Becker, die Kunst der Lower East Side, später rubriziert unter dem Begriff „Pop Art“, nach Aachen (die Sammlung Ludwig wurde 1971 öffentlich gemacht). An das Ereignis „Pop“ und die Tagung der „Gruppe 47“ 1966 in Princeton erinnert mein kleiner Beitrag in dem 2019 veröffentlichten Bändchen Peter Handke beschimpft die Gruppe 47.[16]
V Epilog: Wege und Umwege zur Geschichte der Digitalmedien
Für März 1969 lag mir eine Einladung in die USA vor, mit den Stationen New York, Cambridge/Massachusetts und Madison/Wisconsin. Vortrags- und Gesprächsgegenstand war „Die Blaue Blume im Computer“, eine statistisch-philologische Untersuchung zu Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen auf Basis des vollständigen Wort-Indexes, der 1968 als erster Band der Reihe „Indices zur deutschen Literatur“ erschienen war ‒ ein erstes „electronic book“. In New York erschienen junge Leute von der Columbia University zum Vortrag. Sie arbeiteten mit an einem kryptischen Projekt namens „ARPANET“ und wollten wissen, was jenseits des „Atlantic River“ im Bereich der „nicht-numerischen Datenverarbeitung“ angesagt war. Wohin „ARPANET“ als „World Wide Web“ führen sollte, war damals kaum zu erahnen.
Am German Department der Harvard University gab es unter den Hörern einen jungen Germanisten namens Randall Jones, mit dem später der kühne Plan verwirklicht werden konnte, ein neues Faust-Wörterbuch in der Reihe „Indices“ zu erarbeiten und den ganzen Goethe nach der Hamburger Ausgabe in 14 Bänden (München: Beck 1982‒2008) zu digitalisieren. Das abgeschlossene Goethe-Projekt wurde unter dem Reihentitel „Elektronische Bibliothek zur deutschen Literatur“ (Tübingen: Niemeyer 1990) als Band 1 (mehr nicht erschienen) zunächst auf 67 unhandlichen Disketten, später auf CD-ROM, publiziert.
Am Massachusetts Institute of Technology galt der Besuch dem Novalis-Forscher Martin Dyck, der 1960 seine Dissertation Novalis and Mathematics: A Study of Friedrich von Hardenberg’s Fragments on Mathematics and its Relation to Magic, Music, Religion, Philosophy, Language, and Literature veröffentlicht hatte und nun als Literaturwissenschaftler am „MIT“ lehrte, neben dem Linguisten Noam Chomsky.
In Madison (Wisconsin) besuchte ich Reinhold Grimm, vormals Assistent am Deutschen Seminar der Goethe-Universität, der nun am German Department der University of Wisconsin lehrte.
Durch Pierre Bertaux, der ein Hölderlin-Wörterbuch nach der Großen Stuttgarter Ausgabe anregte, kam es zu Kontakten mit dem Institut d’Allemand d’Asnières an der Université Paris III – Sorbonne Nouvelle und später auch zu einem persönlichen Besuch beim ehemaligen Chef der Surété Nationale in Sèvres. Berlin war fern, Paris lag näher – Studenten, die zu Füßen von Derrida und Foucault gesessen hatten, stellten das Lehrprogramm der Germanistik radikal in Frage. Damit zusammenhängend wandelten sich die „studentischen Forderungen“. In Aachen kam es zur Neukonzeption der „Einführungen“ in das Studium der Literatur- und Sprachwissenschaften im Rahmen eines Projektstudiums. Diese „Einführungen“ und die damit verbundenen Methodendiskussionen waren letztlich Überforderungen für die Studierenden. Mit Recht kann man sie „Einführungen für die Einführenden“ nennen.
Der literaturwissenschaftliche „Mittelbau“ in Aachen – inzwischen gehörten ihm schon eine beachtliche Zahl an, jedoch weit entfernt von der Personalstärke des benachbarten Maschinenlabors und seiner Forschungs- und Entwicklungskapazitäten – konzipierte in Teamarbeit eine gedruckte „Einführung“.[17] Sie sollte das Pendant bilden zu den von Hans Glinz und seinen Mitarbeitern konzipierten „Linguistischen Grundkursen“.[18] Das der Einführung in die Literaturwissenschaft gewidmete Ullstein-Taschenbuch Nr. 2941 wahrte die Verbindung zu einer allgemeinen Kommunikationswissenschaft und betrieb eine Literaturwissenschaft in semiotischer Sicht. Das Gemeinschaftsprodukt erschien 1972 in hoher Auflage, gedruckt auf Zeitungspapier und mit einem Recycling-Umschlag.[19]
Für das Sommersemester 1972 kündigte der nunmehrige Privatdozent für „Neuere deutsche Literaturgeschichte“ eine Übung zum Thema „Medientheorie“ an. Die mathematischen Hilfsmittel, der emanzipative Mediengebrauch im Sinne von Enzensbergers „Baukasten“, die Magischen Kanäle von Marshall McLuhan boten hinreichend Stoff zur Diskussion. Hinzu trat das neue „Digitalmedium“. Für das Ablochen der Kleist- und Hölderlin-Texte stand eine Maschine im Kellergeschoss des Germanistischen Instituts einsatzbereit. Als technische Medien kamen zu den Berliner Flüstertüten, den revolutionären Megaphonen, wie sie auch in der abendlichen Berichterstattung des Fernsehens prominent zu sehen waren, die brandneuen tragbaren Video-Recorder hinzu. Die Analyse von Fernsehsendungen war an der RWTH dank professioneller Geräte (MAZ) schon frühzeitig möglich. Weil zur technischen Ausstattung ein Magnet-Aufzeichnungsgerät gehörte (eine Ampex-Maschine aus den USA, wie sie auch der Westdeutsche Rundfunk als Ausspielmaschine nutzte), konnten die „Serien“ des werbefinanzierten Vorabendprogramms im Sinne eines erweiterten Literaturbegriffs zu Gegenständen der Literaturwissenschaft werden.[20] Beschafft wurden die Abspielgeräte u.a. zum Zweck der Entwicklung, Auswertung und des Einsatzes von computerunterstützten Unterrichtsprogrammen im Medienverbund.
Im Dialog zwischen den geisteswissenschaftlichen und den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern zeichnete sich nach 1968 eine kommunikative Wende ab: Im Anschluss an Benjamins These von der „Veränderung der Wahrnehmung“ durch neue Medien verwandelte sich die traditionelle Literaturgeschichte ganz ohne viel Aufhebens in eine „Literaturgeschichte als Mediengeschichte“, so einer der Vortragsgegenstände auf der Tagung der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten in Düsseldorf 1976.[21]
Anmerkungen
[1] Sabine Koloch: Verbandspolitik Schwarz auf Weiß, aber mit Zwischentönen im Hintergrund. Das Protokoll von Eva D. Becker zum Deutschen Germanistentag 7.–12. Oktober 1968 in Berlin (21-seitiges PDF-Dokument), URL: https://literaturkritik.de/public/artikel.php?art_id=1138&ausgabe=51 (11.7.2018), S. 10.
[2] Einladung und Programm zur Tagung des Deutschen Germanistenverbandes vom 7. bis 12. Oktober 1968 in Berlin, o.O. u.J. (12-seitige Broschüre), S. 3.
[3] Sibylle Wirsing: Die Unruhe, einmal ausgebrochen, wird weiterwirken. Germanistik geht alle an ‒ Rückblick auf eine „umfunktionierte“ Tagung, in: Der Tagesspiegel 24, 1968, Nr. 7021, 13.10.1968, S. 4.
[4] Zitiert nach dem Wikpedia-Artikel über Wilhelm Fucks, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Fucks (Anlage der Seite am 2.8.2008).
[5] Vgl. Oliver Müller: Messbare Dichtung? Eine Feldstudie zur exakten Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren, in: Georg Mein, Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld: Transcript 2004, S. 149‒180.
[6] C[harles] P[ercy] Snow: The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 1959. Der Titel der deutschen Ausgabe lautet: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz (Versuche; 10), Stuttgart: Klett 1967.
[7] Karl Steinbuch: Falsch programmiert. Über das Versagen unserer Gesellschaft in der Gegenwart und vor der Zukunft und was eigentlich geschehen müßte, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1968 (8. Aufl. 1970; München: dtv 1969, 7. Aufl. 1974).
[8] Vgl. den ersten Satz des Programmfragments Nr. 116 in der romantischen Zeitschrift Athenäum von August Wilhelm und Friedrich Schlegel, 1798: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.“
[9] Vgl. auch Helmut Kreuzer (Hrsg.): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion, München: dtv 1987.
[10] F.A.Z.: Germanistentag in Berlin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 20, 1968, Nr. 233, Montag, 7. Oktober 1968, S. 22: „Das Tagungsprogramm versucht einen Dialog zwischen benachbarten Disziplinen. Die deutsche Philologie wird mit der Methodik anderer Fächer (Naturwissenschaft, Mathematik, Romanistik, Musikwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Politologie) konfrontiert. Dabei kommen auch Fragen aus dem Grenzbereich von Germanistik und diesen benachbarten Gebieten zur Sprache.“
[11] Germanisten / Kongress. Exil im Wedding, in: Der Spiegel 22, 1968, Nr. 42, 14.10.1968, S. 200, 202, hier S. 200: „Auf Vorschlag der Schulbehörde beschloß der Vorstand, den Tagungsort aus Berlins unruhiger Freier Universität in die ‚Staatliche Ingenieurakademie Gauß‘ zu verlegen. Die Gelehrten retirierten zu den Arbeitern vom Wedding.“
[12] Ich zitiere Paragraph 1 der „Satzung der Goethe-Gesellschaft in Aachen“.
[13] Die Reihe, erschienen im Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main, später im Niemeyer Verlag, Tübingen, herausgegeben von Winfried Lenders, Helmut Schanze und Hans Schwerte, umfasst mehr als 40 Bände, darunter zur Literatur der Neuzeit das Wörterbuch zu Heinrich von Kleist, bearbeitet von Helmut Schanze (1969/1970), der Index zu Georg Trakl, Dichtungen, bearbeitet von Wolfgang Klein und Harald Zimmermann (1971), das Wörterbuch zu Friedrich Hölderlin, bearbeitet von Heinz-Martin Dannhauer, Hans Otto Horch, Klaus Schuffels, Manfred Kammer und Eugen Rüter (1983/1992), die Verskonkordanz zu Goethes „Faust, Erster Teil / Zweiter Teil“, bearbeitet von Randall L. Jones und Stephen P. Sondrup (1986/1989) sowie weitere kanonische Texte aus der Literatur des Mittelalters. Von heute aus gesehen sind dies die Dinosaurier der Digitalisierung.
[14] Wirsing (wie Anm. 3), S. 4.
[15] Zur „Scheidung“ der deutschen Philologie in Linguistik und Literaturwissenschaft vgl. Siegfried Grosse: Scheidung auf Philologisch, in: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 17, 1970, 2, S. 2‒3.
[16] Jörg Döring [Hrsg.]: Peter Handke beschimpft die Gruppe 47. Mit einem autobiographischen Nachwort von Helmut Schanze, Siegen: universi – Universitätsverlag 2019.
[17] Dieter Breuer, Paul Hocks, Helmut Schanze: Literaturwissenschaft. Eine Einführung für Germanisten, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1972 (2. Aufl. 1973).
[18] Vgl. auch die von Hans Glinz, Horst Sitta, Klaus Brinker und Josef Klein im Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main, herausgegebene Reihe „Studienbücher zur Linguistik und Literaturwissenschaft“ (Bd. 1‒9, 1970‒1979).
[19] Der spätere Aachener Kollege Jörg Schönert erinnert sich an die „schwarze Einführung“ mit den Worten: „Angehörige des ‚Mittelbaus‘ am Germanistischen Institut der RWTH Aachen waren die Verfasser. Ich habe in diesen Jahren der Debatten und Diskussionen das schwarze (Ullstein Taschen-)Buch, auf einer Art Zeitungspapier gedruckt, als ein mutiges und gelungenes Unternehmen geschätzt.“ Jörg Schönert: „Einführung in die Literaturwissenschaft“. Zur Geschichte eines Publikationstypus der letzten 50 Jahre, URL: https://literaturkritik.de/id/10335 (9.1.2007).
[20] Vgl. Helmut Schanze: Fernsehserien: Ein literaturwissenschaftlicher Gegenstand? Überlegungen zu einer Theorie der medialen Möglichkeiten, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2 (1972), 6, S. 79–94. Ders.: Medienkunde für Literaturwissenschaftler. Einführung und Bibliographie. Mitarbeit: Manfred Kammer (Pragmatische Texttheorie; 4) (UTB; 302), München: Fink 1974.
[21] Helmut Schanze: Literaturgeschichte als „Mediengeschichte“?, in: Helmut Kreuzer (Hrsg.): Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft (Medium Literatur; 6), Heidelberg: Quelle und Meyer 1977, S. 131–144. Vorabdruck (teilweise): Ders.: Fontane Effi Briest. Bemerkungen zu einem Drehbuch von Rainer Werner Fassbinder, in: Friedrich Knilli, Knut Hickethier, Wolf Dieter Lützen (Hrsg.), Literatur in den Massenmedien – Demontage von Dichtung? (Reihe Hanser; 221) (Reihe Hanser Medien), München, Wien: Hanser 1976, S. 131–138.