Die 68er räumen auf – Vergangenheitsverwaltung und Deutungskampf
Von Silja Behre
Die Post erreichte mich im abgelegenen Feriendomizil. Vor mir liegt ein kleiner Stapel altes Papier aus einer anderen Zeit. Große rote Lettern auf vergilbtem Papier, in die Luft gereckte Fäuste, Slogans und Aufrufe, das Konterfei von Mao: ACTION, La Cause du Peuple, Jeune Révolutionnaire, Cahiers de Mai, Rouge, Bretagne révolutionnaire, L’Humanité rouge, La Nouvelle Critique. Acht Zeitschriften und Zeitungen erzählen aus den Jahren nach dem französischen Mai 68, als sich Trotzkisten und Maoisten, Antiautoritäre und Linkssozialisten darüber stritten, ob der Mai 68 nun Auftakt oder Ende einer revolutionären Epoche gewesen und wie überhaupt die Revolution zu machen sei. Ich blättere weiter durch den Stapel und finde die tendenzen, die „Zeitschrift für engagierte Kunst“, die auf ihrem Titel vom Mai 1970 fragt: Was tun? Und das fragen sich heute auch viele, die diese Zeitschriften lange aufbewahrt und in den letzten Jahren – nicht zuletzt altersbedingt – begonnen hatten, auf- und auszuräumen. Sie gehen durch ihre Arbeitszimmer, durch ihre Bücherregale und Aktenordner, sie gehen in ihre Keller und auf ihre Dachböden – und finden Schätze. Doch die Erfahrung zeigt: Oft sind selbst spezialisierte Antiquariate nicht an den Zeitschriften und Büchern interessiert, die um 1968 und in den Folgejahren politischer Unruhe gegründet und publiziert worden waren. Was bleibt, sind die Internetportale, auf denen die einst so wichtigen, ihren Lesern so teuren Schriften verscherbelt werden können.
Aber manchmal schafft das alte Papier auch Neues. Zum Beispiel, als mich vor einiger Zeit eine E-Mail von Sabine Koloch erreichte, mit der Frage, ob ich an Zeitschriften aus der französischen 68er-Bewegung und des gauchisme interessiert sei, die sie von einem Zeitzeugen überreicht bekommen hatte? Ja, natürlich! Ich war neugierig geworden. Wer hatte aufgeräumt und sich seiner Vergangenheit entledigen wollen? Um welche Zeitschriften ging es? Welche Geschichte verbirgt sich hinter dieser Schenkung, die von Antiquariaten bisher abgelehnt worden war?
Die Wege, auf denen ein Stapel revolutionärer Zeitschriften von einem Zeitzeugen über Sabine Koloch zu mir gelangte, führen zu einer der zentralen Fragen der Deutungskämpfe um die 68er Bewegung: Wer verwaltet das Erbe der Proteste? Das Gründen von Archiven, das Sichern von Flugblättern, Versammlungsprotokollen und politischen Schriften war seit den 1970er-Jahren Teil der Deutungskämpfe um die 68er-Bewegung. Quellensammlung und -sicherung konnte in der Nachgeschichte der 68er-Bewegung zum Machtinstrument in diesen Kämpfen avancieren und bildete die Basis für Archivierungs- und Forschungsinitiativen wie dem mittlerweile zum Universitätsarchiv der Freien Universität gehörende APO-Archiv, dessen Initiatoren mit ihren Veröffentlichungen zu etablierten Chronisten und Interpreten der Proteste wurden. Zudem basieren Archive auf einer Bestandspolitik mit kanonisierender Wirkung: Wessen Vor- und Nachlässe werden als archivierungs- und damit erhaltenswürdig angesehen? Welche Sammlungen werden abgelehnt? Doch nicht nur die Auswahlprozesse von Forschung, Wissenschaft und Medien, sondern auch die zahlreichen unbekannten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen tragen zu einer Überlieferungssituation bei, die vor allem jene begünstigt, die bereits über ausreichend symbolisches Kapital verfügen, um archiviert zu werden. Denn es bedarf eines gewissen „Nachlassbewusstseins“, um die persönlichen Sammlungen für die Nachwelt zu organisieren und weiterzutragen. Manch ehemaligen Aktivisten fehlt es an der Motivation, die eigene Geschichte weiterzugeben. Andere Sammlungen werden aus pragmatischen oder forschungspolitischen Gründen von Antiquariaten und Archiven abgelehnt, wie die wenigen revolutionären Blätter, die jetzt vor mir liegen. Dabei führen sie zur Geschichte von Holger Ambrosius, der später Gymnasiallehrer werden wird, aber vorerst als Student der Germanistik und Romanistik in den Jahren um 1970 die politische Situation in Frankreich als interessierter Beobachter, mehr noch, als sympathisierender Zeitzeuge verfolgte und dabei das gesamte Spektrum linksradikaler, gauchistischer Gruppierungen im Blick hatte. Sein Nachlass im weitesten Sinne – Erinnerungen und gesammelte Schriften – würde einen Zugriff auf die transnationale Dimension der 68er-Bewegung und ihrer Nachfolgegruppierungen jenseits der bekannten Deuter und „Stars“ der Proteste erlauben: Wie hatte der Student aus Deutschland die Situation in Frankreich wahrgenommen? Welche Erfahrungen aus Frankreich brachte er in seine politische Arbeit in der Bundesrepublik ein? Zu welchen Netzwerken hatte er Kontakt? Aus Forschungsperspektive sind die wenigen von ihm überreichten Zeitschriften und Zeitungen ein zufälliges Fenster zur Vergangenheit, ein Blick ins Archiv – ohne Reservierungs- und Reiseaufwand, ein Zufallsfund, der auf die Notwendigkeit verweist, Quellenlage und Überlieferungssituation immer auch als Ausdruck eines Machtverhältnisses zu analysieren.