12.-20.5.2018 – Erleuchtung oder auch nicht

12.5.2018

Ein Tag ging an den Hund. Schon wieder, aber ganz anders.

Gerade bin ich beim Vatertagskaffee mit Hilfe meiner Hundefreunde zu der Einsicht gekommen, dass mein Hund mit seinem Gebiss – ihm fehlen vorne sieben Zähne! – keinen Hasen, auch keinen jungen, „aufbrechen“ – so sagen sie – kann. Warum bin ich da nicht selber drauf gekommen? Mich entschuldigend kraule ich Yalla am Hals, als der Jack Russel – der Hund der Hundefreunde – sich auf Yalla stürzt und in ihr verbeißt. Ich will Yalla wegziehen und werde selbst gebissen. Yalla wehrt sich nach Kräften – minus sieben! – , bis der Jack mit Schlägen weggerissen wird. Yalla flüchtet sich neben meine Beine, sitzt da, blutet, hält eine Pfote hoch und – weint! Aber wie! Sie war so gerne hingelaufen, hatte mich auch, als ich mit dem Rad schnell gefahren bin, weit überholt, um endlich mal wieder dorthin zu kommen. Das wird jetzt wohl für eine Weile das letzte Mal gewesen sein.
Mein armer Hund. Na ja und?!

Gestern wollte ich überhaupt nichts tun. Nur durch den Wald gehen und dann lesen, schlafen, lesen. Abends noch schwimmen, Blumen gießen, damit der Tag wenigstens einen kleinen Sinn hat. Was war so schlimm?
Jetzt weiß ich es: dass ich Yalla nicht schützen konnte. Wie meine Katzen, wie mein Kind. Wieder einmal habe ich ein Wesen nicht schützen können, das ich liebe und das mir anvertraut ist.
Ich werde wieder ruhig, trenne das Neue vom Alten, verstehe mich besser.
Und hier bin ich.
Machen wir weiter. Wo waren wir stehengeblieben?
Beim Vater und beim Bürgermeister, der ab heute für mich der Schildbürgermeister ist.

13.5.2018

Was ist heute nur bei den Spatzen los? Pausenlos keckern sie auf dem Dach, heute, am Sonntag, der Muttertag heißt.
Für mich war der schon gestern, weil heute Mozarts c-moll-Messe den Tag hier draußen kürzer macht. Es war ein sehr schöner, sehr guter Tag. Ich habe mich gefreut und tue es immer noch. 

Und ich habe eine salomonische Lösung für das Säen meiner Korn- und anderen Wiesenblumen gefunden. Nachdem ich nun schon viele Wochen lang vergeblich auf den Regen gewartet habe, der den steinharten Boden erweichen würde, habe ich entschieden: Die Hälfte der Samen soll weiter warten, die andere Hälfte lege ich in den dreijährigen Komposthaufen. Der ist weich und gut zu gießen. War nicht so leicht, wie ich es mir vorgestellt habe (sonst hätte ich gar nicht angefangen), aber ich habe es geschafft. Die Samen liegen in der Erde, der Tag ist warm, heute Abend gieße ich noch einmal.

14.5.2018

Zum 70. Geburtstag bekommt Israel das Geschenk der amerikanischen Botschaft in Jerusalem.
Reifen brennen an den Grenzen von Gaza. Die angekündigten Schüsse folgen sofort.
52 Tote.

15.5.2018

55 Tote.
70. Jahrestag der NAKBA, der Katastrophe. Der Beginn von Flucht und Vertreibung der Palästinenser.
Was für ein Anfang.
Den Palästinensern ist es verboten, daran zu erinnern.
Trauma gegen Trauma gibt Krieg.
Immer, immer wieder. Israel um Himmels willen Israel (Giordano 91)

Ich denke an den jüdischen Studenten, mit dem ich in Jerusalem diskutiert habe. Er hatte auf alle meine Fragen nur eine Gegenfrage: Sollen sie uns umbringen?
Zwischen töten und sterben kein Drittes: leben.
Dann muss es immer so weiter gehen.
Er hatte eine Waffe in der Tasche. Gruppen von Jugendlichen liefen an uns vorbei, jeder hatte ein Gewehr über die Schulter gehängt. Siedlerkinder.
Jedes Messer in der Hand eines Palästinensers bringt den ins Gefängnis.
Es geht immer so weiter. Der UN-Sicherheitsrat hat sich schon lange lächerlich gemacht. Er tut es mal wieder mit einer vergeblichen Resolution.

16.5.2016

60 Tote. Israel schickt Hilfsgüter nach Gaza.
Ist das nicht zynisch? Nötig, sehr nötig auf jeden Fall.
Es zeigt, wer die Macht hat über Leben und Tod.

Das Eichhörnchen erpresst mich. Als die Insektenknödel aufgefressen sind, sucht es unterm Dach das Loch, durch das die Spatzen ein- und ausfliegen. Schnell hole ich Insektenknödel.
Das war meine Erziehung der Eichhörnchen.

Heute ist Muttis Geburtstag.  

1990

Nach Vaters Tod hatte ich die Aufgabe, alles zu organisieren. Zuerst das Begräbnis.
Als ich mit dem Angestellten des Bestattungsdienstes diesen Tag auswähle, sage ich, ich kann nicht anders: Da wäre meine Mutter achtzig Jahre alt geworden. Der Mann schaut mich an und meint: Ja, dann passt’s ja. Und ich antworte: ja. Als wäre der tote Mann endlich das passende Geschenk zum Geburtstag seiner toten Frau.
Dann war noch die Art der Bestattung zu wählen: Erde oder Feuer. Ein Anruf beim Friedhofsamt ist nötig, um die Größe der Grabstelle zu erfahren, in der meine Mutter schon wartete. Ich höre, wie der Mann sagt: „Ja, dann wird es eine Feuerbestattung.“ – „Warum?“ frage ich. „Na, wir können den Mann ja nicht stehend beerdigen.“
Nein, natürlich nicht. Wie sollte er jetzt stehen.

17.5.2018

Der Mond ist leer. Es ist wieder Ramadan.

18.5.2018

zauberhaft
die erste feine Stimme
aus dem Wald
nach der Stille der Nacht 

19.5.2018

Das war ein kurzer Ritt durch die Zeit: einmal hin in das Haus, wo ich 30 Jahre gelebt habe, vorbei an dem Hochhaus, von dem meine Große gesprungen ist. Ich musste mich um den Durchlauferhitzer kümmern, der nicht mehr erhitzt. Gar nicht so einfach am Samstag vor Pfingsten und dringend dazu. Ich tat, was ich konnte, mit keinem wirklichen Erfolg. Es fehlen Ersatzteile für die kaputten Stücke, die es nicht im Großhandel gibt, weil das Gerät noch zu neu ist. Nix mit warmem Wasser zu Pfingsten und danach auch nicht gleich.
Ich schaue mir das Dach an. Der Sturm hat einen Ziegel vom Giebel geworfen, da muss ein Dachdecker hinauf. Nicht nur die Amseln, die dort pausenlos singen, lauter als hier draußen. Auch die Spatzen sind laut, fliegen im Efeu ein und aus, den ich ans Haus gepflanzt habe. Dort kreischt es, es müssen Nester darin sein. Und keine Eichhörnchen.
Dann gehe ich wieder, kann nur den Auftrag geben für die Reparatur nach Pfingsten. Ich fahre noch einmal am Hochhaus vorbei. Weiß wieder, dass ich dort, wo mir beim Abbiegen von der Hauptstraße eingefallen ist, dass ich den Wunsch nach Glück haben darf, heute nicht mehr leben möchte. Für das Haus muss ich weiter sorgen, damit ich hier draußen in Ruhe leben kann.

20.5.2018

Pfingstsonntag
Es passiert immer wieder, jetzt schon den zweiten Tag in Folge, dass ich ins Reden gerate, wenn ich nach meiner Arbeit gefragt werde, als hätte ich nur auf diese Frage gewartet. Hab ich wohl. Sie hilft mir zu sehen, was ich gemacht habe und was ich gerade machen will, und wenn ich fertig bin mit dem Reden, bin ich zufrieden. Möchte gleich weitermachen. Telefon. Das kalte Wasser. Das war gestern.
Heute habe ich alles nach Coburg ins Telefon erzählt, wo ich diesmal nicht bin.
Sondern hier, wo es so nass ist, dass die Schnecken schon auf dem Weg ins Haus sind.

1988 war das letzte Pfingsten mit dem Vater.

Ich habe den Vater abgeholt, um in den Garten zu fahren.
Neben der B 300 stehen die Schafe zusammengepfercht wie in der Nacht.
Der Schäfer schläft noch. Oder er ist in der Kirche.

 „Schau, Vater, da drüben sind Schafe! “
„Wo siehst du denn da Schafe?!“
„Rechts, oben auf dem Hügel, hinter dem Raps!“
„Ich sehe keine Schafe.“
Seine Augen machten ihr Angst, sie sahen in der letzten Zeit so leer aus, verschwommen, sie hatten fast keine Pupillen mehr. Aber er war sehr zufrieden mit dem, was er sah:
„Wo man hinschaut: nur gesunde Bäume!“ sagte er und freute sich. Vor ein paar Jahren habe ich an dieser Stelle immer von den toten Autobahnbäumen geredet, solange, bis er meinte:
„Ist es wirklich so schlimm?  Ja, wenn du es sagst 
Später habe ich damit aufgehört und mir vorgenommen, ihm seine alte Brille zu kleben, solange es ging. 

Im Jahr darauf:

Pfingsten war er eingesperrt in seinem Sarg, den ich für ihn ausgesucht habe.
Pfingsten habe ich darauf gewartet, dass Pfingsten vorbei ist und die Bestattung stattfinden kann.
Pfingsten - habe ich die Zeit in mich hinein verloren.

Der Vater muss um seine tödliche Krankheit gewusst haben, sonst hätte er nicht solange von seinen Schmerzen geschwiegen. Jetzt kann ich sehen, wie sie von Tag zu Tag zunehmen. Wie lange wird es noch gehen mit den Tropfen und den Spritzen. Zäh und gnadenlos wie immer duldet er auch jetzt keine Schwäche. Er steht auf. Es kommt für ihn gar nicht in Frage, in seinem Bett zu bleiben, solange er sitzen kann.

Heute habe ich mich in seiner Haltung auf der Bettkante sitzen sehen, wo er zuletzt vorgebeugt, mit beiden Ellenbogen auf den Knien und den Blick nur noch auf das Stückchen Boden zwischen den Füßen gerichtet, sehr lange saß, bis er ein paar Schritte mit mir machen konnte, um sich zu seinem Schaukelstuhl führen zu lassen. Da hab ich gewusst: Solange er so lächeln kann, gebe ich ihn nicht her.

Wenn ich sicher sein konnte, dass er eine Weile schlafen würde, bin ich hinausgegangen und habe mich auf dem Friedhof wiedergefunden. Dort gibt es keine Ruhe für die Lebenden. Die laufen so betriebsam und geschäftig hin und her, als müssten sie sich hier besonders von den anderen unterscheiden. Als ich nach langem Suchen endlich die einzige Bank gefunden habe, die es hier gibt, um darauf zu sitzen, werde ich angeschaut wie ein Gespenst.
Ich musste von dem schlafenden todkranken Vater dorthin gehen. Es war sein Weg jeden Tag, mindestens einmal. Der Weg musste weitergegangen werden. Einer muss ihn gehen. Es ist der Weg zum Grab meiner Mutter und bald auch zum Grab meines Vaters.

Wenn es schließlich auch sehr schnell gegangen ist, wie man so sagt, war es doch lange. Wenn man weiß: Das ist jetzt das Sterben und nichts anderes, dann sind zwei Wochen eine lange Zeit.

Zwei Wochen Auflösung.
Der Vater löst sich auf.
Als der Vater sich auflöste, fingen seine Arme, seine Beine, sein Hintern an zu verschwinden. Alles fraß der Krebs in seinem Bauch und hinter seiner Narbe, er fraß das Fleisch von den Fingern und aus den Kiefern, bis der Ehering von der Hand und das Gebiss aus dem Mund fiel.
An einem Tag rauschte ein Ohr, den anderen sah ein Auge nur noch Schwarzes. Das Rauschen hörte wieder auf, das Auge sah noch einmal. Der Vater erzählte das in einem Moment, wo er gerade sprechen konnte, als würde er sagen: Gestern hat es geregnet. Heute regnet es nicht. So ist es eben. Und manchmal ist es überraschend, findest du nicht?
Es wurde immer schwerer, ihn zu verstehen. Die Worte fielen wie die Zähne aus seinem Mund und auseinander. Ein Satz war nur deshalb noch zu erkennen, weil er ihn immer gesagt hatte, wenn man ihn fragte, wie es im gehe: „Wenn’s besser ging, wär‘ es nicht auszuhalten.“
Jetzt halte ich diesen Satz nicht mehr aus.
Soll er doch lieber nichts sagen, bitte. Nichts.

Der schwere Sog der Auflösung griff auch nach mir. Am schwersten waren die Nächte allein. Wenn die Sorge ein paar Stunden Ruhe hat, und nur noch das Sterben im Kopf ist. Im Hals. In der Brust.
Die Schmerzen in meinem Bauch an den Stellen, wo sein Krebs saß, kommen, als er drei Tage tot ist. Pfingsten steht im Tagebuch: Die Leber tut weh.
Und weiter: Wenn der Boden unter dir weggeht, musst du fliegen.
Neue Ordnungen suchen.
Heimatlos bin ich erst heute. Wie konnte einer Heimat sein, der selber keine hat.
Pfingsten oder: Ich weiß nicht wohin.
Zu dir kann ich nicht gehen. Du bist eingesperrt in deinem Sarg. Ich versäume alles.
Nichts ist mehr zu versäumen.
Die Vögel singen in meinem Garten.
Jeder Vogel meint mich.
Die Luft lebt nur noch von Lerchen.
Morgen gebe ich dich zum dritten Mal her.

Ich habe dem Maulwurf bei seiner Arbeit zugesehn. Drei kleine Hügel gab es heute morgen, jetzt sind es fünf, drei helle und zwei dunkle, der fünfte, der der kleinste ist, wächst gerade noch.