8.2.2018 – Winter in Masuren

8.2.2018

Das ist wieder mein Land: Schnee!!! 
Schnee, wie ich ihn mir wünsche, zauberhaft, traumhaft, wunderbar.
Schnee kann wirklich so schön sein, wie ich ihn mir vorgestellt habe, als er nicht kam. War keine Einbildung.
Ich möchte aus allen Fenstern gleichzeitig schauen. Der Wald und nochmal der Wald, der Garten, die Felder. Sie sind keine schwarzen Sturzäcker mehr, sie sind weißes, weiches, weites Land.
Gestern Nachmittag hat es angefangen und nicht mehr aufgehört. Feine kleine Flocken legten sich auf den gefrorenen Boden und sind geblieben. Als es anfing zu dämmern, bin ich mit dem Hund das Feld hinaufgelaufen, vielleicht ist der Schnee ja morgen wieder weg? Das Weiße hielt das Dunkelwerden ein wenig auf. Es hat weitergeschneit, vor dem Schlafengehen war ich noch einmal draußen. Schlafen konnte ich dann aber nicht, lesen auch nicht. „Diese Gedanken, diese Gedanken“ hat der Vater immer wieder gesagt. Wenn ich fragte: welche Gedanken? – hat er nichts gesagt. Warum eigentlich nicht.
Ich habe nicht länger denken wollen und bin wieder aufgestanden, habe meinen alten Pelzmantel genommen und bin losgegangen, den gleichen Weg wie am Nachmittag. Jetzt lag da schon eine dicke Schneedecke. Als ich zurückkomme, schlägt die Kirchturmuhr zwölfmal.
Am Morgen dann das Bild, das ich mir erträumt habe.
Ich versorge die Vögel und überlege, ob ich Langlaufskier oder Schneeschuhe nehme. Es werden die Schneeschuhe. Mag heute nicht fallen. Und wir gehen wieder los. Den ganzen weiten Weg, wo ich immer auf Wald zulaufen kann. Es tut so gut, so viel Wald zu sehen rundherum.
Der Hund macht mal wieder sein Spiel mit mir. Er bleibt lange so weit zurück, dass ich den schwarzen Punkt nur noch sehen kann, weil ich weiß, wo er stehengeblieben ist. Wenn ich schon fürchte, dass er lieber umkehrt, fängt der kleine Punkt an, sich zu bewegen, wird größer und immer schneller größer, je näher er kommt. Springt an mir hoch und überkugelt sich. Jedes Mal wieder ist es eine Freude wie beim ersten Mal.
Ich habe die falschen Handschuhe genommen, die Hände schmerzen vor Kälte, und der Schmerz ist noch viel größer, als sie wieder warm werden wollen.

Der Schnee treibt alle meine Vögel zum Futter, sogar der Spatz hängt am Meisenknödel. Darunter holt die Amsel aus dem Schnee, was beim Picken herunterfällt.

Der Weg zu mir ist nicht mehr zu erkennen. Ich werde der Spur in mir folgen müssen, wenn ich heute noch in die Stadt muss. Mein Mäuseauto schafft das. Ja – es ist wieder ein Mäuseauto. Sie gehen nicht mehr in die Falle, sind eifrig beim Nestbauen. Der uralte Mantel, vor Jahrzehnten von meiner Tochter geerbt, von dem ich mich endlich trennen musste, obwohl er die Farbe hatte, die ein Hund am besten erkennt, liegt dafür bereit. Und ist angenommen worden, das zeigen die Löcher.

 

Polen 2011

Winter in Masuren  

 

10.2.2011

Na wolltst Schnee, nu hast Schnee. Hat jestiemt.
So Lucie am Telefon gestern Abend, als ich ihr zum Geburtstag gratulierte.
Und: „Kannst bei mir wohnen.“
Juhuuu! Sofort habe ich einen Zug herausgesucht und die Karte nach Alleinstein und zurück gekauft. Am nächsten Tag bin ich unterwegs. 

 

© H. Tarnowski

15.2.2011

Wartenburg

In Allenstein/Olsztyn frage ich zwei Frauen an einer Bushaltestelle: Prozse – Barcewo? Ich muss es mehrmals wiederholen, bis ich verstanden werde. Dann wird mir ein Ort gewiesen. Auch der Busfahrer fragt nach.
Mir kam das Ankommen so vertraut vor – aber warum versteht mich hier denn keiner?!
Die große Kirche heißt Annakirche und das Franziskanerkloster Sankt Andreas. Das weiß ich noch. Daneben wohnt Lucie. Sie ist zuhause, hat mich erwartet und erzählt mir gleich, dass sie ihren Schal verbummelt hat.

Ich höre ihr wieder so gerne zu: Wer’n wer noch schabbern!
Das tun wir lange. Dann brauche ich zum ersten Mal das polnische Wort für Gute Nacht. Sie sagt es mir vor: dobry noczi, oder: dobra nocz!
Stimmt – das habe ich noch nie gebraucht. Da war niemand, wenn ich in mein Auto schlafen ging.
Ich habe für Lucie Bücher über den Untergang der Bismarck mitgebracht. Sie hatte mich darum gebeten. Nun erzählt sie mir noch einmal, wie es war, als ihr ältester Bruder, der Anton, damals 19-jährig damit unterging.
Wie ihr Vater in der Nacht aufgestanden war, weil er von Blut geträumt hatte.
Anton hatte gerufen: Papa, Papa, viel Blut, soviel Blut!
Der Vater kam, nach der Mutter zu sehen, die am Tag zuvor ein Kind bekommen hatte: Ist alles in Ordnung? – Ja – warum?

Ich war doch damals man so miserabel, so kleinchen, so feinchen.
Soll mir noch einmal einer sagen, dass diese Sprache kein Streicheln wäre.
Aber auf dem Baum war ich immer zuerst.
Beim Pflaumenklauen is der Nachbar jekommen, die Brieder sind wegjelaufen.
Wenn der das dem Vater erzählt, dann gibt’s Schmiere.

Aufjedingst, abjedingst, raufjedingst, runterjedingst.
Berennen, bekucken, besehen, betun und bemachen.
Der Kret!

Wenn Geschäftsleute in die Stadt kamen und ein Zimmer suchten, fragten sie: Na Frauchen – Hotelchen?  Es war nur eine Unterkunft gemeint.

17.2.2011

Die Schule ist die Schule, die sie war. Also die von meinem Vater.
Wartenburg blieb ohne Bomben. Eine einzige, ganz kleine, hat eine Delle im Pflaster hinterlassen, die man noch sieht.
Wenn Häuser brannten, hatten sie die Russen angezündet, indem sie Papiere, die sie vernichten wollten, im Zimmer verbrannt haben. So ergriff das Feuer Boden und Balken und das ganze Haus.
Lucie sprach auch Russisch und hat gefragt, warum sie das machen. Na – die Polen sollten nichts abkriegen. Da wusste man schon, dass die Polen nach den Russen kommen würden. Mit Allenstein haben sie es genauso gemacht.
Jeder habe etwas mit den Russen erlebt.
Lucie sollte erschossen werden, sie stand schon an der Wand und die Russen hatten die Gewehre auf sie gerichtet, als sie gerufen wurden, um schnell weiterzufahren, weil sie zu spät waren.

18.2.2011

Lucie ist 1927 geboren. Sie erzählt so gern von der guten Zeit mit dem Vater. 

Danach kamen die Krankheiten, ihr ging es oft koddrich: Typhus, doppelseitige Angina, Malaria. Die kommt jedes Jahr wieder, seitdem hat Lucie Herzprobleme wegen des vielen Chinins. Kein Verständnis der Mutter, keine Hilfe, immer nur: Wann kommst du wieder arbeiten?! Melken mit offenen Händen, in den Eimer läuft mit der Milch ihr Blut. Die Wiese mähen und das Getreide allein binden, weil Mutter und Schwester keine Lust haben. 

Am Ende, als die Mutter aus dem Krankenhaus geholt wurde, wollte sie zu ihr, nicht zu ihrer Schwester: „Ich will zu dir!“ – hat sie gesagt, und Lucie: „Na, denn komm.“

1950 heiratet sie den Polen, der 1985 stirbt. Es war ein guter Mann, aber viel erzählt sie nicht von ihm. In Gefängnissen hat er gearbeitet, in Barcewo als Direktor. Lucie konnte nach den vielen Medikamenten keine Kinder mehr bekommen. Als sie ein Kind adoptieren wollten, hat der Mann nicht mitgehen wollen, um es zu holen. Dabei wollte er Kinder. Aber allein wollte Lucie nicht entscheiden. 

Sehr stolz erzählt Lucie von ihrem Besuch bei dem polnischen Papst. Neben vielen Bildern gibt’s auch davon ein gerahmtes Foto und eine Urkunde an der Wand.

19.2.2011

Eine Frau hat Lucie besucht und ihr erzählt, dass die Handwerker, die beim Hausbau zu tun hatten, die ganzen Konservenvorräte aufgegessen haben. Man hatte es erst bemerkt, als sie fertig und schon weg waren. Sie schüttelt den Kopf: diese Polen. Dass Polen klauen müssen, das weiß man, sagt sie. Aufpassen muss man immer, hat schon der Vater gesagt, die können nicht gehen, ohne was mitzunehmen.
Vor ein paar Jahren haben sie das warme Wasser aus der Heizung genommen.
War dein Mann auch so?
Lucie schüttelt den Kopf. „Meiner war nicht von hier, er war aus Galizien herversetzt worden.“ Sie sagt nie „mein Mann“, sondern immer nur meiner.

Ich mache mich heute auf den Weg nach Goldap. Wo es noch kälter ist und mehr geschneit hat, schneit und schneien wird. So Pogode - das Wetter. Dort nehme ich ein Zimmer: Pokuij.

Von Barcewo nach Goldap

 

© H. Tarnowski

In Barcewo ist der Schnee, durch den ich meinen Koffer ziehe, dünn. Die Räder rollen noch. An der Bushaltestelle stehe ich nicht lange. Beim Einsteigen ein freundlich-warmer Wortschwall einer dick eingemummelten Mama, aus dem ich keinen einzigen Krümel verstehend herausfischen kann. Sie redet weiter, immer mehr und mehr, vielleicht geht es um den Preis bis Olsztyn – was weiß ich.

Ich ärgere mich. Bin mir böse. Warum fällt es mir so schwer, die Sprache zu lernen? Wenn ich es mir entschlossen vorgenommen habe, dauert es nicht lange, bis mich mein nächster Fehler entmutigt, ich sage Guten Tag, als ich danke sagen will. Wenn ich nicht einmal das schaffe?!

Mit der Bahn von Olsztyn nach Korcze – Kretzyn? Wo mich der Schaffner kopfschüttelnd in den Zug zurückgeschickt hat, weil das mit Dobrocze – Dönhoffstätt keine gute Idee war? Also Rastenburg, um nach Angerburg weiterzukommen. Es schneit. Der Bus fährt durch viele Alleen, immer näher an den Mauersee. Ein Rehrudel im Schnee. Wo der Schnee ganz und gar glatt ist, muss Wasser darunter sein. So sehen die Seen also im Winter aus. Und Angerburg. Was will ich da? Essen? Wo es so gut war? An der Haltestelle verstehe ich die Ankündigung so, dass in 20 Minuten von hier der letzte Bus des Tages nach Goldap fährt. Also nehme ich ihn doch. Was soll ich hier. Goldap. Als gäbe es nichts anderes. Goldap 26 – 21 – 8 km. Es gibt ja tatsächlich nichts weiter an dieser Straße in Polen. Goldap.
In Goldap schleife ich meinen Koffer durch tiefen Schnee, vom Bahnhof an der ehemaligen Garnison vorbei bis zum Markt. Angekommen.

20.2.2011    

Goldap

Ich sehe die Spuren meiner nackten Füße im Schnee, als wäre es Sand.

Ein Zimmer in dem Hotel auf dem Platz, der der Markt war. Mit Blick nach Osten. Hinter mir müsste die Nummer 46 gewesen sein. Hier ist nun schon die zweite Frau, die mich anstrahlt, als sie meinen Namen liest und in ihr Anmeldeformular schreibt. Hat sie weiter gelesen bis: geb. Goldap/Ostpr. ? Ich glaube nicht. Ist nicht wichtig, um mich aufzugreifen, wenn ich mich ohne zu bezahlen davonmachen sollte.
Da bin ich wieder. Und neugierig, was mit mir hier geschieht.
Spektakulär ist es nicht. Die ersten Blicke lassen sich nicht wiederholen, nicht am Bahnhof, nicht auf dem Platz, wo nur noch Ketten zeigen, dass hier ein Denkmal stand. Der Soldat ist nicht mehr da. Ob er im Sommer wiederkommt? Ich werde es wahrscheinlich nicht erfahren. 

Zehn Jahre müssen meine Eltern hier gelebt haben. Am Markt. In Augsburg haben sie sich später wieder ein Geschäft auf dem Markt gesucht, das wurden dann zwei in der Markthalle.
Und ich? Sehe die Kinder Schlitten fahren, für die Kleinen sind die jungen Hügelchen gerade groß genug.
Den Kopf eingewickelt, die Kapuze darüber gezogen und ein Schal um den Hals – so ist es gut. Anpummeln muss sich jeder. „Man geht bei solchem Wetter nicht mit nacktem Kopf!“ hat Mutti immer gesagt, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Kopf nackt war. 

Ich nehme diesen Boden gern unter die Füße und pflüge durch den staubtrockenen Schnee, bis sie eiskalt sind. Die kleinen Kinder werden nur auf Schlitten bewegt. Ich habe noch keinen Kinderwagen gesehen. Und keiner geht mit nacktem Kopf.
Dann habe ich den Bahnhof umkreist, erst fern, dann näher, eingekreist sozusagen. Das verlorene Bild vom Sommer kann ich nicht wieder bekommen, ein Vorbau ist leuchtend gelb gestrichen, so war das im Sommer noch nicht. Wie es im Sommer war, wird es nie wieder werden.
In der Abenddämmerung fallen die Krähen ein auf dem Markt. Ihr Schreien und Kreischen zwingt den Blick nach oben, wo Hunderte eine schwarze Straße über den Himmel ziehen. So viele schnelle kleine Bewegungen in einem großen, breiten Zug von Westen nach Osten.

Am Sonntag fahre ich nach Jablonski und steige auf den Goldaper Berg. Da wird Ski gefahren. Den Winter fühlen. Der ist wirklich anders hier oben im Nord-Osten von Polen. So klar, so trocken, auch mitten in der Stadt knirscht der Schnee. Und immer wieder das Geräusch von durchdrehenden Autoreifen.
Zum Essen wähle ich den Süßwasserfisch, weil ich mir vorstelle, dass er aus einem See in der Umgebung kommt. Aber ich frage lieber nicht.

Warum riecht polnischer Rauch wie afrikanischer? Es ist ein Geruch, der mir fremd ist. Zuhause kenne ich ihn nicht.

21.2.2011

Heute müsste der 21.te sein. Ich habe nicht schreiben wollen. Auch nicht erzählen? 

Nun bin ich bei meinem letzten Weg durch Goldap zum Bus nach Treuburg ausgerutscht und aufs Handgelenk gefallen. Gegenüber dem Garnisonsgebäude. Ein Schritt zu schnell, um das Auto, das abbiegen will, nicht warten zu lassen, ich rutsche aus, wo Schnee auf Eis liegt. Was mache ich jetzt?
Jetzt sitze ich erst mal im Wartehäuschen, das offen ist zum Schnee und zur Sonne hin, wie ich es wollte, um die erste Hälfte festzuhalten, bevor die zweite beginnt. Was will ich denn festhalten?
Mit dem Bus habe ich mich wohl vertan. War zu sehr angeschlagen, um zur rechten Zeit die richtige Frage zu stellen. Jetzt sitze ich da und bleibe, bis mich ein Bus nach Olecko fährt. Außer mir wartet niemand mehr.

23.2.2011                

 bei Treuburg

 

© H. Tarnowski

 

Bei den Waschkos. Auf dem Land, dem weiten Land! Und an einem See, wo Angler Löcher ins Eis bohren und die Angelschnur hineinwerfen, an der sie von Zeit zu Zeit ruckartig ziehen. Wenn das ein paar Mal ohne Erfolg bleibt, zieht der Angler weiter, 20, 30 Meter, und bohrt ein neues Loch. Das macht er jetzt schon zum dritten Mal, aber dass ich nicht denke, er habe nichts gefangen: Er kommt mit einer Plastiktüte zu mir herüber und lässt mich hineinschauen: Drei flache, breite, 20 – 30 cm lange Fische zappeln darin. Er lacht, strahlt, dass zwei goldene Backenzähne blitzen, nickt und geht zu seinem Loch zurück. 

Keilchen. Keilchen? So hießen doch die kleinen Kartoffelklöße, die spitz geformt mit gebratenem Speck und Zwiebeln in der Pfanne gewälzt wurden? Gestern haben die Klöße hier genauso geschmeckt. Ich konnte gar nicht aufhören, musste die Spur verschlingen, die mindestens 50 Jahre verschwunden war. Gut?
So wie der Winter. Wie er riecht in der Eiseskälte, morgens 23, mittags 15 Grad in der Sonne. So unanzweifelbar. Er ist einfach da.
Bei Waschkos trinken wir Bärenfang.

25.2.2011

24 Grad am Morgen. Kein Zug nach Nikolaiken. Kein Bus nach Allenstein am selben Tag. Überhaupt fährt dieser Bus nur dreimal in der Woche. So weiß ich das jetzt auch.
Der feine Reif fängt an zu fliegen. Oder fliegt der Schnee? Dass es hier so viele Dompfaffen gibt!
Heute verlasse ich den Dobski-See. Es war mein erster Wintersee.

26.2.2011

Barcewo

Ich bin wieder in Wartenburg. Drehe meine Runden über die Friedhöfe und über den kleinen zugefrorenen See neben dem Gefängnis. Da leben bestimmt 300 Enten. Die Luft ist voll von ihrem Geschnatter. Natürlich verstehe ich davon nichts.
Ich will mich nur noch von Lucie verabschieden.
Raderkuchen gab es, Schwarzsauer ist ausgefallen. Das Blut dafür stand schon im Kühlschrank.
Wir werden wieder telefonieren. 

 

© H. Tarnowski