14.1.2018 – Land der dunklen Wälder

14.1.2018

Heute war ich schon eine Stunde lang „zuhause“: in Goldap, der einzigen Stadt in Polen, von der ich weiß, dass sie heute genauso heißt, wie es in meinem Pass steht. Nur ohne Ostpr. Mit Phönix ist es möglich, dass ich einem Unterförster  so haben sie wirklich gesagt in die Rominter Heide bis an die russische Grenze folge. Masuren. Wie das schon klingt. Musik. Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen. 

Masuren

26.6.2010

In Angerburg/Wegorzewo trifft mich unvorbereitet das erste Schild: Goldap – nach rechts. Ich habe Herzklopfen.
Aber ich will ihm noch nicht folgen, erst noch zu Erwin an den Mauersee. Ich muss ihn finden. Halb zwölf ist es, überall sind festlich gekleidete Schüler mit einem Papier in Plastikfolie in der Hand unterwegs. Die jungen Männer meist in dunklem Anzug mit Krawatte, und die Mädchen mit hohen Absätzen und eleganten Kleidern eilen durch die Stadt. Jüngere Kinder sind von Müttern abgeholt worden, die Mädchen in pastellfarbenen Rüschenkleidern, eine ganze Mutter-Kind-Reihe steht an einem Kiosk mit Eis.
Erwins Adresse habe ich von dem polnischen Arzt, mit dem ich bei der Operation des Grauen Stars gesprochen habe. Erwin ist 89, er lebt in Dortmund und seit 20 Jahren jeden Sommer hier in dem Haus am Mauersee, das neben seinem Elternhaus steht. Zusammen mit einem Polen – anders geht es nicht – hat er es gekauft. Ich treffe Erwin und Ella, die Tochter des Polen, beim Mittagessen Punkt 12. Warme Erdbeersuppe (ostpreußisch) mit Nudeln drin und Flinzen. Die sind (polnisch) dick, mit Quark gefüllt und zweimal gefaltet. Ich esse mit. Freitag? Da gab es bei uns auch immer etwas Süßes oder manchmal Fisch. Erwin spricht gleich von unseren Obstsuppen, muss ich auch mal wieder machen, aber mit Mehlklößen drin.
Ich überbringe die Grüße von dem Arzt aus Augsburg, der voriges Jahr zum Segeln hier war. Mit dem habe ich über Masuren gesprochen und deshalb jetzt Erwin. Der hat an den Polen viel auszusetzen. Die Diebstähle – acht Boote sind ihm gestohlen worden – und die uninteressierte Polizei. Steuerhinterziehung nur er zahlt. Der Alkoholismus. Die verschwundenen Fische, gefressen vom Kormoran. Die durch Abwässer und Kunstdünger fast gekippten Seen. Von wegen „Weltnaturerbe!“
Deshalb die sterbenden Birken an Fluss- oder Seeufern? Davon weiß er nichts.
Und die Sprache mag er schon überhaupt nicht. Hat sie nicht gelernt. Dazu müsste man ihm die Zunge herausschneiden und neu einsetzen, sagt er.
Es ist kein gutes Gefühl, mit dem ich weggehe. Und ich glaube nicht, dass ich noch einmal wiederkomme.
Der Regen von gestern und vorgestern ist ein Nieseln geworden, dann wieder Regen.
Ich werde Angerburg Richtung Goldap verlassen.

Goldap 50 – 45 – 40 km. Jede Ankündigung ist ein kleiner Schreck. Schließlich habe ich gelernt, dass solchen Schildern in 99,9% die angekündigte Wirklichkeit folgt. Wie oft habe ich dieses Wort geschrieben in meinem Leben, und wirklicher ist es davon nie geworden. Immer habe ich mir gedacht, für wen soll das wichtig sein, wo doch keiner eine Ahnung hat, was das ist.
Goldap ist die einzige Stadt, die ihren Namen behalten hat, Erwin hat darauf hingewiesen. Nur das l hat einen kleinen Strich bekommen, der es zu einem besonderen w (oua) macht, das aber bei Goldap keiner spricht. Ich muss hier nicht zwei Namen sagen wie Elk und Lyck, Barcewo und Wartenburg, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
Und jetzt Goldap 40 km. Und dieser Nebel. Man sieht nicht weit über den Straßenrand. Goldap 26 – 21 – 8 km. Ich will nicht weiter. Was soll ich in Goldap, wenn ich nicht sehe, wie ich dahin komme?
Bei Goldap n km biege ich links in einen Feldweg ab. Nichts zu sehen als das nächste Stück Weg, der führt zu einem Bauernhof, davor kehre ich um, stelle mich oben neben den Feldweg und lege mich in mein Bett, während der Mac die Bilder von der Speicherkarte holt. Das dauert lange.
Vielleicht fürchte ich etwas. Das Zuviel oder das Garnichts. Luft holen, Kraft sammeln. Ich schlafe, lese, wechsle wieder nach vorne, dann ist der Mac fertig. Ich mache Abendbrot: Piwo – Bier, Chleb – Brot, Ser – Käse, ein Apfel. Vier junge Mädchen kommen vom Hof, dzien dobre rufen sie fröhlich. Dann ein PKW von oben, er hält, ein junger Mann Anfang zwanzig, steigt aus. Nein, bitte nicht schon wieder so was wie gestern! Dzien dobre.
Polnisch – Deutsch – Englisch? Also Englisch.
Ob ich die cemetery suche? Die alten deutschen Gräber von vor dem ersten Krieg? Davon habe ich nichts gewusst. Sie seien da vorne, gleich hinter dem Nebel. Interessant, aber jetzt nicht. Er wohne da unten, yes, it’s my farm. Ob ich mitkommen wolle? Wenn der wüsste, wie gern ich ihm dorthin folge, wie er mich gerettet hat. Jubeln könnte ich, als er mich in den Hof winkt unter ein Storchennest mit drei Jungen. Wenn das nicht so genau das ist, was ich mir von Polen – Ostpreußen gewünscht habe! Zwei bellende Hunde! Ich bleibe. Und balanciere um die tiefen Pfützen und den fetten schwarzen Morast herum, wir gehen in ein Haus, dann auf Strümpfen in die Küche. Der Vater, den ich für einen Bruder gehalten hätte, lächelt erstaunt, wie sein Sohn mich da mitbringt, lacht dann freundlich mit einer großen Zahnlücke. Eine runde kleine Frau ist die Mutter. Coffee?
Fünf Kinder haben sie, Adam ist 23, der Älteste, die Schwestern sind 22,18 und 12, der Bruder, Simon, ist 15. Judika, die älteste Tochter, studiert in Allenstein/Olsztyn.
Aus dem Küchenfenster sieht man Kühe auf den Wiesen. Wer die melke? Machina sagt der Vater und lacht sein Zahnlückenlachen. Er versucht ab und zu ein deutsches Wort. Ob ich auf dem Hof bleiben darf mit meinem Auto? My car is my house , my house is my home, my home is my castle. Gerne kann ich bleiben, Kawa trinken und die Toilette benutzen, die gerade zum Fliesen vorbereitet wird. Wer? Der Vater macht das. Dann also danke – dzienkuje und Gute Nacht.
Am nächsten Morgen gehen wir zu dem kleinen Friedhof nebenan, Adam, Tata (Papa) und ich. Wo vor 100 Jahren der letzte Deutsche begraben wurde. Die Schwalben fliegen noch immer sehr tief. Adam weist auf die drei rechtwinklig angeordneten Gebäude mit den großen, hohen Dächern hin und sagt: german buildings. Habe ich mir gedacht. Sie haben dieselben Dachziegel, die ich auf allen alten Vorkriegshäusern gesehen habe. Nur das vierte Haus in diesem Quadrat ist polnisch, da grunzen die Schweine.
Adam bietet mir das Internet an. „Nein danke“, sage ich, „keine Nachricht, gute Nachricht.“ Adam übersetzt und alle lachen? Weil die Polen das auch so sagen.

Wenn ich zwei Wochen hier bin, kann ich wohl endlich von der gemessenen auf die gefühlte Zeit umstellen. Wenn ich aufwache, ist es schon zwei oder drei Stunden hell. Die Uhr zeigt 5.40. Es schwirrt schon lange um mich herum, viel höher als gestern, der Himmel ist blau! Unter Störchen und Schwalben. Ein Storch steht an derselben Stelle wie gestern Abend. Immer noch oder wieder? Im Nest wird es lebendig. Ein zweiter Storch – die Störchin? – kommt angeflogen und stellt sich, ebenso einbeinig, daneben. Die Jungen stehen auf und recken ihre Flügel. Im Stall neben mir regt sich etwas, aber die Tür über der Hühnerleiter ist noch verriegelt. Maja, der laute Hund, springt an meiner Tür hoch. Tata kommt vom Melken mit der Maschine aus dem Stall zurück, fragt mit schräg gestelltem Kopf und einer Hand an der Wange, ob ich gut geschlafen habe. Ich kann nur begeistert nicken und – wieder einmal – den Daumen heben. Dann mache ich einen Rundgang und sehe zum ersten Mal das Land um Goldap. Hier muss mein Vater mit dem Pferdewagen auf Vollgummireifen herumgefahren sein. „Bauern anfahren“ sagte er dazu und kaufte hier und da mal ein Schwein, mal eine Kuh.
Als ich zum Haus gehe, kommt mir Tata entgegen mit dem Autoschlüssel in der Hand, holt Luft und sagt dann entschlossen: „reisen Goldap.“
Kawa – Herbata? Diese Frage stellt mir die Mutter in der Küche. Herbata? Herbata? Ich laufe, um mein Wörterbuch zu holen, da kommt schon Adam, die Mutter hat ihn gerufen, und sagt: tea! Also: Kaffee oder Tee?
Kawa. Auch die beiden jüngeren Kinder, Ella und Simon, die ich noch nicht kenne, werden geholt und setzen sich an den Tisch, schweigend wie gestern Julika. Ich rede mit Gesten und Geräuschen von Kühen, Hühnern und Schweinen, sie lachen. Warum die Hühner nicht herauskommen? Sie schauen durchs Fenster, die Mama springt auf, läuft eilig hinüber und schiebt den Riegel an der kleinen Tür zur Seite. Jetzt drängen sich die Hühner durch die Luke, hüpfen die Leiter herunter rennen in den Garten. Alle lachen. Hatte man doch die Hühner vergessen!
Adam frage ich, ob seine Eltern hier geboren sind. Yes. Und die Eltern der Eltern? Yes. „And the parents of the parents of the parents?“ Da lacht er, zuckt mit den Achseln. Also da ist Schluss.

Jetzt liegt nichts mehr zwischen Goldap und mir.
Außer vielen Baustellen. Als dann da CENTRUM steht, ist das CENTRUM auch schon da. Der Platz, der einmal der größte Markt der Region war, ist grün, bis auf die Seite mit dem Denkmal gegen den Krieg. Da komme ich her und da sind wir weg. Und da bin ich jetzt wiedergekommen.
Der Markt ist ein Park geworden mit hohen, auch schon nicht mehr jungen Bäumen und einem Teich, auf dem Enten und Schwäne schwimmen. Eine Bogenbrücke führt darüber.
Ich lasse mein Auto auf dem ersten freien Platz stehen und sehe dann auf einem Schild, dass dies das Haus der Heimat ist. Landsmannschaft – ach Gott, die gab es ja auch. Und mein Vater hat für sie in Bayern die Königsberger Fleck gekocht, jedes Jahr ein paarmal.
In Goldap angekommen. Am Ziel. Am Anfang.
Jetzt fange ich an, hier herumzulaufen. Wo war die 46, unsere Hausnummer am Markt? Ich schließe die beiden leicht ansteigenden, bzw. abfallenden Seiten aus, weil man auf den Fotos keine Schrägen sieht. Aber dann bleiben noch immer zwei Seiten. An der vermuteten Stelle ist ein Bancomat, sechs Personen stehen in einer Reihe davor, die siebente stellt sich hinten an. Ein ungewohnter Anblick: diese ordentliche Schlange vor der Geldmaschine. Die bietet 50 – 52000 Zloty in 50-er Schritten an. Ein Euro sind ungefähr 4 Zloty.
Als ich hinter den Häusern herumgehe, in die Höfe schaue, denke ich: Hier könnte es sein, wo mein Vater mit mir Sand gelöffelt hat im Sommer 44, als er mit seinem Betrieb für die Ernährung des Volkes zu sorgen hatte.
Wo er so stolz und liebevoll gelächelt hat, als ich ihn fest entschlossen um den Hals fasste. Ja, vielleicht. Jetzt überall Grafitti.
Am Bahnhof komme ich zufällig vorbei, wie ich immer finde, wenn ich nicht suche. Er wird für ein Einkaufszentrum renoviert. Hier also sind wir weg. Drei Gleispaare sind noch zu erkennen, fast überwachsen. Da geht kein Zug mehr. Man hat das Schild, das davor warnt, vergessen abzunehmen. Hier war ein Leben zu Ende. Heimat vorbei.
Mutti wollte eine zweite gewinnen, Pappi nicht.

Der Goldaper See. Sanatorien. Viele Spaziergänger haben einen mehr oder weniger unregelmäßigen Gang. Baustellen, Straßenlampenketten. Ein gepflegter, fast leerer Campingplatz, dem Luftkurort Goldap angemessen. Die beste Luft Europas habe es da.
Das Ufer am See verschilft oder besetzt, kultiviert. Keine einsamen Stege. Biberspuren an den Bäumen. Ich muss im Badeanzug schwimmen. Das Wasser ist sehr kalt geworden.
An diesem Abend will ich nicht allein sein, mich in einem Restaurant willkommen heißen. Das als „angenehm und schön“ empfohlene nimmt mich um 18 Uhr nicht mehr. Also wieder in die Stadt. Ich streune herum, finde nichts Rechtes, und schon gar nichts, wo jemand draußen sitzt, also in den Supermarkt. Biedronka. Da bin ich nicht allein. Was mir in die Hand fällt, ist Blutwurst mit Graupen. Wenn das nicht der halbe Weg zur Grützwurst ist, wie sie so oder so ähnlich mein Vater immer für die Ostpreußen gemacht hat. Dazu Sauerkrautsalat. Vor dem Biedronka sitzt ein junger Mann lesend neben Stapeln von Körben voller Erdbeeren. Das Kilo für 4 Zloty. Das ist also der Nachtisch. Darüber freue ich mich.
Aber sonst – nicht froh, nicht traurig, melancholisch vielleicht. Ein bisschen ratlos. Wohin treibt es mich jetzt? Hinaus. Die Karten zeigen im Süden 272 m. Das muss der Goldaper Berg sein. Ist es auch. Viel junges Volk unterwegs, es ist Samstag. Ich biege rechts ab, da habe ich eine kleine Straße und Seen gesehen. Ein besonders schöner von oben vor untergehender Sonne. Das schönste Abendbild bisher. Und ich mag keinen Finger rühren für ein Bild. Lasse die Sonne untergehen und schaue ihr nur dabei zu. Ein Auto hält hinter mir, ein Bauch wie ein Ballon schiebt sich vor meine Schlafzimmertüre. Starker Seifengeruch. Dzien dobre?! Polska? Kopfschütteln. Achselzucken. Nachdenken, dann entschlossen, kurz und hart: Husband? Ich mache eine Geste nach links vorne. Der Mann nickt, dreht sich um und verschwindet. Das Auto fährt weiter.
Ohne Zähneputzen ins Bett. Was eine extreme Ausnahme ist und nur bei Krankheit oder Alkoholmissbrauch gestattet. Beides trifft nicht zu. Nur dass mein Vater keine Zahnbürste hatte, „wer putzt dem Has?!“ bekam man zu hören, wenn man sich darüber wunderte.
Der Has: Ganz schön groß war der gestern auf dem Weg vom Goldaper See.

Goldap 28.6.2010

Ich freue mich auf das Zurückkehren in die Stadt.
Ich habe das Land, das er angefahren hat, vom Goldaper Berg übersehen.

Am Sonntagnachmittag wird in dem Park, der einmal der Marktplatz war, Musik gemacht, Tänze werden vorgeführt. Familien gehen, stehen, sitzen herum, die Kinder hübsch angezogen, besonders die Mädchen.
Ich schaue mir Zweijährige an. Die sitzen nicht da und warten, dass etwas kommt oder vorbei ist, denen muss man ständig hinterher sein. Auch wenn Flucht angesagt ist und nur noch ein paar Stunden bleiben, um das zu packen, was man für wichtig hält. „Oskar, nimm das Kind, ich kümmere mich um die Sachen“ – so oder so ähnlich die Mutter, sie legte Besteck und Kristall in eine Kiste und schrieb darauf und auf den Rücken jedes einzelnen Schlafzimmermöbels, Schrank, Bett, Frisierkommode und zwei Nachtkästchen:

     Absender: O. Tarnowski, Goldap/Ostpr.
     An: Erika Tarnowski bei Fam. Herrn Boltwald, Burkersdorf, Brautgasse 39
      – Bahnstation Ortrand – Provinz Sachsen.

Dort kamen wir an, die Mutter und ihre Schwestern, meine Tanten, auch der Vater, der mal wieder krank gewesen sein muss, zeitl. untaugl., und nur zur Bewachung des Güterwagens zu gebrauchen.
Am 10. Oktober 44 muss man noch in Goldap gewesen sein, am 20. fuhr der letzte Lazarettzug, am 21. war „der Russe“ da.
Aber Goldap wird noch einmal zurückerobert und Vaters Krankheit bewahrt ihn nicht davor, das Ostland gegen den Russen verteidigen zu müssen, bis ihn Gumbinnen im Dezember entlässt.

Gestern vor zwei Wochen bin ich aufgebrochen, morgen in zwei Wochen möchte ich wieder zuhause sein.
Aber ich bin ja zuhause. Der ostpreußischen Sommer hat vorgestern in Goldap angefangen.
Heute fehlt mir der Faden für ganze Sätze. Unentschieden, ob es noch ein bisschen hinaufgeht oder schon der Abstieg sichtbar ist. Und die Wehmut, die dann auch gefühlt werden will.
Ein Geruch hat mich sehr erschreckt: Ein Feuer am Rand der Straße nach Jablonski roch afrikanisch. Es war keine wärmende Erinnerung, nein, ein Schreck, ein Stich, ein Schlag. Unangenehm, verstörend.

In die Rominter Heide mit dem Fahrrad. Lasse mein Auto auf einem guten, sicheren Parkplatz am Goldaper See, wo er „malerisch“ ist, glitzernd unter der Sonne von Osten, Russland. Ich hole mein Rad aus dem Auto, dem Vorderrad fehlt die wichtigste Schraube und ist im Auto nicht zu finden. Bei aller Hilfsbereitschaft eines Hausmeisters: Die beiden Schrauben, die er hat, sind zu groß, auch die an den anderen Rädern, die man leihen kann. Das tue ich dann und steige auf ein vollkommen komfortfreies Rad. Ich fahre nicht weit, aber weit genug, um mich nicht mehr zurechtzufinden. Das Allein-durch-die-Rominter-Heide wird nichts. Vielleicht mit Kompass? Schraube und Kompass. Für meine Schraube muss ich nach Goldap.

Heute: Schwimmen im Goldaper See. Eine junge Familie, das Kind ist vielleicht anderthalb. Wieder Sommer 44. Vielleicht bin ich da auch so herumgelaufen und die Mammi mir hinterher oder der Pappi.

29.6.2010

Goldap
Passend dazu werde ich heute das Heimatmuseum zu Ende lesen, bis dieses zu Asche wird. Sollte ich vielleicht in der Leere, die es zurücklässt, Krimis lesen, möglichst einen aus Australien?
Ich bin auf dem Weg in die Rominter Heide und zur russischen Grenze. In Lipowo will ich den Schmerz nicht mehr und biege ab. Ein zauberhafter See liegt gleich neben der Straße, ich bremse und wende, sodass meine Schlafzimmertür zum See hin offenbleiben kann, und gehe ins Bett.
Da muss ich eingedöst sein. Nicht ungestört, rundherum bringen die Bauern das Heu ein, das in den drei warmen, windigen Tagen doch noch trocken geworden ist. Quaderweise wird es hochgeladen, oben sitzt oft ein Junge, der Bescheid gibt, wie die Ladung unter den Alleebäumen durchkommt. Das sieht knapp aus. Überhaupt sind jetzt überall Kinder, haben die Ferien angefangen? Es ist warm. Viele Männer laufen nackt bis zum Gürtel herum. Frauen und Mädchen in knappen Shorts und Tops oder in schulterfreien Kleidern. Sommer in Polen. Und die Störche klappern.
Ausgedöst und Kaffee trinkend fange ich an zu verstehen: Mit der Hälfte beginnt die Zeit, die mich von hier wieder wegführt. Habe ich geglaubt, da würde es genauso weitergehen: neugierig auf Neues, das Altes ist und immer mehr davon wollen? Blind für das Ende und taub im Gefühl? Wie könnte ich nicht traurig sein, wenn ich das alles, was ich entdeckt und gefunden habe in seiner tiefen Verbundenheit mit meinem Leben, meinem In-der-Welt-Sein, zurücklassen, wieder verlassen muss. So gehört der Abschied mit Wehmut auch dazu. Schnell wegfahren wäre ja wie nochmal flüchten.
Wie der Vater. Heute der Stempel von Gumbinnen und morgen der von Hoyerswerda im Dezember 1944. Immer im Wehrpass gestempelt, weil sonst „fahnenflüchtig“. Dafür wurden die Männer noch immer an die Bäume gehängt.
Und dann war Heimat zu heiß oder zu kalt oder zu kalt weil zu heiß.

Aber ich will nicht flüchten, will dankbar Abschied nehmen. Und schon schleicht sich eine leise Hoffnung ein: Vielleicht kann ich ja an dem Ort, an dem ich jetzt lebe, wo ich den Boden unter meinen Füßen in diesem Jahr verdopple, eher Heimatgefühle spüren, wenn ich sie dort, wo sie hergekommen sind und hingehören, gefunden habe. So wie Vertrauen auch nur möglich ist, wenn man es erlebt hat.
Mutti wollte ja – trotz aller Beschimpfungen als „Hure-Flichtling!“- immer eine „zweite Heimat“ haben. Sie war aus einem Dorf gekommen, das Minchenwalde hieß und heute im russischen Teil von Ostpreußen liegt.
Ich fahre weiter an die grüne Grenze, will dort ein Stück laufen, wie es der Reiseführer empfiehlt. Ich mache ein paar Bilder von der überwachsenen Straße mit dem rot-weißen Betonpfahl quer vor einem weiß gestrichenen Tor, das zu einer Einfahrt eines Gutshofs passen würde. Da ist Schluss mit Polen. Gut.
Ich will gerade umkehren, da kommt ein Soldat den Hang heruntergelaufen, dzien dobre – dzien dobre! Eine blonde Soldatin ist hinter ihm.
Dokumente! Wo ich wohne? Alles auf Englisch. Wegorzewo – Angerburg. Vielleicht brauche ich jetzt doch noch den Erwin. Sie verstehen mich nicht. Wo mein Auto ist? Autopapiere?
Er buchstabiert meinen Vornamen mehrmals mit den Anfangsbuchstaben weiblicher polnischer Vornamen in sein Handy. Die Kollegin sagt immer wieder zu ihm prosche, prosche!! Er macht weiter. Keine Fotos! Ich kann sie löschen, kein Problem. Nein, nein! Ich könnte wohl Beweismaterial vernichten? Ich soll warten. Es dauert. Er telefoniert wieder. Nochmal die Vornamen. Ich mache ihn auf meinen Nachnamen aufmerksam. Der ist polnisch? Ja, irgendwie. Geb. 26.1.1943 in Goldap? Ja und Weihnachten 44 weg. Jetzt zum ersten Mal hier. Wieder telefonieren. Warten. Er erzählt etwas von geschmuggelten Zigaretten aus Russland. Ich soll warten, bis der Boss kommt. Telefonieren. Wann werde ich mich ärgern? Über ihn, über mich?
Endlich: Ich soll die Bilder löschen. Er schaut zu, wie ich das tue, als die Störche auf dem Display erscheinen, sagt er hastig: nein, nein! Gut. Also do widzienia.
Ich gehe. Winke vom Ende der Straße zurück. Dann kommt mir ein kleiner, gelber Skoda entgegen, ein Uniformierter sitzt darin. Ich interessiere ihn nicht. Er fährt zügig auf den Betonschlagbaum zu. Könnte es sein, dass der Soldat überreagiert hat? Keinen guten Eindruck gemacht hat an der EU-Außengrenze?

Ich hole mir ein Piwo beim nächsten Sklep, trinke es aber erst, als ich dort angekommen bin, wo ich schlafen will. Es soll eine Nacht in der Rominter Heide werden, nahe bei den Elchen.
Und was für eine Nacht! Gut, die Tiere, die ich erhoffte, habe ich mir größer vorgestellt. Ich warte auf meine Elche in der Dämmerung. Aber statt des Elchs kommen Mücken, Spinnen, Käfer und bevölkern mein Auto und mich. Aber die Vögel am Morgen! Um drei Uhr höre ich Stimmen, wie ich sie noch nie gehört habe. Oh Gott! Ich bin so tief in der Rominter Heide versunken. Später wage ich von einem Parkplatz einen Rundgang. Nehme mir vor, keiner Verzweigung zu folgen, die nicht ganz eindeutig ist. Habe ich mich doch bisher immer nur verlaufen. So komme ich an einen Zaubersee in einem Zauberwald. Ohne Elch und Hirsch, aber mit vielen, vielen Fröschen. Dieser Lärm! Hier muss ich umkehren, aber ich habe mich nicht verirrt.
Beim Frühstücken denke ich, dass ich entscheiden sollte: vertiefen oder vermehren. Wiederholungen oder noch mehr neue Eindrücke.
Es ist ja schon entschieden. Ich werde heute Abend bei Adams Hof anklopfen. Wie groß die jungen Störche inzwischen wohl sind? Und morgen die Maschkos wieder sehen, die ich in Goldap angesprochen habe. Dann über Steinort – Lehndorff zu Lucie und ein Wiederkommen versuchen. Dann weiter an die Ostsee. Ans Frische Haff. Elbing der letzte Ort, bevor es geradeaus heim geht.
Und dieses wunderbare Land fällt mir nun noch tiefer in die Seele.

Störche haben ein Nest auf dem einzigen Kamin eines neu gebauten Hauses gebaut, dessen Dach noch nicht gedeckt ist. Die werden nächstes Jahr ein neues Nest bauen müssen. Pause am See. Ich kann nichts mehr aufnehmen. Schwimmen. Schlafen.
Ich komme aus der Rominter Heide nach Goldap zurück, als würde ich dort wohnen, muss zur Bank, zum Einkaufen, und die Schraube für’s Fahrrad suchen. Scruba, soll ich sagen. Nach dreimal fragen lande ich bei Majster und bekomme die Schraube geschenkt. Überhaupt gibt es alles bei Majster. Alles.

30.6.2010

Vier leere Fischerboote liegen an meiner Badestelle vor Treuburg/Olecko. Eines ist vollgelaufen, die anderen sind trocken. Jetzt sitze ich in einem grünen. Nach der unruhigsten Nacht bei Adams Familie. Diese Hunde. Drei wilde Stimmen waren im Hof, Maja, Stiku und der angebundene Schäferhund. Sie bellen, so laut sie können, immer wieder und stundenlang. Bis ich denke: endlich Ruhe. Dann geht es wieder mal los. Wie lange können Hunde so bellen? Ich denke an wegfahren. Was soll ich auf einen Zettel schreiben? Oder komme ich noch einmal zurück? Ich entschließe mich zum Wegfahren. Als ich neben dem Auto stehe, ist es still. Und bleibt es.

Wenn wir miteinander lachen können, auch wenn wir keine Sprache gemeinsam haben, dann ist es gut. Dann darf ich wiederkommen.
Wie gestern Abend. Ein blauer, klarer Sommerabend, der später rot wird, als Adam und ich dem Vater zuschauen, der da drüben mit dem Traktor mähend über die Wiesen fährt, manchmal ist er so weit weg, dass man ihn nicht mehr hört, dann taucht er vor einem Hügel auf, sodass ich fürchte, er könnte jeden Augenblick umkippen. Er fährt lange, um neun Uhr kommt er zum Hof. Wir versuchen ein paar Sätze miteinander. Immerhin verstehe ich, dass er in Deutschland gearbeitet hat. Ernten auf dem Feld, Salat, Rettiche. Der Rücken tat weh. Vor fünf Jahren sei das gewesen. Jetzt mache der Vater das nicht mehr, sagt Adam. Die Arbeit auf dem Hof. Er hat das Bad gefliest und mit der Toilette angefangen, da ist der Putz schon abgeschlagen.
Nach der Zeitenwende. Die sah gestern wie eine Sackgasse aus. Die Gasfußhüfte tat so weh, dass ich weder sitzen noch fahren wollte. Soll ich schnell heimfahren, ganz schnell, übermorgen könnte ich dort sein? Wenn ich es aushalte, solange auf dem Gaspedal zu stehen. Hab genug gesehen, will nichts mehr sehen, schon gar nicht, wenn es so weh tut.